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Kulturelle Ansätze in der Kooperationspolitik
Remdoogo – Ein Festspielhaus für Afrika in Burkina Faso
„Natürlich hab ich auch ganz bewusst von Begriffen wie Festspielhaus, Opernhaus gesprochen. Damit viele Leute eintreten in den Gedanken. Ihre eigene Fantasie freisetzen. Oper ist nun mal in Deutschland der Überbegriff für den elitären Glanz der Hochkultur. Eigentlich in der ganzen Welt. Deswegen fand ich den Begriff schon mal gut, weil er zu Missverständnissen eingeladen hat, weil man an den Reaktionen gemerkt hat, wie plakativ wir hier in Europa sind. Weil er uns zwingt, mal über unseren Kunstbegriff nachzudenken. Und weil wir mal überlegen müssen, was das denn eigentlich sein kann: sinnvolles Helfen, sinnvoll Gutes tun. Denn diese Idee, ich geh jetzt mit meinem europäischen Helfer-Gen mal nach Afrika und tu was Gutes, ist Bullshit. Hatte ich ja auch. Ablasshandel.“
Christoph Schlingensief, Ich weiß ich war’s, hg. v. Aino Laberenz, Köln, KiWi, 2012, S. 166f.
Anlässlich der letzten luxemburgischen EU-Ratspräsidentschaft fand im September 2015 in Echternach eine Konferenz mit dem recht langen Titel Culture and development: towards a more strategic approach to cultural policies in the EUs external relations statt. Selbstgestecktes Ziel der Veranstaltung war die Debatte über eine „transversale Integration“ von Kultur in andere Politikbereiche, die mit der Rolle von Kultur in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen begründet wurde. Gleichzeitig wurde ihre Stellung als eigenständiger marktwirtschaftlicher Sektor betont, der auf Langzeitstrategien und Visionen angewiesen sei. Spuren dieser und ähnlicher Veranstaltungen finden sich in Rechenschaftsberichten, Strategiepapieren und (dann aber meist stichwortmäßig) in politischen Redebeiträgen als Bestandteil globalpolitischer EU-Agenden. Gleichzeitig scheint Konsens darüber zu bestehen, dass es sich bei Kultur – wie auch immer sie von den jeweiligen Akteuren und Entscheidungsträger:innen definiert wird – um einen vernachlässigten Aspekt in der Zusammenarbeit der europäischen Staaten mit den Ländern des Globalen Süden handelt. Warum eigentlich?
Kultur und Entwicklung
Tatsächlich ist das Diskursfeld „Kultur und Entwicklung“ bereits in den 1970er Jahren auf der Globalagenda aufgetaucht und konnte sich bis heute dennoch nicht nachhaltig in der kooperationspolitischen Programmatik etablieren. Das liegt aber weniger an der zweifelsohne vorhandenen Begriffsunschärfe als an ihrer ungeklärten Rolle im entwicklungspolitischen Zusammenhang. Soll Kultur in Kooperationskontexten zu mehr Entwicklung führen? Soll sie sich selber weiterentwickeln? Oder geht es darum, insgesamt eine Kultur zu stärken, die sich für entwicklungspolitische Prozesse stark macht?
Auf UN-Ebene und in der entwicklungspolitischen Praxis erlebte der Kulturbegriff eine kurze Hochphase nach 9/11, im Konzept eines „Dialogs der Kulturen“ (zwischen „dem Westen“ und der „islamischen Welt“). Heutzutage fungiert Kultur in europäischen Kooperationskontexten hingegen meist als Kofferbegriff, welcher die Erhaltung historischer Gebäude und Stätten meint oder auf eine Stärkung der Tourismusindustrie in den Ländern des Globalen Südens zielt. Dann gibt es noch, mit Bezug auf die wirtschafttlichen, kulturellen und sozialen (wsk) Grundrechte, die „Allzweckwaffe“ der kulturellen Bildung. Sie richtet sich in unterschiedlicher Ausdifferenzierung an zivilgesellschaftliche Gruppen und Akteure, mit deren Aktivitäten und Werten die Europäer:innen in irgendeiner Weise konform zu gehen scheinen. Während sie aber in Autokratien, Schwellenländern und Transformationskontexten den Schutz von Frauen- und LGBTIQIA+-Rechten oder die Unterstützung verfolgter Künstler:innen einschließt, soll sie in den least developed countries (LLDC) des Globalen Südens v. a. der Erhaltung und dem Schutz des materiellen und immateriellen Erbes alteingesessener Bevölkerungsgruppen dienen. Kultur im Sinne von Kunst kommt in dieser von der Addis-Abeba-Agenda zur Entwicklungsfinanzierung (2015) gestützten Sichtweise hingegen nicht vor. Das ist umso erstaunlicher, als dass das koloniale Abenteuer den Grundstein für bis heute andauernde territoriale und ethnische Konflikte in diesen Ländern gelegt hat und seine Folgen – das verdeutlichen die Debatten um die Restitution kolonialer Raubgüter – auch eine spezifische und lange Zeit ignorierte kulturelle Dimension aufweisen. Wenn wir aus unserer moralphilosophischen Verantwortung heraus also eine nachhaltige Aufarbeitung dieses letztendlich europäischen Projekts anstreben, dann werden Kunst und Kultur an ihr beteiligt sein.
