„Do you see it now? Or should we finish this on the board?“ – „The Queen’s Gambit“ von Scott Frank und Allan Scott

Vom Waisenhaus auf die vom Kalten Krieg geprägte Weltbühne des Schachs – in der siebenteiligen Netflix-Miniserie The Queen’s Gambit (2020) brilliert Anya Taylor-Joy als Wunderkind, das mit seinem Talent hadert.

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(Yves Steichen) In der Netflix-Serie The Queen’s Gambit (Drehbuch und Regie: Scott Frank, unter Mitarbeit von Allan Scott) ist Schach Suchtmittel und Therapie zugleich. Dabei ahnt Elizabeth – Beth – Harmon (als Kind verkörpert von Isla Johnston, später von Anya Taylor-Joy) zunächst noch gar nichts von ihrem außergewöhnlichen Talent.

Lexington, Kentucky, in den 1950er Jahren: Nach einem Autounfall, den ihre alleinerziehende Mutter Alice (Chloe Pirrie) verursacht hat, wächst die neunjährige Beth in dem nach christlichen Werten geführten Methuen-Waisenhaus auf. Unter der Aufsicht von Direktorin Deardorff (Christiane Seidel) werden den jungen Mädchen dort täglich Beruhigungspillen ausgehändigt, die bei der stillen Beth bereits früh eine Abhängigkeit auslösen. Der zurückgezogen lebende Hausmeister der Einrichtung, Mr. Shaibel (Bill Camp), führt das intelligente, aber introvertierte Mädchen in die hohe Kunst des Schachspiels ein – für Beth, die sich ohne Mühen ganze Bewegungsfolgen intuitiv einprägen und in ihrem Kopf immer wieder neu durchspielen kann, ist es der Beginn einer steilen Karriere, die die junge Frau landes- und später weltbekannt macht und ihr, insbesondere in der männerdominierten Welt des Profischachs, gesellschaftliche Türen öffnet. Doch auch die Schattenseiten ihres Ruhmes bzw. Talentes lernt sie nur allzu gut kennen: Obsessionen, Zweifel, Medikamenten- und Alkoholabhängigkeit, und Abstürze.


(c) Netflix

Nicht ganz unbeteiligt an dieser Entwicklung ist auch ihre Adoptivmutter Alma Wheatley (Marielle Heller), die Beth im Alter von fünfzehn Jahren, zusammen mit ihrem Mann Allston (Patrick Kennedy), aus dem Heim holt – freilich ohne, dass das zerrüttete Paar der hochbegabten Teenagerin auch nur ansatzweise ein geregeltes Familienleben bieten könnte. Als Allston kurz darauf seine gebildete, aber desillusionierte und alkoholabhängige Ehefrau (eine Figur, die man nicht selten in Filmen und Serien über die Gesellschaft der USA in den fünfziger Jahren antrifft) verlässt, bilden Alma und Beth eine Zweckgemeinschaft, um finanziell und emotional über die Runden zu kommen. Alma versteht zwar nicht viel vom Schachspiel, doch die Aussicht auf Beths Teilnahme an prestigeträchtigen Schachturnieren im In- und Ausland, von Las Vegas bis Mexiko, und die dort ausgeschütteten Preisgelder, geben ihr endlich wieder eine Perspektive. Im Gegenzug führt Alma ihre Adoptivtochter in Musik, Mode und Kultur ein, klärt sie über ihre Sexualität auf und schärft ihr Auftreten – sie macht Beth aber auch zu ihrer Saufkumpanin.

Beths Ambitionen als professionelle (und zunehmend glamouröse) Schachspielerin kulminieren schließlich in dem bevorstehenden Duell auf Weltniveau gegen den sowjetischen Großmeister Vasily Borgov (Marcin Dorocinski) in Moskau, bei dessen Vorbereitung sie auch ihre ehemaligen Gegner wie Harry Beltik (Harry Melling) und Benny Watts (Thomas Brodie-Sangster), die Beth früher oder später allesamt an die Wand gespielt hatte, unterstützen, um jegliche von Borgov anvisierten Spielfolgen via Telefonschalte quasi in Echtzeit durchzuplanen.


