(Yves Steichen) Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen – diese Erfahrung muss auch der Polizeibeamte Asger Holm (Jakob Cedergren) während seiner letzten Dienstnacht in der Notrufzentrale der dänischen Polizei machen. Infolge eines Disziplinarverfahrens, dessen Hintergründe zu Anfang noch unklar sind, wurde Asger dorthin versetzt, bis eine Kommission am darauffolgenden Tag über sein berufliches Schicksal entscheiden soll. Entsprechend unmotiviert verrichtet er dort seinen Dienst, blafft seine Kollegen an und arbeitet die eingehenden Notrufe, eine Mischung aus Betrunkenen und Spinnern mit kleinen Wehwehchen, mit routinierter Langweile ab. Bis plötzlich Iben (gesprochen von Jessica Dinnage) anruft: Die junge Mutter wurde augenscheinlich entführt und fleht Asger im Beisein ihres Entführers (aber unter dem Vorwand mit ihrer Tochter zu sprechen) um Hilfe an. Asger erkennt den Ernst der Situation und setzt in der Notrufzentrale alle Hebel in Bewegung, um mithilfe von Außendienstbeamten und seinem offenbar trinkenden (Ex-)Partner das Entführerauto mit dem „Schuldigen“ (so die Übersetzung des Originaltitels) ausfindig zu machen, während er gleichzeitig mit den Konsequenzen seiner eigenen Schuld ringt…
Photo: Nikolaj Miller / Nordisk Film Spring-New Danish Screen
Mehr von der Handlung von Gustav Möllers Spielfilmdebüt Den skyldige zu verraten wäre ein Unding, denn der klaustrophobische Thriller, der in Echtzeit (der Film dauert verhältnismäßig kurze 85 Minuten) erzählt ist und an einem einzigen Handlungsort, der Notrufzentrale, spielt, lebt von seinem wendungsreichen Drehbuch und seiner Konzentration auf eine einzige Figur – alle anderen Charaktere bekommt man, bis auf einige wenige Arbeitskollegen von Asger, nie zu Gesicht.
Die Ausgangsidee von Den skyldige ist mit Sicherheit nicht neu, wurde aber von Möller hochgradig präzise und wirkungsvoll umgesetzt. Asgers einziger (digitaler) Draht zur Außenwelt bei der Suche nach der verschleppten Frau sind die Telefonleitungen, und jedes Gespräch – sei es mit Iben, ihrer Tochter, der Kopenhagener Polizeizentrale oder den Beamten vor Ort – wirft neue Fragen auf und offenbart ihm die Grenzen seiner eigenen Sicht auf das Geschehen. Denn obwohl sämtliche Fäden der Ermittlungsarbeit in Asgers Telefon zusammenlaufen, weiß dieser immer nur so viel, wie er am Hörer mitbekommt – er muss sich, wie auch die Zuschauer, aus vielen einzelnen Informationen die (oder vielmehr eine) Wahrheit zusammenreimen. Regisseur Möller spielt beide klanglichen Räume – die nervenzerrenden Telefongespräche auf der einen und die kühle Stille der Zentrale auf der anderen Seite – geschickt gegeneinander aus und steigert dadurch auch beim Publikum das Gefühl von Asgers fehlender Übersicht und Isolation.

Unterstützt von einem cleveren, atmosphärischen Sounddesign, das es vermag mittels Geräuschen und Gesprächen (die manchmal nicht mehr als brüchige Tonfetzen sind) ganze Situationen vor den Augen der Zuschauer entstehen zu lassen, ist Den skyldige somit auch eine Reflexion über die Relativität von Wahrheit, über die Illusion ein komplettes Bild auf Grundlage vermeintlicher Fakten zu haben – das, was Asger und die Zuschauer zu hören glauben, ist im Endeffekt nicht unbedingt das, was tatsächlich passiert. Auch ist Asger eine hoch ambivalente und keineswegs positive Hauptfigur: Er schnüffelt in Ibens Leben herum, wird zunehmend obsessiver, glaubt das, was er glauben möchte und ist bereit, die Grenzen der polizeilichen Legalität bis zum Machtmissbrauch zu überschreiten. Man ahnt, dass ebendiese Rücksichtslosigkeit ihm auch ein Disziplinarverfahren eingebracht hat – und dass er die Schuld, die er sich damit aufgeladen hat, mit der Suche nach Ibens Entführer tilgen möchte.
Jakob Cedergren liefert einer herausragende Leistung als Held, der im Grunde genommen gar keiner ist (um bei den Illusionen zu bleiben) und trägt mühelos den gesamten Film. In seiner Mimik, die oft von Nahaufnahmen eingefangen wird, spiegelt sich das zunehmende Entsetzen und die Hilflosigkeit ob der verfahrenen Ermittlungsarbeit und der Tragödie, die sich nach und nach vor seinen Augen (bzw. Ohren) entfaltet.
Photo: Nikolaj Miller / Nordisk Film Spring-New Danish Screen
Den skyldige ist nicht nur eine Reflexion über Schuld (bzw. Unschuld), Macht und die Illusion von Wahrheit, sondern auch ein Lehrstück darüber, wie man mit einem minimalistischen Budget, und getragen von einem talentierten Hauptdarsteller bzw. einem fintenreichen Drehbuch, über 85 Minuten Hochspannung erzeugen kann. Möllers Spielfilmdebüt mag kein durch und durch perfekter Film sein, doch er ist ein beachtlicher Talentbeweis und das filmische Gegengewicht zu den tosenden Franchisefilmen, die die große Leinwand seit einigen Jahren dominieren. Sehenswert.
Aktuell im Ciné Utopia (auf Dänisch, mit französisch-niederländischen Untertiteln).
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
