Weder Fisch noch Fleisch
Der Streaming-Dienst Netflix bleibt weiterhin für Überraschungen gut: Neben eigenproduzierten Serien (z.B. House of Cards, seit 2013 und Marvel’s Jessica Jones, seit 2015) und Filmen (Okja, 2017) führt das Online-Unternehmen seine Offensive gegen den traditionellen Kinobetrieb fort und übernimmt zur Zeit abermals (nach dem schrägen Fantasyfilm Bright, 2017) den Vertrieb einer Filmproduktion, die auch auf der großen Leinwand hätte gezeigt werden können: Alex Garlands Science-Fiction-Drama Annihilation.

(c) Paramount Pictures
Dabei hat Garlands zweiter Spielfilm (nach Ex Machina, 2014) bereits eine bewegte Entstehungsgeschichte hinter sich, die diese ungewöhnliche Auswertung auf dem kleinen Schirm erklärt: Infolge einer enttäuschenden Testvorführung entbrannte bei der Produktionsfirma Paramount ein Streit unter den Finanzgebern David Ellison, der den Film zu sperrig und intellektuell fand und deshalb auf Änderungen bestand, und Scott Rudin, der, wie auch Regisseur Garland, Modifikationen an Charakterzeichnungen und Finale ablehnte. Gewonnen hat Rudin, doch Teil des Deals war es, dass Annihilation nur in Nordamerika und in China eine Kinoauswertung erfahren würde ― und im ganzen Rest der Welt eben eine Veröffentlichung auf Netflix. Eine Entscheidung in weiser Voraussicht? Möglicherweise, denn die Box-Office-Resultate sind mit 28 Millionen USD (bei einem Budget von 40 Millionen USD) allenfalls mäßig ― wohingegen der Film bei Netflix auf der Startseite von aktuell 118 Millionen Abonnenten angezeigt wird…

(c) Paramount Pictures
Annihilation basiert auf dem ersten Buch der Southern-Reach-Trilogie des US-amerikanischen Schriftstellers Jeff Vandermeer. Als einzige Überlebende von einer Aufklärungsmission aus einem geheimnisvollen Küstenabschnitt, der nach einem Meteoriteneinschlag umhüllt ist von einem bunt schimmernden und ständig wachsenden Nebel, wird die Biologin/Soldatin Lena (im positiven Sinne distanziert und spröde: Nathalie Portman) fortan in puzzleartigen Rückblenden zu den Vorkommnissen in der abgeschotteten Zone befragt (die Regierung gaukelt der Bevölkerung eine Umweltkatastrophe vor). Zusammen mit vier anderen Wissenschaftlerinnen/Soldatinnen ― die gefühlskalte Psychologin Ventress (Jennifer Jason Leigh), die empathische Physikerin Josie (Tessa Thompson), die toughe Sanitäterin Anya (Gina Rodriguez) und die rationale Geologin Cass (Tuva Novotny) ― ist sie in das Sumpfgebiet entsandt worden, um herauszufinden, welche Bedrohung von dem außerirdischen Nebel für die Menschheit ausgeht. Lena ist der geheimnisvollen Zone allerdings näher verbunden als vermutet, denn sie findet heraus, dass ihr Ehemann, der Elitesoldat Kane (Oscar Isaac), der über ein Jahr lang verschollen war und plötzlich wie ausgewechselt wieder in ihrem Schlafzimmer steht, ebenfalls an einer früheren Mission beteiligt war. Und tatsächlich: Kaum haben die fünf Frauen die Grenze zum Nebel passiert, leiden sie an räumlicher und zeitlicher Desorientierung und machen eine erstaunliche Entdeckung: der Nebel scheint jegliche Naturgesetze aufzulösen und die Pflanzen- und Tierwelt unkontrolliert mutieren zu lassen…
Garland bebildert diesen Trip ohne Wiederkehr seiner seelisch beschädigten, erratischen Heldinnen ― an einer Stelle werden sie als damaged goods bezeichnet ―, die keine klassische Identifikation erlauben, mit teils verstörend-schönen, teils drastischen visuellen Einfällen und hält die Spannungskurve bis zum psychedelischen Finale aufrecht. Gleichzeitig vermeidet er auf der erzählerischen Ebene eine eindeutige Festlegung, so dass sich die Reise der fünf Frauen in die Tiefe der schimmernden Sphäre (das Ziel ist ein Leuchtturm, an dem der Einschlag stattfand) auf vielseitige Weise deuten lässt: Als Visualisierung von Depressionen und Verlorensein im Umgang mit Trauer, als Parabel auf Umweltzerstörung, als Reflexion über Ursprung und Zukunft der Menschheit, über Zerstörung und Selbstzerstörung.

(c) Paramount Pictures
Angereichert ist Annihilation mit zahlreichen Verweisen auf ähnlich gestrickte Genreklassiker, von Stalker (Andrej Tarkowski, 1979) über Alien (Ridley Scott, 1979), The Thing (John Carpenter, 1982) bis hin zu Under the Skin (Jonathan Glazer, 2013) und Arrival (Denis Villeneuve, 2016) ― an letzteren erinnert vor allem die brummende Tonkulisse, die auffällige Ähnlichkeiten mit den Arbeiten des kürzlich verstorbenen isländischen Komponisten Jóhann Jóhannsson aufweist. Diese kinogeschichtliche Zitatensammlung bedingt aber leider auch, dass Annihilation trotz seiner im Kern großen und diskussionswürdigen, weil: metaphysischen Themen immer wieder in kleine Teile bzw. Sequenzen zerfällt, die nicht recht zusammen zu passen scheinen und aneinandergeklebt wirken.
Das Resultat ist ein seltsam hybrider Film, der, wie seine mutierte Tierwelt, weder Fisch noch Fleisch ist, und trotz des visuellen und erzählerischen Reichtums seine Themen nicht befriedigend ausschöpft ― ein Film, der zu groß ist für den Bildschirm, aber zu klein für die Kinoleinwand.
Auf Netflix.
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