von Thierry Faber (Idee) und Christophe Wagner (Regie)
Der folgende Text enthält Spoiler.
(Yves Steichen) Sieht man von der sechsteiligen Ausstrahlung des Zweitweltkriegsdramas Déi Zwéi vum Bierg ab, die Anfang 1985 auf RTL Hei Elei erfolgte, markierte die Krimiserie Capitani, die im Herbst 2019 ebenfalls auf RTL zu sehen war, so etwas wie ein Stück Luxemburger Fernsehgeschichte. Nach den Sitcoms Weemseesdet (2011), Comeback (2012) und Zëmmer ze verlounen (2018), deren Folgen jeweils mehr oder weniger abgeschlossene Handlungen erzählten, entwarfen Thierry Faber (Originalidee und Drehbuch) und Christophe Wagner (mit Eric Lamhene Co-Autor des Drehbuchs; sowie Regie) in Capitani erstmals eine übergreifende Handlung, die nach ausländischem Vorbild von Episode zu Episode (insgesamt zwölf) weitergesponnen wurde, um den Zuschauer*innen nach über fünf Stunden Gesamtlaufzeit eine Antwort auf die Frage zu liefern: „Ween huet d’Jenny Engel ëmbruecht?“
Zwar gibt es in Luxemburg grundsätzlich keine verlässlichen Angaben zu den Einschaltquoten von Fernsehmedien, weder für RTL noch für kleinere Sender, doch die im Zuge der Ausstrahlung in der Branche verbreiteten Angaben zu den Klickzahlen im Streaming-Angebot von RTL-Replay (dort waren die Episoden auch untertitelt zu sehen) von mehreren Zehntausend Aufrufen pro Episode, legen nahe, dass sich diese erste Staffel der Crime-Serie zu einem veritablen Publikumserfolg entwickelt hat – eine baldige Fortsetzung scheint daher mehr als wahrscheinlich.
Subventioniert vom Filmfund und koproduziert von Samsa Film, Artemis (Belgien) und RTL, wurde Capitani während sechzig Drehtagen im Sommer 2018 – damals noch unter dem Titel De Bësch – u.a. in Burglinster, Junglinster, im Escher Spital sowie im Wiltzer Lycée du Nord gedreht. Regisseur Christophe Wagner konnte zuvor bereits mit dem grimmigen Kriminalfilm Doudege Wénkel (2012) sowie dem pessimistischen Nachkriegsdrama Eng nei Zäit (2015) einiges an Thrillererfahrung sammeln – und, soviel sei vorweg gesagt, das ist auch bei Capitani zu spüren: Die Inszenierung ist durchweg kompetent, schnörkellos und straff, Leerlauf und Langeweile kommen in den insgesamt über 300 Serienminuten so gut wie gar nicht auf. An manchen Stellen entsteht vielmehr der Eindruck, es hätte der Serie durchaus gut getan, wenn man das Erzähltempo ein wenig herausgenommen und Konfliktsituationen mehr Raum zur Entfaltung gegeben hätte – derart rasant arbeitet sich die Geschichte bisweilen von einem Plot Point zum nächsten.

Sophie Mousel als Polizistin Elsa Ley, die sich bestens mit dem Manscheider Mikrokosmos auskennt. ©Samsa Film
Der Titelprotagonist Luc Capitani (Luc Schiltz, Eng nei Zäit), Inspektor bei der Police judiciaire und ein „Minetter“ der eher schroffen Gangart, verschlägt es zunächst privat in das abgelegene (fiktive) Öslingdorf Manscheid/Mënscht – der Norden, mit seinen dichten Wäldern, Felsen und Schluchten und seiner eher vermeintlichen Abgeschiedenheit behält auch hier seinen Ruf als letztes filmisches Refugium Luxemburgs mit einigermaßen enigmatischer Strahlkraft –, wo ihm alsbald der Mord an der fünfzehnjährigen Schülerin Jenny Engel (Jil Devresse) vor die Füße fällt.