Auch im zunehmend postnationalen Weltgefüge herrscht über die Anerkennung der gesellschaftlichen Relevanz von Kunst durchaus ein europäischer Konsens. Kunst verhandelt kollektive und individuelle soziale Fragen und hält immanente Widersprüchlichkeiten nicht nur aus, sondern vermag sie aktiv zu thematisieren. Weil diverse ästhetische Ausdrucksformen immer auch die Identität, die Geschichte und das mindset moderner Gesellschaften repräsentieren, kommt ihnen in Kooperationskontexten zwischen „the west and the rest“ (Stuart Hall), eine zentrale Rolle zu. Denn im Gegensatz zu politischen Ritualen oder Reparationszahlungen, beide zweifelsohne wichtig, ermöglichen Kunst und Kultur die Schaffung vorpolitischer „dritter Räume“. Sie ermöglichen es, individuelle und kollektive Verhältnisse zum Anderenzu reflektieren und dabei unterschiedliche Sichtweisen mit einzubeziehen, ohne auf unkritische (etwa kulturrelativistische) Positionen zurückgreifen zu müssen. Idealiter lässt sich durch sie eine Abkehr von westlicher Belehrungskultur nicht nur behaupten, sondern bewusst vermitteln und eine Begegnung auf Augenhöhe zwischen Akteuren aus Geber- und Nehmerländern ermöglichen.
Allerdings erweist sich die Übersetzung künstlerischer Konzepte, Prozesse und Aspekte in politische Praxis schwierig. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich Kultur in einem hybriden gesellschaftlichen Feld verortet, welches sowohl geistige als auch emotionale Komponenten aufweist. Ihre Wirkung entzieht sich deswegen den Messkriterien des kapitalistischen Systems – was sie im entwicklungspolitischen Kontext von konkreten sanitären Maßnahmen unterscheidet –, aber auch z. B. dem Aufbau von Mikrokreditsystemen. Erschwerend kommt hinzu, dass politische Entscheidungsträger:innen oft über wenig kulturelle und kulturpolitische Kompetenz verfügen. Das zeigt sich in der weithin praktizierten Instrumentalisierung von Kultur als Impulsgeber für die nationale Außenwirtschaft oder als Beleg für nationale brands. Auswärtige Kulturförderung wird deswegen häufig als Werbemaßnahme für einheimische Künstler:innen verstanden oder auf ein unterhaltendes Beiwerk bei internationalen Prestigeveranstaltungen, Messen und (Welt-)ausstellungen reduziert. Derlei Strategien entfalten konsequenterweise in den Beziehungen zu den Ländern des Globalen Südens, die weder über eine marktwirtschaftlich ausgebaute Kreativindustrie noch über die Mittel für Direktinvestitionen verfügen, keine Relevanz.
