forum_C: „Chernobyl“ von Craig Mazin und Johan Renck

Das Versagen des Systems ★★★☆☆

Der folgende Text enthält Spoiler

(Yves Steichen) Am frühen Morgen des 26. April 1986, genauer gesagt um 1:23 Uhr und 45 Sekunden, reißt eine heftige Explosion die Einwohner der ukrainischen Stadt Prypjat aus dem Schlaf. Über der Anlage des nur ein paar Kilometer entfernten Kernkraftwerks von Tschernobyl ist ein gelb-blauer Lichtkegel aus Rauch und Feuer zu sehen. Fasziniert beobachten die Menschen die hell erleuchtete Szenerie von einer Brücke am Stadtrand, Kinder tanzen ausgelassen und in Zeitlupe in einem Regen aus Ascheflocken, die der Wind aus Tschernobyl herüber trägt.

(c) HBO

In diesem Moment haben sie weder eine Vorstellung davon, was die Ursache für die Flammen am Horizont sein könnte, noch welche tiefgreifenden Veränderungen dieses Schauspiel für ihre Existenz und die ihrer Stadt mit sich bringen wird. Die Zuschauer*innen hingegen wissen das noch: Infolge eines fehlgeschlagenen Tests, einem simulierten Stromausfall, geriet Reaktor 4 des Kernkraftwerks außer Kontrolle, die anschließende Explosion sprengte das Dach des Blocks. Radioaktive Stoffe strömten fortan unkontrolliert in die Atmosphäre und machten nicht nur die unmittelbare Umgebung für Mensch und Tier zur unbewohnbaren Zone, sondern bedrohten auch die Sicherheit des gesamten europäischen Kontinents. Hunderttausende wurden in den folgenden Monaten und Jahren in der ukrainisch-weißrussischen Grenzregion verstrahlt.

Die fünfteilige Miniserie Chernobyl (Idee und Drehbuch: Craig Mazin, Regie: Johan Renck), eine Koproduktion der Pay-TV-Sender HBO (Game of Thrones) und Sky, rekonstruiert das Reaktorunglück von Tschernobyl, das sich 1986 in einer erneuten Hochphase des Ost-West-Konfliktes ereignete, in fiktionalisierter Form, und legt das Augenmerk dabei vor allem auf die Auseinandersetzungen zwischen sowjetischen Wissenschaftler*innen und Apparatschiks, die das Unglück vertuschen wollen.

Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, die bis heute (neben den Störfällen im japanischen Kraftwerk von Fukushima von 2011) als gravierendster Unfall in der Geschichte der zivilen Nutzung von Atomenergie gilt, hat eine zwiespältige Rezeptionsgeschichte. Zwar haben sich bis dato bereits mehrere russische und europäische Filmproduktionen dem Thema gewidmet, und auch die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijevitsch hat sich in ihrem literarischen Werk immer wieder mit der Katastrophe auseinandergesetzt (ihr Buch Voices from Chernobyl: The Oral History of the Nuclear Disaster wurde 2016 von dem luxemburgischen Regisseur Pol Cruchten adaptiert), doch zu umstrittener Berühmtheit gelangte in den letzten Jahrzehnten vor allem die Geisterstadt Prypjat, die 36 Stunden nach dem Unfall komplett geräumt wurde. Seitdem wurde die Stadt wahlweise als Ort für Sensationstourismus, oder als morbide Kulisse für Videospiele (Stalker, Call of Duty: Modern Warfare) bzw. drittklassige Action- (A Good Day to Die Hard, 2013) und Horrorfilme (Chernobyl Diaries, 2012) eingesetzt. Die HBO-Serie Chernobyl hingegen schickt sich an, das Unglück selbst, seine Nachwirkungen sowie das totale Versagen des sowjetischen Systems chronologisch möglichst komplett und mit Respekt vor den Opfern der Tragödie zu erzählen. Mit Erfolg?