Obwohl zunächst noch so einiges auf einen Unfall oder Suizid hindeuten könnte – ihre Leiche wurde am Hang des sogenannten „Kifferfelsens“ gefunden – wird die Sache schnell unübersichtlich: Jenny trug Drogen bei sich, ihre Zwillingsschwester Tanja wird vermisst, und in der unmittelbaren Nähe organisiert die luxemburgische Armee gerade ein taktisches Manöver. Capitani beschließt vor Ort zu bleiben, und den Fall mithilfe der zwei Lokalpolizisten Elsa und Joe (beide hervorragend: Sophie Mousel und Joe Dennewald) zu lösen. Als Ortsfremder stößt er allerdings rasch auf eine Mauer des Schweigens, denn die Bewohner von Manscheid tragen nämlich nicht nur alle ihre kleinen und großen Geheimnisse mit sich herum, sie teilen diese auch nur äußerst ungern mit Außenstehenden – und überhaupt: Probleme löst man hier ohnehin lieber unter seinesgleichen. Mitten in die komplizierten Ermittlungen platzt schließlich die interne Ermittlerin Diane Bonifas (Désirée Nosbusch), die Capitani mit einer fünfzehn Jahre zurückliegenden Affäre konfrontiert, in die auch seine Ex-Freundin Carla (Brigitte Urhausen) verwickelt ist, die jetzt in Mënscht eine Pension betreibt…
Ein entlegenes Dorf in einer nur vordergründig heilen Welt, der Mord an einem jungen Mädchen, eine verschworene und gleichsam repressive Gemeinschaft, bei deren Mitglieder sich reihenweise die seelischen Abgründe auftun, Misstrauen und Argwohn, Drogenhandel, Prostitution, sowie eine Jugend, die aus diesem Mikrokosmos auszubrechen versucht – Capitani versteckt seine filmischen Vorbilder, allen voran die Mystery-Serie Twin Peaks (1990-2017; Thierry Faber nannte in einem Interview auch noch die Serien Broadchurch und The Killing als Inspiration) freilich nicht, überträgt diesen Erzählkosmos aber durch den Einsatz von zeitgenössischen Informationstechnologien (Online-Messenger, Darknet) geschickt auf das Hier und Jetzt, und erweitert ihn um einige – wenngleich moderate – Spitzen gegen das luxemburgische Gesellschaftsmodell und die Stereotypen, die es auch im einheimischen Kino immer wieder hervorbringt: Provinzialität und Weltfremdheit, gegenseitiges Bespitzeln und in-den-Rücken-Fallen, Mauscheleien unter potenten Männern, streng typisierte Charaktere – und alle reden ausschließlich Luxemburgisch.
Auch wenn diese Klischees in Capitani bewusst ironisch überzeichnet werden, um entsprechend der Erzähllogik des Kriminaldramas allerlei Konfliktmomente unter den Manscheidern, aber auch gegenüber dem fremden Inspektor zu schaffen, so bleibt dennoch die Frage offen, ob dieses Gesellschaftsbild heute noch in der Realität verankert ist, oder doch eher jenen inzwischen nostalgischen Vorstellungen entspricht, die die seligen Klassiker des Luxemburger Kinos, wie etwa Déi Zwéi vum Bierg, über Jahrzehnte in den Köpfen zementiert haben.
Capitani ist nicht nur auf hohem Niveau bebildert (Kamera: Jako Raybaut) sondern auch gespielt. Zwar ist es inzwischen keine Überraschung mehr, dass luxemburgische Großproduktionen regelmäßig das Who is who der einheimischen Schauspielszene vor der Kamera auffahren, doch Capitani ist tatsächlich bis in die kleinsten Nebenrollen hervorragend besetzt. Neben Sophie Mousel als noch unerfahrene, aber keinesfalls zu unterschätzende Nachwuchspolizistin sind dies (u.a.) außerdem Luc Feit als geistig zurückgebliebener aber sehr aufmerksamer fou du village Usch („De Spigel ass futti“) sowie das Ehepaar Mick (Jules Werner) und Nadine (Claude de Demo) – Er ein sexuell recht umtriebiger Geschäftsmann mit beunruhigender bis bedrohlicher Präsenz, Sie eine traumatisierte Mutter, die mit letzter Kraft den Anschein einer intakten familiären Fassade zu wahren versucht. Auch wenn nicht alle Figuren ihre zunächst zugesprochene Bedeutung bis zum Schluss behalten und manche Handlungsstränge im Nirgendwo enden, haben Faber, Lamhene und Wagner nichtsdestotrotz ein komplexes, rund dreißig (!) Haupt- und Nebencharaktere umfassendes Erzähluniversum erschaffen, das es in dieser Form auch noch nicht in einer luxemburgischen Produktion zu sehen gab.