Trotzdem findet Kultur in entwicklungspolitischen Zusammenhängen statt, etwa in projektbezogenen Kooperationen kultureller Institutionen beider Länder, so etwa bei Theaterhäusern, die eine gemeinsame Produktion stemmen. Initiativen dieser Art existieren in nahezu allen EU-Staaten und können – durch die Vernetzung Kulturschaffender oder durch Gastspiele oder Konzertreisen – zweifelsohne nachhaltige Effekte haben. Gleichzeitig müssen sie sich zumeist an übergeordneten regionalen Strategien der Geberländer orientieren und sind deswegen aufgrund unklarer Anschlussfinanzierungen darauf angewiesen, möglichst schnell Ergebnisse zu liefern. In der entwicklungspolitischen Programmatik von NGOs oder zivilgesellschaftlichen Initiativen spielt Kunst eine untergeordnete Rolle und kommt primär im Kontext von Spendenakquise (z. B. durch Prominente) oder als Element kultureller Bildung vor. Ein Engagement hierüber hinaus deckt sich in den meisten Fällen nicht mit den institutionellen Schwerpunkten. Vor allem ist aber zu berücksichtigen, dass NGOs zwar über langjährige Partnernetzwerke in den Regionen verfügen, sie aber gleichzeitig auf öffentliche und private Aufträge und Mittel angewiesen und unterschiedlichen Geldgebern rechenschaftspflichtig sind. Solchen lassen sich konkrete Instrumente, die, z.B. im Rahmen von vocational training, innerhalb von drei Jahren 12.000 Menschen in Lohn und Brot zu bringen, ohne weiteres vermitteln. Kunstprojekte müssten hingegen von Externen durchgeführt werden. Abgesehen von möglichen politischen Risiken würden Kunstprojekte zudem die Anwendung innerinstitutioneller Messkriterien und Evaluationsprozesse erschweren. Hinzu kommen weitere Faktoren, sodass viele international operierende NGOs, analog zur Weltbank, Armut primär als Einkommensarmut definieren. Oder, dass das Kleinfamilien-Modell, das vielen entwicklungspolitischen Programmen zugrundeliegt, nicht immer mit dem Community-basierten Anspruch künstlerischer Prozesse vereinbar ist. Abgesehen von dem Sonderfall der Nothilfe nach Naturkatastrophen oder in Kriegsgebieten ist deswegen die Frage aufzuwerfen, wie ein nachhaltiger Umgang mit der kulturellen Dimension von Kooperationspolitik aussehen könnte. Wie könnten der Globale Norden, die EU oder ihre Mitgliedsstaaten, aber ebenso zivilgesellschaftliche Initiativen in Entwicklungskontexten kulturell aktiv werden? Das Operndorf-Projekt Remdoogo in Burkina Faso versucht seit nunmehr zehn Jahren humanitäre und künstlerische Ansätze zu verbinden und weist für die internationale Zusammenarbeit durchaus Anknüpfungspunkte für einen neutarierten Umgang mit den Regionen des Globalen Südens auf. Sicherlich ist die sehr spezifische Ausprägung des Village-Opéra nicht auf alle Bereiche von Kooperationspolitik anwendbar. Angesichts des Scheiterns traditioneller Ansätze und einer stetigen Zunahme kultureller Konflikte, ob in Afghanistan oder Mali, dürfte eine Hinwendung zu erprobten, alternativen Konzepten jenseits von reiner Wirtschaftshilfe und Leadership-Programmen aber mittelfristig unumgänglich sein.
Postdramatik
Die Idee des 2009 eröffneten Village-Opéra Remdoogo in Laongo, Burkina Faso geht auf den deutschen Kunst-, Film- und Theatermacher Christoph Schlingensief (1960–2010) zurück. „Remdoogo“ bedeutet, übersetzt aus der örtlichen Mòoré-Sprache, soviel wie „Bürgersaal“ oder „Treffpunkt“. Schlingensief kündigte sein geplantes „Festspielhaus Afrika“ dann auch als Ort an, der afrikanische und europäische Kulturen verbindet, sowie darüber hinaus als Möglichkeit, das „totgespielte“ Kunstgenre der Oper nachhaltig zu erneuern. Die Persona des im deutschsprachigen Raum recht bekannten Konzeptkünstlers und sein bewusster Umgang mit den Medien führten zweifelsohne dazu, dass das Projekt deutlich mehr Aufmerksamkeit generierte als dies bei gewöhnlichen Kooperationsprojekten der Fall ist. Zugleich machte sich Schlingensief – selbst recht skandalerprobt – mit dem Engagement für ein sehr persönliches Projekt, das irgendwie humanitär aber auch irgendwie künstlerisch sein sollte, durchaus anfällig für Kritik – nicht zuletzt, weil lange Zeit nicht feststand, wo dieses Festspielhaus entstehen sollte, außer eben „in Afrika“, das Projekt also nicht in Reaktion auf eine konkrete geografische oder humanitäre Situation konzipiert worden war. So waren in der Planungsphase zwischenzeitlich Namibia und Simbabwe im Gespräch gewesen. Schließlich aber fiel die Wahl auf ein 12ha-Gelände im 30 km nordöstlich von Ouagadougou gelegenen Dorf Laongo.

