„forum_C: The Killing of a Sacred Deer“ von Yorgos Lanthimos (2017)

Ein pochendes Herz in Nahaufnahme. Die Kamera fährt langsam, sehr langsam zurück, bis die Draufsicht den Blick freigibt auf einen geöffneten Brustkorb, an dem Chirurgenhände routinierte Bewegungen durchführen. Bereits die allererste Kameraeinstellung von Yorgos Lanthimos (Dogtooth, 2009 und The Lobster, 2015) Psychodrama The Killing of a Sacred Deer setzt den Tonfall für die folgenden 120 Minuten, in denen mit unterkühlter und mechanischer Präzision menschliche Zustände und Beziehungen bis an die Schmerzgrenzen analysiert werden. Hatte sich Lanthimos in seiner irrealen und schwarzhumorigen Dystopie The Lobster (ebenfalls mit Colin Farrell in der Hauptrolle) noch dem Themengeflecht Liebe, Individualität und Zweisamkeit versus Gesellschaftsordnung gewidmet, so verlagert er in The Killing of a Sacred Deer die Perspektive ganz auf den Mikrokosmos eines wohlhabenden Ärztepaares, dessen Leben durch einen auf Rache sinnenden Eindringling aus den Fugen gerät.

Nicole Kidman, Colin Farrell (c) Element Pictures/Film4/A24

(Mit Spoilern) Im Mittelpunkt der Handlung steht der erfolgreiche Herzchirurg Steven (Colin Farrell), der mit seiner Ehefrau Anna (Nicole Kidman), einer angesehenen Augenärztin, und den gemeinsamen Kindern Bob (Sunny Suljic) und Kim (Raffey Cassidy) in einem luxuriösen Vorstadtanwesen lebt. Doch ähnlich wie man es bspw. von David Lynch gewohnt ist, schürt Lanthimos von den ersten Minuten an eine unterschwellige, kaum greifbare Atmosphäre des Unbehagens und der Unruhe. Die Gespräche zwischen den Figuren haben – ebenso wie ihre Bewegungen – in ihrer steifen Förmlichkeit etwas Künstliches und Roboterhaftes, und Steven selbst hat bizarre sexuelle Vorlieben (Stichwort allgemeine Anästhesie). Die meiste Zeit scheint er mit dem sechzehnjährigen Martin (in jedem Film eine Entdeckung: Barry Keoghan) zu verbringen, den er aus Schuldgefühlen unter seine Fittiche genommen hat, nachdem sein Vater während einem Routineeingriff auf Stevens Operationstisch verstorben ist. Das ungewöhnliche Gespann trifft sich regelmäßig zu gemeinsamen Mittagessen, Steven macht Martin teure Geschenke und lädt ihn schließlich zu sich nach Hause ein – ein großer Fehler, denn Martin wird zunehmend besitzergreifender.

(c) Element Pictures/Film4/A24

Als schließlich Stevens Sohn Bob an Lähmungserscheinungen und Essstörungen leidet, erklärt Martin dem rational denkenden Vater, er müsse eines seiner Kinder opfern, um ein noch viel größeres Unheil abzuwenden – als Ausgleich für den Tod von Martins Vater, an dem der Chirurg augenscheinlich eine Mitschuld trägt.

The Killing of a Sacred Deer ist angelehnt an die griechische Tragödie Iphigenie in Aulis von Euripides (entstanden zwischen 408 und 406 v. Chr.), in der der griechische Heerführer Agamemnon, welcher den Tod eines Hirschen aus Artemis‘ Hain zu verantworten hat, gezwungen ist seine älteste Tochter Iphigenie zu töten, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen und schlimmeres Leid zu verhindern. Lanthimos‘ provokantes Rachedrama ist von dieser Prämisse über die irritierend förmlichen Dialoge und die wie entrückt aufspielenden Darsteller bis hin zur eigenwilligen Bildsprache bzw. -kompositionen (die stets so wirken, als wäre die Kamera eine Nuance zu nahe an oder zu weit entfernt von den Protagonisten) und der expressiven, disharmonischen Musik eine Parabel auf philosophisch-ethische Fragen nach Schuld, Verantwortung, Verdrängen und Wiedergutmachung.

Colin Farrell, Barry Keoghan (c) Element Pictures/Film4/A24

Regisseur Lanthimos treibt seine Figuren kontinuierlich in die Enge und schränkt ihren Handlungsspielraum gekonnt mit jeder Filmminute ein, bis sich diese Anspannung schließlich in einem Finale entlädt, das die Prämisse zwar konsequent umsetzt, dafür aber bedauerlicherweise auch ohne größere Überraschungsmomente auskommt. Nichtsdestotrotz stellt The Killing of a Sacred Deer mit seiner ungewöhnlichen Mischung aus Tragik und gelegentlichem pechschwarzem und absurden Humor eine unbedingte Empfehlung für Freunde des abseitigen Kinos dar.

 

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