Titelfigur Capitani (Luc Schiltz) im Gespräch mit einem frühen Verdächtigen, dem Lehrer Rob Behrens (Raoul Schlechter) ©Samsa Film
Deutlicher ins Gewicht fällt dagegen die Tatsache, dass dieser Kosmos – gemessen an seinen eigenen Regeln – nicht immer ganz kohärent ist. Mal erscheint Manscheid als ein Dorf, in dem jeder alles über jeden weiß und Geheimnisse bereits nach kürzester Zeit weitergereicht werden, mal dringen, je nach Bedarf des Plots, tatsächlich spektakuläre Erkenntnisse, die unter den aufmerksamen und redseligen Einwohnern sicherlich für so manchen Klärungsbedarf sorgen würden (der größte Unternehmer und Erste Schöffe der Gemeinde veranstaltet Sexorgien im nur wenige Minuten entfernten Wald…), überhaupt nicht durch. Für einige Ratlosigkeit sorgen daneben auch die Motivationen von Mutter und Tochter Engel, die die Verwechslung um die reelle Identität der Leiche nicht aufklären wollen (zur Erinnerung: Nicht Jenny, sondern ihre Zwillingsschwester Tanja ist durch den Sturz ums Leben gekommen) – hätte diese Information doch frühzeitig ein völlig anderes Licht auf die Ereignisse geworfen.
Schließlich, und diese Problematik teilt Capitani sicherlich mit einigen anderen TV-Serien, führten das gewollt hohe Erzähltempo und die nach Cliffhanger-Logik unterteilten Episoden zu einer recht unübersichtlichen Anhäufung von Themen – darunter: der Tod einer Minderjährigen, Drogennetzwerke im Darknet, Pädophilie, abtrünnige Militärs, gemeindepolitisches Geschacher, ein Polizist, der selbst in den Fokus der Ermittlungen gerät, sowie ein marodierender Wolf (!) – die sich in dieser Fülle bisweilen als inkompatibel mit dem ansonsten betulichen provinziellen Öslinger Lokalkolorit erweisen.
Aufschlussreich ist auch der Einsatz der luxemburgischen Sprache in Capitani. Den zugegebenermaßen sehr lyrischen und stimmungsvollen Episodentiteln, die den literarischen Werken von Michel Lentz (1820-1893) entlehnt sind, stehen einige etwas ungelenke Formulierungen und Lehnübersetzungen („Si hänke bei der Schoul of!“) gegenüber. Zugutehalten muss man den Capitani-Machern aber diesbezüglich, dass das Luxemburgische derzeit immer noch keine mit dem Ausland vergleichbare Tradition als Dialogsprache in Serien- oder Filmproduktionen hat, sondern diese Tradition erst dabei ist, sich zu entwickeln.
Dies alles soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese erste Staffel von Capitani ein gelungener Einstand und eine unbedingte Bereicherung für die einheimische Serien- bzw. Fernsehlandschaft ist, welche die Messlatte für künftige Serienprojekte erfreulich hoch legen wird. Einigen Detailschwächen zum Trotz gelang es der Serie nämlich durch ambivalente Figuren, eine kluge Erzählweise und die straffe, schnörkellose Regie, die Zuschauer*innen über die Dauer von zwölf Episoden bei der Stange zu halten.
Anfang Februar werden voraussichtlich mehrere Kinos einen Capitani-Marathon veranstalten.
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