Oper hat in Burkina Faso keinerlei eigene Tradition und ist als zutiefst europäisches Kunstgenre, man denke an Madame Butterfly oder l’Africaine, in hohem Maße in der kontinentalen und kolonialen Weltsicht des 19. Jahrhunderts verhaftet. Das Operndorf-Projekt erweckte aber darüber hinaus den Verdacht, dass sich der Künstler ein Denkmal setzen wollte, in einer Region, die – mit einem Altersdurchschnitt von 17 Jahren – zu 36 % alphabetisiert ist und in der 40 % der Bewohner:innen unter der Armutsgrenze leben. Eine Lesart, die durch die Prämisse gestützt wurde, dass der an Krebs erkrankte Schlingensief das Festspielhaus offen als eigenes Vermächtnis thematisierte. Der Vergleich mit Werner Herzogs Fitzcarraldo drängte sich geradezu auf. In dem Film von 1982 spielt Klaus Kinski einen Abenteurer, der um die Jahrhundertwende im peruanischen Dschungel ein Opernhaus bauen will und nach mannigfaltigen Strapazen schließlich scheitert. Die Parallele war von Christoph Schlingensief, dessen Filme, TV-Auftritte und Performances – insbesondere in den 1990er Jahren – weitreichende Kontroversen im deutschsprachigen Raum ausgelöst hatten, durchaus intendiert. Seine Inszenierung von Wagners Der Fliegende Holländer (2007) im Teatro Amazonas in Manaus hatte Fitzcarraldo bereits mit der Geschichte des Opernhauses verknüpft, welche ihrerseits den Film inspiriert hatte. Die Urwaldstadt Manaus, deren Eliten im Zuge des Kautschukbooms reich genug wurden, um sich 1896 eine Oper nach europäischem Vorbild zu bauen, stand hierbei stellvertretend für einen sich aus eurozentrischem Größenwahn speisenden Drang, die eigene Kultur in die vermeintlich „finstersten Winkel des Erdballs“ zu exportieren.
Das Operndorf (denn es sollte nicht beim Festspielhaus allein bleiben) ist zugleich in den Themenkomplex „Afrika“ in Schlingensiefs Werk seit den 1990er Jahren einzuordnen. Sein in Simbabwe gedrehter Film United Trash (1996) war eine groteske Allegorie auf das Versagen der Vereinten Nationen auf dem Kontinent. Er handelt u. a. von einem Befehlshaber der Blauhelme (Udo Kier), der mit einem afrikanischen Diktator kooperiert, um mit einer V2-Rakete aus der NS-Zeit an Heiligabend den US-Präsidenten zu ermorden. Die Wiener Installation Bitte liebt Österreich (2000) thematisierte wiederum Migration und (Alltags-)Rassismus und löste eine hitzige Kontroverse in der Alpenrepublik aus. Die Performance bestand aus einem mit FPÖ-Wahlmaterialien und einem „Ausländer Raus!“-Transparent versehenen Container, in dem (echte) Asylbewerber übernachteten. Die Arbeit war in Reaktion auf die Wahlerfolge der rechtsextremen Partei um Jörg Haider entstanden und persiflierte das damals populäre Big Brother-Reality-TV-Format. So konnten Zuschauer:innen, analog zum Prinzip der Sendung, die Bewohner (,Kandidaten‘) in täglichen Online-Abstimmungen sukzessive zur Abschiebung herauswählen. Wiederholt beschäftigte sich Schlingensief mit dem oft relativierten deutschen Kolonialismus. Bei einer Wagnerrallye (Deutschlandsuche ’99) beschallte er koloniale Überreste in Namibia, dem ehemaligen „Deutsch-Südwestafrika“, mit Wagnermusik, mit dem erklärten Ziel, den Nibelungenring „nicht im Rhein zu versenken, sondern in den Sand zu setzen“.1 Auch The African Twin Towers. Der Ring 9/11 (2005–2008) entstand in Namibia. Im Zentrum des Fragment gebliebenen Filmprojekts steht die deutsche Familie Bach, die ein Festspielhaus (mit Drehbühne) in der ehemaligen Kolonialstadt Lüderitz aufbauen will, als Spielstätte für die an Bayreuth angelehnten „Bach-Spiele“.
