forum_C: „Midsommar“ von Ari Aster

★★☆☆☆

(Yves Steichen) Die skandinavische Folklore scheint weiterhin eine gewisse Anziehungskraft auf die filmischen Imaginationsräume von Genre-Regisseuren auszuüben. Nachdem Ali Abbasi 2018 in dem Horrordrama Gräns (engl. Border) bereits tief in die Welt der skandinavischen Fabelwesen eingetaucht war, rückt der US-amerikanische Regisseur Ari Aster in seiner zweiten Spielfilmarbeit Midsommar (nach dem Überraschungserfolg Hereditary, auch 2018) nunmehr eine pagane schwedische Kultgemeinde in den Mittelpunkt seiner Geschichte.

(c) A24

Angesiedelt an der Schnittstelle zwischen rituellem Horror, halluzinatorischem Psychodrama und groteskem Humor – und erzählt in ungewöhnlich lebendigen, hellen Farben – wurde Midsommar nach ersten Vorführungen in den Vereinigten Staaten rasch mit allerlei Vorschusslorbeeren bedacht. Leider strapaziert Regisseur Aster aber nicht nur mit der stolzen Lauflänge von 147 Minuten die Geduld seiner Zuschauer*innen, sondern auch mit einer reichlich umhermäandernden Geschichte und größtenteils undefinierten Charakteren, die nicht weniger ziellos durch ebendiese Handlung irren.

(Mit leichten Spoilern) Midsommar beginnt mit einer Familientragödie. Die Psychologiestudentin Dani (ein Lichtblick: Florence Pugh) findet die Leichen ihrer Schwester Terri sowie die ihrer Eltern im gemeinsamen Haus; Terri, die an einer bipolaren Störung litt, hat sich und ihre Eltern durch Autoabgase umgebracht. Verständnis und Trost findet Dani jedoch nur bedingt in der Gesellschaft ihres entfremdeten Freundes Christian (Jack Reynor) – der Anthropologiestudent zieht es vor, mit seinen Mitstudenten Josh (William Jackson Harper), Mark (sehr lustig: Will Poulter) sowie dem schwedischstämmigen Pelle (sehr durchsichtig: Vilhelm Blomgren) rumzuhängen. Gemeinsam planen die Amerikaner eine Reise nach Schweden, um in Pelles Heimatgemeinde die traditionellen Feierlichkeiten zur Sommersonnenwende zu studieren – bzw. um Schwedinnen zu verführen. Pflichtschuldig lädt Christian seine Freundin zu diesem Trip, den er bis dato geheim hielt, ein, und Dani, die nicht mehr viel in ihrer Heimat hält, sagt zur Überraschung (bzw. Enttäuschung) aller auch noch tatsächlich zu.

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In Empfang genommen wird das Quintett in der schwedischen Einöde von Pelles Bruder Ingemar, der zur Begrüßung erst einmal halluzinogene Pilze (!) verteilt, bevor die Studenten schließlich in der „Hårga“ genannten Kommune ankommen, wo die Mittsommerfeierlichkeiten begangen werden sollen. Schleichend realisieren die Amerikaner hier aber, dass die Gemeindemitglieder in ihren hell glänzenden, floralen Gewändern nicht das sind, was sie vorgeben – nach einem freundlichen Empfang werden sie im Laufe des neuntägigen heidnischen Zeremoniells, bei dem es täglich nur während wenigen Stunden Nacht wird, in immer grausamere Rituale mit eingebunden…

Tatsächliche liegen Licht und Schatten in Midsommar nahe beieinander.

Durch seine originelle Ästhetik mit ungewöhnlich heller Farbgebung, das groteske Gebaren der „Hårga“-Mitglieder, die sich auf transzendentale Weise im Einklang mit der Natur und jahrtausendealten Bräuchen wähnen, und das naive, auf einfachen geometrischen Formen basierende Design der Kommune gelingt es Aster zunächst durchaus – in Verbindung mit der nervösen Musik (Bobby Krlic / The Haxan Cloak) – eine beunruhigende Spannung aufzubauen.

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Nur: Allzu lange kann er diese Spannung nie aufrecht erhalten, denn Midsommar ist völlig frei von Überraschungen und gaukelt zudem Substanz vor, wo keine ist. Aster interessiert sich weder für seine Charaktere – die mit Ausnahme von Dani ohnehin eindimensional angelegt sind und entgegen aller Logik stets nur das tun, was nötig ist, um die Handlung voranzutreiben – noch für etwaige höhere Motive der Kultgemeinde. Stattdessen setzt er auf einzelne ausgeklügelte Bildkompositionen und Sequenzen, die in ihrer überdrehten Absurdität für einen kurzen Moment durchaus wirkmächtig sind und einen gewissen Sog zu entwickeln vermögen, aber eben keinen Film als Ganzes tragen können – schon gar nicht über die selbstbewusste Dauer von zweieinhalb Stunden (ein noch längerer „Director’s Cut“ mit Szenen, die zugunsten einer niedrigeren Freigabe herausgeschnitten werden mussten, wurde bereits angekündigt).

So hangelt sich Aster in seinem (in Ungarn gedrehten) schwedischen Paganismus-Horrordrama von einem gewollt skandalträchtigen visuellen Höhepunkt zum nächsten – inklusive genretypischen Splattereinlagen, rituellem Sex vor nacktem Frauenchor, permanenten Drogentrips sowie einer reichlich skurrilen Opferzeremonie –, doch sämtliche nicht-schwedischen Figuren haben nicht viel mehr zu tun, als nach und nach das Opfer unterschiedlicher Riten zu werden. Einzig Dani macht so etwas wie eine Entwicklung durch – ob sie jedoch am Ende von Midsommar ihre pagane Frömmigkeit entdeckt und sich der Kommune anschließt, um ihre eigene Trauerbewältigung abzuschließen oder um sich an ihrem emotional distanzierten Freund zu rächen, bleibt abermals unklar.

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