(c) HBO

Im Zentrum der Handlung von Chernobyl stehen drei Figuren. Da wäre zum einen Waleri Alexejewitsch Legassow (Jared Harris), einer der Direktoren des Kurtschatow-Instituts für Kernenergie in Moskau, der mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Unglücks beauftragt wird. In einem hastig einberufenen Krisenstab unter dem Vorsitz von Präsident Michail Gorbatschow (David Dencik) trifft er auf den blasierten Parteifunktionär Boris Schtscherbina (Stellan Skarsgård), der von politischer Seite aus den Auftrag erhält, wieder für Ordnung und Klarheit in Tschernobyl zu sorgen. Beide werden per Hubschrauber in das Krisengebiet geflogen, wo sie auf Ulana Khomyuk (Emily Watson) treffen – die Kernphysikerin aus Minsk hatte bei Messungen erhöhte radioaktive Werte festgestellt, und sich eigenmächtig auf den Weg nach Tschernobyl gemacht. Nach und nach realisiert das Trio, wie fahrlässig die Führungsriege des Kernkraftwerks den Reaktor betrieben und damit das Leben Hunderttausender Menschen gefährdet hat, während KGB und Zentralkomitee in Moskau aus Sorge um den internationalen Ruf der Sowjetunion mehr an Vertuschung denn an einer Aufklärung der Ereignisse interessiert sind. Täuschung und Selbsttäuschung lagen in Tschernobyl nahe beieinander.

Während sich die erste Folge (1:23:45) nach einem kurzen Prolog mit der Katastrophe selbst befasst, und dabei weitere zentrale Figuren wie den herrischen Chefingenieur Anatoli Dyatlow (Paul Ritter) sowie das Ehepaar Ljudmilla (Jessie Buckley) und Wassili Ignatenko (Adam Nagaitis) – der Feuerwehrmann wird beim Löschen des Reaktorbrandes schwer verstrahlt – einführt, thematisieren die folgenden drei Episoden (Please Remain Calm, Open Wide O Earth und The Happiness of All Mankind) die schwierige Suche nach der Wahrheit sowie die Gegenmaßnahmen, die unternommen werden, um eine Kernschmelze zu verhindern. Die letzte Episode (Vichnaya Pamyat) knüpft wieder an die erste an und rekonstruiert während eines (fiktionalisierten) Gerichtsprozesses minutiös die Ereignisse, die zu der Explosion führten.

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Insbesondere in den ersten beiden Episoden findet der schwedische Regisseur Johan Renck eindringliche Bilder und Töne, um die unsichtbare, aber zerstörerische und unkontrollierbare Kraft von radioaktiver Energie in aller Deutlichkeit zu illustrieren. Akribisch, Minute um Minute, zeigt Renck, wie Chefingenieur Dyatlow („3.6 Roentgen? Not great, not terrible“) und seinem Team die Situation aus den Händen gleitet – und auch wenn die Sequenzen (genau wie auch spätere Gegenmaßnahmen wie etwa das Entsenden der „Liquidatoren“) nicht eines gewissen Voyeurismus entbehren, so sind sie doch in all ihrer Kühle hochwirkungsvoll inszeniert. In puncto Akribie sind auch die Ausstattung und das Set-Design hervorzuheben: Kleider, Inneneinrichtungen, belebte Straßen, Archivaufnahmen in Bild und Ton – Chernobyl transportiert seine Zuschauer*innen förmlich zurück in die Sowjetunion der achtziger Jahre; die litauische Stadt Vilnius musste als Ersatz für Prypjat dienen, während das Kernkraftwerk Ignalina, auch in Litauen, wegen seiner optischen Ähnlichkeit als Kulisse für Tschernobyl zum Einsatz kam.

Erzählerisch verlassen sich Mazin und Renck nach einem starken Auftakt aber zusehends auf die Mechanismen des klassischen Katastrophenfilms, was sich vor allem in einer schematischen Figurenzeichnung niederschlägt. Hier die heroischen Wissenschaftler*innen, die der Wahrheit verpflichtet sind, sowie die „einfachen Leute“ (Techniker, Feuerwehrleute, Minenarbeiter), die ihren Dienst völlig selbstlos verrichten, dort die zynischen Apparatschiks, die mit den Leben ihrer Untertanen spielen und dabei nicht selten bis ins Karikatureske verzerrt sind.