Der erweiterte Opernbegriff
Im Gegensatz zum brasilianischen Teatro Amazonas, bei dem Stahl aus England, Ziegel aus Frankreich und eigens und aufwändig importierte Marmorsäulen aus Italien verbaut wurden, orientiert sich das Festspielhaus Afrika nicht an europäischer Architektur. Die eigentliche Oper soll hier in der Mitte des seit 2010 entstehenden Dorfkomplexes errichtet werden, der sich bis dato aus einer Schule, Werkstätten, Wohnraum für Lehrer:innen, einer Kantine und einer Krankenstation zusammensetzt. Die zentrale Stellung des namensgebenden Festspielhauses und ihre kontinuierliche Entwicklung soll architektonisch durch eine Schneckenform wiedergegeben werden, deren 15 Meter hohen Wände den Innenraum von den Außentemperaturen abschirmen. Als „Oper ohne Dach“, die das reale Leben inkorporieren soll und Möglichkeiten von Teilhabe bietet, ist es als multifunktionaler Begegnungsort konzipiert, der für kulturelle Veranstaltungen oder Versammlungen genutzt werden, aber ebenso als Marktplatz oder Schulaula fungieren kann. Weitere Verwendungen sind nicht ausgeschlossen, da der Ort ein Eigenleben entwickeln und sich sukzessive von externer Kontrolle lösen soll: sei es durch das künstlerische Konzept, sei es durch bestimmte Vorstellungen der Spender:innen. Ein „erweitertes Opernverständnis“ ist zentral, bei dem es letztendlich nicht von Belang ist, ob jemals Der Ring des Nibelungen aufgeführt wird, bei dem eben dies gleichzeitig aber auch möglich sein soll. Denn im Projekt, das – Beuys’ „soziale Plastik“ aufgreifend – jedem Menschen seine Oper lassen will, kann es ohnehin keine Finalität und keine Gebrauchsabnahme geben, lediglich einen andauernden Prozess mit unvorhersehbarem Ausgang.

Schlingensiefs Entscheidung für Burkina Faso, einen westafrikanischen Binnenstaat südlich des Nigerbogens mit Grenzen zur Côte d’Ivoire, dem Niger, Benin, Togo, Ghana und Mali, war durch zwei wesentliche Faktoren beeinflusst: Zum einen verfügt das Land über eine reiche Film-, Theater- und Tanztradition. Zum anderen war die Begegnung mit Diébédo Francis Keré entscheidend, welcher das bauliche Konzept von Remdoogo bis heute verantwortet. Der Berliner Architekt stammt aus der Region, arbeitet auf mehreren Kontinenten und ist auf sozial und ökologisch nachhaltige Bauprojekte spezialisiert. Letztere sind auf die jeweiligen klimatischen Bedingungen und die regionalen Bautraditionen abgestimmt und berücksichtigen in der Planung sowohl vor Ort vorhandene Baumaterialien, als auch den begrenzten Zugang zu Strom und Wasser. So hat er ein Verfahren entwickelt, welches Lehm nur minimal mit Zement anreichert. Die aus dem Baustoff hergestellten Ziegel können lokal produziert und gewartet werden und halten zudem der Regenzeit stand. Kerés Gebäude sind so konzipiert, dass sie die Temperatur in ihrem Innern selbstständig regulieren. Sie nutzen die Fenster für Ab- und Zuluft, während Innenhöfe mit Öffnungen nach oben einen Kamineffekt erzeugen, der die heiße Luft abtransportiert. Ein weiterer essenzieller Bestandteil der „Sozialen Architektur“ Kerés ist der mit den Bauphasen einhergehende Wissenstransfer. Er soll es den Mitarbeitenden vor Ort ermöglichen, die erworbenen Kenntnisse auch bei zukünftigen Bauprojekten anzuwenden. Durch die direkte Teilhabe der Bewohner:innen an Bau und Entwicklung des Operndorfs wird darüber hinaus ihre Identifikation mit dem Langzeitprojekt gefördert, beispielsweise bei Eltern, die am Bau der Schule ihrer Kinder mitwirken.
Der Architekt Keré fungierte in der Realisierung des Operndorfes von Beginn an als notwendiger Kontrapunkt zu Schlingensiefs künstlerischem Ansatz: durch seine Kenntnis der regionalen Strukturen als Burkinabè, aber auch und vor allem durch die Gegenüberstellung des praxisorientierten „sozialen Bauens“ zu Schlingensiefs Idee der Siedlung als soziale Plastik. In den ersten zehn Jahren seit Baubeginn hat das Village-Opéra eine Reihe an Entwicklungen durchgemacht. Zwar ist das Projekt, das seit Christoph Schlingensiefs Tod von seiner Ehefrau Aino Laberenz verantwortet wird, nach wie vor den ursprünglichen künstlerischen Konzepten verpflichtet, zugleich hat es sich immer wieder der „Dramaturgie des Ortes“ angepasst. Dies wird an der Einbindung und Beteiligung politischer und gesellschaftlicher Strukturen des Landes deutlich. So werden in der 2011 eröffneten Grundschule gegenwärtig 300 Kinder von einheimischen Lehrkräften unterrichtet. Die Schule des Operndorfs ist öffentlich und am burkinischen Curriculum ausgerichtet, legt aber darüber hinaus einen speziellen Fokus auf darstellenden, musikalischen und filmischen Unterricht. Die künstlerische Bildung beschränkt sich aber nicht auf den schulischen Bereich. So sind die Schüler:innen auch in das Residenzprogramm eingebunden, an dem afrikanische und europäische Kunstschaffende teilnehmen und die mit ihnen arbeiten. Die Residenzen sind als transkulturelles Begegnungsformat konzipiert, das sich explizit nicht auf den Kontakt von Burkinabè und Europäer:innen beschränkt. Insbesondere Künstler:innen aus Burkina Faso und den umliegenden Ländern soll ein Forum für kreativen Austausch geboten werden.
