forum_C: „Us“ von Jordan Peele

Das Leben der Anderen ★★★★☆

 (Yves Steichen) Santa Cruz, 1986: Ein junges Mädchen (Madison Curry) besucht mit ihren Eltern einen Jahrmarkt am Meer. Während der Vater von einem Spiel abgelenkt ist, läuft die kleine Adelaide in Richtung Strand und findet sich kurze Zeit später in einer Mischung aus Geisterhaus und Spiegelkabinett wieder. Je tiefer sie in das labyrinthartige (Wald-)Gebäude eindringt, desto stärker verliert sie die Orientierung – bis die Sequenz schließlich mit einer Großaufnahme von Adelaides stummem und schreckerstarrtem Gesicht endet. Was das Mädchen gesehen hat, erfahren wir (noch) nicht – doch Comedian/Drehbuchautor/Produzent und Regisseur Jordan Peele knüpft in Us (2019) zwei Jahre nach dem Überraschungserfolg Get Out (im Übrigen der erste Film, der auf forum_C besprochen wurde) unmittelbar an die Ikonografie seines Regiedebüts an.

In der Horrorsatire Get Out mit Daniel Kaluuya in der Hauptrolle fand Peele erschreckend eindringliche Bilder (man denke an Chris‘ unfreiwilliges, hypnosebedingtes Abtauchen in die Unendlichkeit der Sunken Place) und Allegorien für die Marginalisierung und Unterdrückung der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA: Ein rassenideologisch motivierter Medizinkult transplantierte das Bewusstsein gebrechlicher weißer Wohlstandsmänner und -frauen in die potenten Körper junger Schwarzer, um die Lebenserwartung von Ersteren zu verlängern. Adelaides weit aufgerissene Augen schlagen zwar die Brücke zu Chris‘ Hypnosesitzungen aus Get Out, doch ansonsten gestaltete Peele seine zweite Regiearbeit Us inhaltlich deutlich komplexer, vielschichtiger und in der Deutung sperriger als den Vorgänger.

(c) Universal Pictures

(Der folgende Text enthält Spoiler) Mehr als dreißig Jahre später ist Adelaide Wilson eine erwachsene Frau (Lupita Nyong’o) und mit dem liebenswerten, etwas begriffsstutzigen Gabe (Winston Duke) verheiratet; das Paar hat zwei Kinder, Zora (Shahadi Wright Joseph) und Jason (Evan Alex). Die Familie plant, den Sommer in einem Ferienhaus in der Nähe des kalifornischen Badeortes Santa Cruz zu verbringen – also jenem Ort, an dem Adelaide in ihrer Kindheit etwas Traumatisches widerfahren ist. Entsprechend zurückhaltend reagiert sie auf Gabes Vorschlag, ebendort am Strand das befreundete weiße (und ziemlich hohle) Ehepaar Kitty (Elisabeth Moss) und Josh (Tim Heidecker) sowie deren Zwillingstöchter (Cali und Noelle Sheldon) zu treffen. Das Erlebte von damals verfolgt die junge Frau nämlich bis heute und lastet wie ein Schatten auf ihr. Und tatsächlich: Rätselhafte Zufälle häufen sich, und Adelaide sieht einen schwerverletzten Obdachlosen wieder, der bereits 1986 ein Pappschild mit dem Bibelvers Jeremiah 11:11 bei sich trug. Gerade als sie ihren Mann davon überzeugen möchte, die Heimreise anzutreten, taucht wie aus dem Nichts eine vierköpfige Familie vor dem Anwesen auf, die sich gewaltsam Zugang zum Ferienhaus verschafft – es sind Doppelgänger der Wilsons, die, gewandet in rote Overalls und bewaffnet mit goldenen Scheren, ihren Originalen nach dem Leben trachten. Die Tethered (zu dt. die Angebundenen), wie sie sich selbst bezeichnen, sind allerdings keine exakten Kopien der Wilsons – sie sind vielmehr entstellte, moralisch wie körperlich verformte Gegenentwürfe, die sich krampfartig bewegen, sich größtenteils über Grunz- und Krächzlaute verständigen und, so Mutter Red (ebenfalls Lupita Nyong’o), einen apokalyptischen Plan verfolgen: Sie wollen sich gewaltsam von ihren Originalen loslösen…