Am deutlichsten lässt sich diese Art der Figurenzeichnung bei den drei Hauptcharakteren aufzeigen, die in etwa dem Standartensemble des Katastrophenfilms entsprechen: Während Legassow den aufrichtigen Wissenschaftler repräsentiert, auf dessen mahnende Worte zunächst niemand hört (bis es fast zu spät ist), und der sich der Wahrheit in ihrer reinsten Form verschrieben hat (bis zur Selbstaufgabe), entspricht der von Stellan Skarsgård verkörperte Polithaudegen Schtscherbina jenem Figurentypus, dessen moralisches Gewissen im Laufe der Handlung aktiviert wird, infolgedessen er von der ‚falschen‘ auf die ‚richtige‘ Seite wechselt. Dazwischen befindet sich mit Ulana Khomyuk – im Übrigen eine frei erfundene Person, die gewissermaßen eine ‚Zusammenlegung‘ mehrerer Wissenschaftler*innen ist, die dem realen Legassow assistiert haben – eine Figur, die stets, und das von der ersten Szene an, mehr weiß als alle anderen und regelmäßig jene Impulse liefert, die nötig sind, um die Handlung voranzutreiben. Problematisch ist dies vor allem deswegen, weil Khomyuk in der Serie erfolgreich Recherchen und Wahrheitsfindung anstellt, die in einem auf Desinformation ausgerichteten totalitären System wie dem der Sowjetunion nicht möglich gewesen wären.

(c) HBO

In der finalen Folge von Chernobyl gelangen Mazin und Renck schließlich zu einer interessanten Schlussfolgerung. Während eines fiktionalisierten Prozesses gegen die Betreiber des Kernkraftwerks und Chefingenieur Dyatlow ist Ermittler Legassow als Zeuge geladen. Er rekonstruiert vor einer versammelten Riege an Wissenschaftler*innen in einer rhetorisch brillanten Ansprache die Ereignisse vom 26. April, und macht an dessen Ende das politische System der Sowjetunion für die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl verantwortlich: „[…] That is how an RBMK reactor core explodes: Lies.“ Sinn machen würde dieser Twist aber nur dann, wenn Brjuchanow, Fomin und Dyatlow nicht zuvor, den Regeln des Katastrophenfilms entsprechend, auf Biegen und Brechen zu karrieristischen und gebieterischen Antagonisten stilisiert worden wären – so aber entsteht der schiefe Eindruck, unter einer kompetenterem Kraftwerkführung hätte eine Katastrophe nicht stattgefunden. Mazin und Renck führen ihre eigene Schlussfolgerung hier ad absurdum.

Produktionen wie Chernobyl waren und sind ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite rufen sie einem Millionenpublikum eine Jahrhundertkatastrophe in Erinnerung, die weite Teile des europäischen Kontinents im schlimmsten Fall unbewohnbar gemacht hätte, auf der anderen Seite formen sie aber auch auf Jahrzehnte eine bestimmte Sichtweise auf ebenjene Katastrophe, die sich aller erzählerischer Stärken und Schwächen zum Trotz in das kollektive Gedächtnis einbrennt; es ist daher wenig verwunderlich, dass man in Russland nicht begeistert war über die HBO-Miniserie, und bereits eine eigene filmische Adaptation des Unglücks plant.

Chernobyl erhielt viel internationales Lob, und das größtenteils zurecht. Höchst wirkungsvoll und drastisch führen Mazin und Renck die Gefahren von außer Kontrolle geratener Nuklearenergie und das Versagen eines politischen Systems vor Augen. Aufgrund des selbst behaupteten Realitätsanspruchs ist die Serie aber auch mit Vorsicht zu genießen – zu oft bewegt sich Chernobyl bei seiner Figurenzeichnung innerhalb der Konventionen des hollywoodschen Katastrophenfilms, und muss deswegen Zugeständnisse an die tatsächliche Realität machen.

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