Zur Infrastruktur des Operndorfs gehören neben einem Tonstudio und einem Raum für Filmvorführungen auch eine Kantine, die von Müttern der Schüler:innen betrieben wird. Festangestellt sind die Kantinenchefin und drei Hausmeister. Das Baupersonal arbeitet hingegen projektbasiert, abhängig von der jeweiligen Konstruktionsphase. Die Lehrer:innengehälter zahlt der burkinische Staat, während das Operndorf für das kunstpädagogische Personal aufkommt. Zu ihnen zählt der Schulrektor Abdoulaye Ouedraogo. Er ist Theaterpädagoge und erarbeitet neben der Vermittlung von Schauspiel- und Theatertechniken mit den Kindern eigene Stücke, die sie und ihre Zuschauer:innen für aktuelle gesellschaftliche Themen sensibilisieren. Kunst wird insofern als gesellschaftlicher Mehrwert verstanden, aber zugleich als Möglichkeit, mit gesellschaftlicher Realität umzugehen. Auch das seit 2019 organisierte Kinderfilmfestival Kifife verbindet Alltagsrealität und künstlerische Nachwuchsförderung. Neben Screenings von Filmen, die einen Bezug zum Leben afrikanischer Kinder und Jugendlicher aufweisen, werden den Kindern in Workshops Techniken wie Kameraführung, Schauspiel oder Animationstechniken vermittelt.

Träger der 2014 eröffneten Krankenstation im Operndorf ist der Staat Burkina Faso. Er bezahlt das medizinische Personal, für die das Operndorf zusätzliche Fortbildungen ermöglicht. Die Planung der Krankenstation, zu der neben einer Ambulanz und einer Apotheke auch eine Zahnklinik und eine Geburtenstation gehören, wurde wissenschaftlich begleitet und entspricht dem WHO-Standard. Sie entlastet die Krankenhäuser in der Region und dient gegenwärtig 5.000 Menschen als Erstanlaufstelle. Auch sie ist baulich an die kulturellen Gepflogenheiten vor Ort angepasst, was sich in der, für uns unüblichen Aufteilung in „gesunde“ und „kranke“ Bereiche widerspiegelt. Eine architektonische Entscheidung, die berücksichtigt, dass in der Region Krankenhauspatient:innen üblicherweise von Angehörigen verköstigt werden und diese während der Behandlungsdauer vor Ort bleiben. In Planung ist gegenwärtig ein Ausbildungsprogramm für junge Frauen in der Agroforstwirtschaft. Hierbei sollen um das Operndorf herum eine Baumschule, ein Garten und Flächen für Kleintierhaltung entstehen. Ziel dieses „grünen Gürtels“, der von drei Jahrgängen bewirtschaftet werden soll, ist es, jungen Frauen aus der Region Perspektiven zu schaffen, autonom, nachhaltig und erfolgreich von Landwirtschaft leben zu können.