(c) Universal Pictures

Genau wie in Get Out arbeitete Peele auch hier wieder eine wahre Fülle an Anspielungen auf populärkulturelle Klassiker des Horror- und Spannungskinos in die Textur von Us ein, darunter (u.a.) The Birds (1963), Jaws (1975), Michael Jacksons Musikvideo Thriller (1983), Lost Boys (1987) sowie Michael Hanekes Funny Games (1997/2007). Und obwohl sich Us in erzählerischer Hinsicht – im direkten Vergleich zum Vorgängerfilm – über weite Strecken in den „klassischeren“ Gefilden des Home-Invasion-Kinos bewegt, ist doch Peeles Faible für theatralische (Über-)Inszenierungen (bei gleichzeitigem Verzicht auf allzu vorhersehbare Schockeffekte) und clevere Neuauslegungen der Horrorfilmkonventionen erkennbar. Besonderes Lob verdienen dabei die doppelten Verkörperungen der Darsteller von ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten, wobei vor allem Lupita Nyong’o ihrem „negativen“ Pendant eine erschreckende Andersartigkeit verliehen hat. Ihre Red spricht mit einer kehligen und stockenden, geradezu erstickenden Stimme, die ihr über das Gesagte hinaus eine beunruhigende Präsenz verleiht.

Das Motiv des boshaften Zwillings, bzw. der monströsen Schattenexistenzen und Parasiten, der (die) das Leben ihrer „normalen“ Pendants in Gefahr bringen, ist nicht neu in Literatur und Kino – doch ein politisch engagierter Regisseur wie Jordan Peele unterfüttert es mit Bezügen zur Aktualität, die sich erst nach mehrmaligem Sehen vollends entfalten werden. Wer sind die Anderen, die wortwörtlich aus dem Untergrund unserer Existenz emporkriechen und Chaos verbreiten? Verkörpern sie das Unterbewusste im Menschen? Oder stehen sie für die Marginalisierten und Unterprivilegierten, auf deren Rücken die weiße bzw. westliche Zivilisation zu Status, Fortschritt und Wohlstand gelangte? Peele erweitert diesen ohnehin breiten Interpretationsraum noch dadurch, dass er, wie in Get Out, dezidiert afroamerikanische Protagonisten in den Fokus der Handlung rückt, die den Horror der kollektiven Unterdrückung und Ausbeutung auch in der Realität am eigenen Körper erlebt haben (und auch im Horrorkino eine unrühmliche Tradition haben, auf unbedeutende Nebenfiguren reduziert zu sein, die früh im Film das Zeitliche segnen). Sind sie etwa „unser“ schlechtes Gewissen? „Who are you?“, fragt Adelaide ihren Klon während der Invasion – „We are Americans“, entgegnet Red, und fordert damit auch die Zuschauer dazu auf, ihre Sehgewohnheiten und Perspektiven in Frage zu stellen.

(c) Universal Pictures

Während Get Out seine bissigen politischen Kommentare zum vermeintlichen weißen Überlegenheitsdenken vergleichsweise geradeheraus vermittelte und deshalb als wirkungsvolle Horrorsatire funktionierte, bleibt Us sperriger, enigmatischer und schwieriger zu dechiffrieren. Wie im Vorgängerfilm hält Peele zwar auch hier der amerikanischen (bzw. westlichen) Gesellschaft wieder unzweifelhaft den Spiegel vor, doch er liefert eben auch wenige bis gar keine Antworten zu den rätselhaften Vorkommnissen. All dies macht Us jedoch keineswegs zu einer Enttäuschung, sondern (im Gegenteil) zu einem Film, der nach mehrmaligem Sehen wachsen und neue Deutungen zulassen wird – woran auch die Schlusspointe ihren Anteil hat, die alles Gesehene nochmals in ein neues Licht rückt.

Aktuell im Kino.

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code