„Roma“ von Alfonso Cuarón ★★★★★

(Yves Steichen) Fünf Jahre nach seinem technisch beeindruckenden Weltraum-Thriller Gravity kehrt Regisseur und Drehbuchautor Alfonso Cuarón (u.a. auch Y tu mamá también, 2001 und Children of Men, 2006) in seine mexikanische Heimat zurück. In dem Familiendrama Roma erzählt Cuarón auf autobiografische (aber dennoch fiktionalisierende Weise) von seiner eigenen Kindheit in dem gleichnamigen Stadtteil von Mexico City zu Beginn der siebziger Jahre, und widmet den Film zugleich dem bescheidenen Wirken jener Frau, die Cuarón zu jener Zeit mit großzog: Der Hausangestellten Libo.

(c) Netflix

Für Diskussionen sorgte im Vorfeld einmal mehr die Streaming-Plattform Netflix, die sich die exklusiven Vertriebsrechte für Roma sicherte – zwar gewann der Film im August 2018 den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig (wo der Film seine Weltpremiere feierte), doch auf der großen Leinwand wird Cuaróns Familienchronik bis auf wenige Ausnahmen nicht zu sehen sein. Es ist und bleibt ein zweischneidiges Schwert – auf Online-Plattformen wie z.B. Netflix kommen zwar potenziell mehr Menschen in den Genuss solcher Arthouse-Produktionen (mit einem vergleichsweise geringen Budget von 15 Mio. US-Dollars) als bei einer regulären Kinoauswertung, doch gleichzeitig ist Cuaróns virtuos ausgestattetes, gefilmtes und vertontes Schwarz-Weiß-Drama aufgrund seiner visuellen Opulenz quasi prädestiniert für die Kinoleinwände. Zudem zeichnet sich hier bereits eine weitere – und keineswegs unbedenkliche – Entwicklung ab, nämlich die, dass kleinere und ambitionierte Filmproduktionen, die nicht dem hollywoodschen Reboot-, Remake- oder Sequel-Katalog entsprungen sind, in Zukunft einen immer schwereren Stand im internationalen Kinovertrieb haben werden und deshalb möglicherweise gezwungen sein werden, gänzlich auf Streaming-Plattformen auszuweichen.

Im Mittelpunkt von Roma steht die indigene Hausangestellte Cleo (Yalitza Aparicio, die zuvor, wie die meisten anderen Darsteller*innen des Films, keinerlei Schauspielerfahrung besaß), eine aus ärmlichen Verhältnissen stammende junge Frau, die zu Beginn der siebziger Jahre bei einer wohlhabenden weißen – d.h. spanischstämmigen – Akademikerfamilie arbeitet. Insbesondere zu den vier Kindern von Sofía (Marina de Tavira) und Antonio (Fernando Grediaga) pflegt die stille und zurückhaltende Cleo ein sehr inniges und vertrautes Verhältnis – sie ist Sofía eine zentrale Stütze bei der Erziehung der Kinder. Cleo putzt das Haus, bereitet das Essen vor, holt den Kleinsten von der Schule ab und singt die Kinder in den Schlaf. Doch diese Idylle trügt gleich auf mehreren Ebenen: Zwischen Sofía und ihrem Mann, einem Arzt, kriselt es gewaltig, Cleo wird plötzlich schwanger und das Land wird von politischen Unruhen und Studentenaufständen aufgewühlt, die zunehmend exzessiver vom mexikanischen Präsidenten Luis Echeverría Álvarez niedergeschlagen werden…

(c) Netflix

Cuarón verbindet in Roma das Kleine mit dem Großen, Geschichte mit Gegenwart, Einzelschicksale mit gesellschaftlichen Umbrüchen; beim Kauf eines Kinderbettes etwa geraten die hochschwangere Cleo und die Großmutter der Familie, Teresa (Verónica García), unvermittelt in das sogenannte „Corpus Christi“-Massaker an Fronleichnam 1971, das Schätzungen zufolge bis zu 120 Studenten in Mexico City das Leben kostete. Regisseur Cuarón zeigt diese großen wie kleinen Ereignisse durchweg in teils hypnotischen und präzise choreographierte Plansequenzen bzw. sehr langen (und weiten) Einstellungen, bei denen die Kamera langsam um die eigene Achse rotiert und das komplexe Geschehen gewissermaßen dokumentarisch und beiläufig erfasst – eine Vorgehensweise, die den Schauspieler*innen auch einiges an Koordination und Timing abverlangt hat. Letzteres ist umso beachtlicher, da Cuarón in Roma zum größten Teil mit Laiendarsteller*innen arbeitete, deren Leistungen, in Anlehnung an den italienischen Neorealismus, den Geschehnissen etwas Authentisches und Naturalistisches verleiht.

Von diesen stilistisch-formalen Aspekten abgesehen lebt Roma aber in erster Linie von Yalitza Aparicios ebenso zerbrechlicher wie in sich ruhender Präsenz – die eigenen wie die familiären Irrungen und Wirrungen durchlebt und erträgt das Kindermädchen Cleo mit stoischer Geduld. Auch deswegen ist Cuaróns Roma nicht nur ein Zeitbild Mexikos zu Beginn der siebziger Jahre, sondern vor allem eine bewegende, teils poetische und teils tragikomische Hommage an jene Frauen, die die Kinder anderer Familien betreuen anstelle ihrer eigenen, und deren Arbeit größtenteils im Stillen stattfindet – und gerade deswegen von unschätzbarem Wert ist.

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