White man’s burden
Künstlerisches Engagement im humanitären Bereich setzt sich oft dem Vorwurf aus, politisches Engagement öffentlichkeitswirksam zu simulieren, ohne dabei die eigene privilegierte Position aufzugeben. Zweifelsohne hat die Black-Lives-Matter-Bewegung dem postkolonialen Diskurs eine erhöhte Aufmerksamkeit verschafft und der Zusammenarbeit spendenfinanzierter internationaler NGOs mit dem Kultursektor einen überfälligen Dämpfer verpasst. Tatsächlich gehörte der „Betroffenheits-White-Saviorism“ von reisenden, adoptierenden und zu Spenden aufrufenden Prominenten lange Zeit zur Standard-PR global operierender Hilfsorganisationen. So ist bis heute nicht abschätzbar, wie viele Persönlichkeitsrechte durch Fotos von weißen Wohltäter:innen mit afrikanischen Kindern in Sozialen Medien verletzt wurden. Aber ungeachtet der jeweiligen Intentionen ist individuelles humanitäres Engagement stets durch den Zwang gefährdet, möglichst schnell messbare Ergebnisse zu erzielen. Das trifft auch auf erprobte Initiativen wie z. B. Bob Geldofs „Live Aid“ zu. Sie haben enorme Mittel generiert, sind aber ebenso dem problematischen quantitativen Ansatz verpflichtet wie die regelmäßigen Selbstverpflichtungen von Geberstaaten, beliebige % ihres BNEs für die Kooperation aufzuwenden. Jene Teilprojekte im Operndorf, die klassischen Kooperationsprogrammen am nächsten kommen (z. B. die Krankenstation oder die Optimierung subsistenzwirtschaftlicher Strukturen), haben vergleichsweise kleine Zielgruppen, was zu Lasten der Effizienz geht, gleichzeitig aber die Stärkung endogener Entwicklung berücksichtigt. Die Zusammenarbeit mit regionalen Strukturen in der Bildung und Gesundheitsvorsorge, aber auch die sukzessive Übertragung von Aufgabenbereiche an burkinische Partner:innen entsprechen wiederum dem Subsidiaritätsprinzip. Hierzu gehört auch der – wiewohl andauernde – Versuch, für Spenden und Förderung notwendige Stiftungsstrukturen in Deutschland (seit 2013) durch adäquate Gremien in Burkina Faso zu ergänzen.
Sicherlich war auch Schlingensiefs Faszination für Afrika nicht frei von exotisierender Verklärung. Zugleich zwang ihn seine fortschreitende Erkrankung zu einer vorzeitigen Abgabe der Kontrolle über das Projekt. Das Operndorf kommt in nahezu all seinen finalen Werken, in TV-Interviews und in seiner Konzeption des deutschen Pavillons auf der Biennale 2011 in Venedig vor. Anders als Fitzcarraldo antizipierte er dabei die Möglichkeit des eigenen Scheiterns, am deutlichsten im 2010 in Hamburg uraufgeführten Theaterstück Remdoogo – Via Intolleranza ii, bei dem primär Bewohner:innen des Village-Opéra mitspielten. Dennoch war dies keine Produktion des burkinischen Ensembles unter einem deutschen Regisseur, sondern war als ergebnisoffener Forschungsprozess konzipiert, welcher zu ergründen versuchte warum wir ständig dem afrikanischen Kontinent helfen wollen, „obwohl wir uns selber schon lange nicht mehr helfen können“.2 Für den Biennale-Pavillon plante er ursprünglich eine Videoinstallation mit von den Bewohner:innen gemachten Fotografien und Filmen, die Schlingensiefs eigene Arbeiten überblendeten; ein inszenierter Perspektivenwechsel, den auch eine begehbare Rampe symbolisieren sollte, welche die Sicht auf ein Satellitenbild der Baustelle ermöglichen sollte.3 Auch eine Spendenaktion spielte mit unterschiedlichen Blickwinkeln auf Postkarten mit Motiven aus dem Operndorf, fotografiert von dort lebenden Kindern mit Einwegkameras. Oper erscheint hier nicht als erhaltendes, sondern als soziales Syn- und Energien schaffendes soziales Projekt, in dem sich Kunst und Leben gegenseitig beeinflussen.
„Und was für eine Oper, wenn ein neugeborenes Kind in der Entbindungsstation seinen ersten Schrei von sich gibt!“
Christoph Schlingensief, zit. n. Knistern der Zeit. Christoph Schlingensief und sein Operndorf in Afrika, D: 2012, R: Sibylle Dahrendorf, Perfect Shot Films.
Warum also Kunst und Kultur in der Kooperationspolitik? Sie ist, und da nähern wir uns Fitzcarraldo wieder an, im entwicklungspolitischen Diskurs immer noch eine Anwendung des für uns Sinnlosen. Insbesondere wenn der Fokus nicht auf der „Entdeckung“ z.B. von Musiker:innen liegt, deren Kunst unseren Vorstellungen entspricht, sondern auf der ergebnisoffenen (Heraus-) Bildung potenzieller zukünftiger künstlerischer Sprecher:innen aus jenen Teilen der Bevölkerung, denen die Teilnahme an öffentlicher Kunst und Kultur qua Herkunft und Habitus ansonsten erschwert wird, die aber gerade deswegen auch europäischen Zuschauenden einen neuartigen Einblick in ihre Lebenswirklichkeit aufzuzeigen in der Lage sind.