(c) Netflix

The Queen’s Gambit beruht zwar auf einem gleichnamigen Roman von Walter Tevis aus dem Jahr 1983, nicht aber auf wahren Tatsachen. Obwohl das Schachspiel mit all seinen Eröffnungen (darunter das titelgebende Damengambit), komplexen Techniken und Finessen zwar als handlungstragendes Element fungiert, und auch für Nichtkenner durchaus plausibel dargestellt ist, liegt der erzählerische Schwerpunkt der siebenteiligen Miniserie doch eindeutig auf der Charakterzeichnung der hyperintelligenten, gleichsam verschlossen und sonderbaren (der englische Ausdruck quirky trifft es noch besser), und im Schachspiel erbarmungslosen Hauptfigur Beth, die Taylor-Joy mit all ihren Höhen und Tiefen nuanciert und vielschichtig, aber stets greifbar verkörpert.


(c) Netflix

Wie Taylor-Joy (bzw. Beth) ihre größtenteils männlichen Schachgegner von der ersten Sekunde an vor sich hertreibt, ihnen (bis auf wenige Ausnahmen) stets mehrere Schritte voraus ist und bleibt, und sie dabei, den Kopf auf den zierlichen Händen ruhend, intensiv durchdringt, zeugt von ihrem außergewöhnlichen Schauspieltalent. „Do you see it now? Or should we finish this on the board?“, fragt sie etwa Beltik, im Wissen, dass er bereits verloren hat, ohne es begriffen zu haben. Auch abseits des Schachbretts tun sich ihre Sex- und Liebespartner schwer mit Beths obsessivem Verhältnis zum Schach und ihren überlegenen Fähigkeiten, und merken früher oder später resignierend, dass sie dem Übertalent schlicht nichts neues beibringen können – für einige von ihnen ein durchaus unbefriedigendes Erlebnis. Eine eher ungewöhnliche Konstellation für eine Mainstreamproduktion, sind hochintelligente Nerds und ihre Anpassungsschwierigkeiten in der Welt der Normalos doch in der Regel eine filmische Männerdomäne.

Doch nicht nur die Hauptprotagonistin verfügt über wohltuende charakterliche Komplexität und Tiefe. Auch die Nebenfiguren warten mit einigen teils überraschenden Facetten auf, die The Queen’s Gambit – zusammen mit der stimmigen Ausstattung, die nicht zu Unrecht mit der Sixties-Serie Mad Men (2007-15) verglichen wurde, sowie der audiovisuellen Opulenz, mit der die Austragungsorte und die Schachpartien selbst auf teils sehr unterschiedliche Weise in Szene gesetzt werden –, zu einem Vergnügen ohne wirklichen Leerlauf machen.

 (c) Charlie Gray/Netflix

Dass The Queen’s Gambit trotzdem nicht gänzlich perfekt geriet, liegt daran, dass die Macher abseits der gut geschriebenen Charaktere nicht wussten, welche erzählerischen und thematischen Schwerpunkte sie setzen wollten.

Als Allegorie auf den Kalten Krieg taugt die Serie kaum, dafür wurde der historische Kontext zu sehr auf die Schachturniere und die unterschiedlichen Spielweisen zwischen Ost und West kondensiert – dass die Amerikaner am Ende erfolgreich sind, weil sie die Spielweise der Sowjets kopieren (diese trainieren und spielen nämlich, im Gegensatz zu den individualistischen Amerikanern, zusammen) ist nicht mehr als eine lustige Pointe. Auch die innenpolitischen Umwälzungen, die die USA seit den sechziger Jahren erfassten, werden über die Figur von Beths afroamerikanischer Freundin aus Kindheitstagen, Jolene (Moses Ingram), bestenfalls humorvoll angedeutet. Ebenso wenig kann die Serie als Kommentar zur gesellschaftlichen Situation der Frauen und ihrer Möglichkeiten der Selbstverwirklichung in den sechziger Jahren gelesen werden – zwar liegt es in der Prämisse von The Queen’s Gambit, dass sich Beth als junge Frau in einer von Männern dominierten Welt behaupten muss, doch weiter gehen Frank/Allen nicht: Ihr Aufstieg zur Schachkönigin verläuft, abgesehen von einigen sportlichen Niederlagen, weitestgehend reibungslos, strukturellem Sexismus ist sie wenig bis gar nicht ausgesetzt, und die Mehrzahl ihrer männlichen Kontrahenten begegnet ihr ehrfürchtig.

 (c) Phil Bray/Netflix

Diese Abwesenheit von erzählerischen Schwerpunkten neben der Fokussierung auf die Hauptfigur und ihren Dämonen, nimmt der ansonsten stimmigen und eindringlichen Charakterstudie zeitweise etwas den Wind aus den Segeln, lässt sie ein wenig glatt daherkommen. Dass The Queen’s Gambit trotzdem funktioniert, liegt an dem hervorragenden Cast, der stimmigen Ausstattung und der flotten Erzählweise. Empfehlenswert.

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