Das Village-Opéra finanziert sich bis heute über private Spenden und öffentliche Zuwendungen, u. a. von der Kulturstiftung des Bundes in Halle/Saale. Goethe-Institut und Auswärtiges Amt haben ihrerseits immer wieder Projekte im Operndorf gefördert. Auf diese Weise konnte ab 2015 das Artist-in-Residence-Programm oder seit 2019 das Kifife-Kinderfilmfestival verwirklicht werden. Allerdings sieht das öffentliche Zuwendungsrecht in der Bundesrepublik, wie in den meisten europäischen Ländern, keine institutionelle Förderung vor. Trotzdem hat sich das von Vielen als reines Kunstprojekt antizipierte Projekt im Lauf der Jahre als sich vergleichsweise stabil entwickelnder und ergebnisoffener Prozess offenbart, trotz zum Teil ungesicherter Finanzmittel.
Seine vergleichsweise weitreichende Autonomie verdeutlicht aber auch, wie Staaten, die EU oder zivilgesellschaftliche Initiativen in Kooperationskontexten kulturell tätig werden könnten: vor allem in einer ermöglichenden Rolle und prozessbegleitend. Allerdings würde diese Vorgehensweise implizieren, dass sich westliche Regierungen und Administrationen vom Projektgedanken in der Kooperation verabschieden und signifikant Kontrolle abgeben. Beides dürfte nicht so einfach werden. Tatsächlich sind Messbarkeit, Zielvorgaben und Reporting jene Maßstäbe, an denen sich Kooperationspolitik ausrichtet, weil sie suggerieren, dass so Risiken umgangen werden können. Bei Schlagworten wie ‚Prozesshaftigkeit‘, ‚reaktiv-kreative Entscheidungsprozesse‘ und ‚Ergebnisoffenheit‘ handelt es sich hingegen um Kategorien, die sich Wähler:innen, Haushaltsausschüssen oder Spender:innen nur schwer vermitteln lassen; insbesondere dann, wenn die öffentliche Akzeptanz auf die Autorität und den Einfluss prominenter Initiatoren – wie in diesem Beispiel Schlingensief – angewiesen wäre.
Die konzeptuelle Stärke des Operndorf-Konzepts gegenüber klassischen Projekten der Kooperationspolitik liegt aber auch darin, dass es nicht versucht, individuelles Engagement (innerhalb des deutsch-europäischen Projekts) gegen postkoloniale Kritik abzusichern. Schlingensief wusste um die eigene Rolle als weißer Nachfahre von Kolonialherren und die Unmöglichkeit, das bestehende Machtgefüge aufzulösen. Anstatt dies zu kaschieren, zu verwässern oder zu relativieren – durch „codes of conduct“ oder politische Rituale –, entschied er sich bewusst dafür, die Widersprüchlichkeit der eigenen Motivation und des eigenen Handelns auszuhalten. In diesem Zusammenhang ist auch die Verwendung der Begrifflichkeit „Afrika“ (statt z. B. Burkina Faso oder Laongo) zu lesen, nämlich als Ausdruck unserer individuellen und kollektiven Verwirrung und unserer Hilflosigkeit im Umgang mit dem afrikanischen Kontinent. Gleichzeitig eröffnet das beidseitige Unbehagen die Möglichkeit einer Begegnung in einem hybriden dritten Raum, hier der Oper, der Widersprüchlichkeit aushält und sich zugleich einer stereotypen Festschreibung kultureller Identitäten versperrt, der darüber hinaus die Verunsicherung der Beteiligten aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten aufrechterhält und auf diese Weise Kreativität und Innovationspotenzial freisetzen kann.
„Aber die Oper als Instrument oder als Idee ist eben doch etwas Interessantes. Die hat die Leute mal so erregt, dass sie sogar eine Revolution gestartet haben, 1830 in Belgien, als ,Die Stumme von Portici‘ von Eugene D’Albert aufgeführt wurde. Da sind die Leute in der Pause rausgerannt und haben Revolution gemacht. Und früher war es so, dass die Oper – man kann das sogar fast ableiten aus den vedischen Chören –, dass der Gesang in den griechischen Theatern verbunden war mit der Genesung des Menschen. Da wurden in Epidauros richtig Rezepte ausgestellt, da gab’s Ärzte, die Ihnen Theaterbesuche oder Opernbesuche verschrieben haben. Damals war Kunst und Kultur eben auch zur Heilung da, was wir vollgefressenen, europäischen Kulturkämpfer natürlich völlig verlernt haben.“
Christoph Schlingensief, Ich weiß ich war’s, hg. v. Aino Laberenz, Köln, KiWi, 2012, S. 221.
Jean-Paul Muller (Berlin) forscht zu kulturpolitischen Fragestellungen im postnationalen Kontext.
1 Christoph Schlingensief, zit. n. Deutschlandsuche ’99. 2. Internationaler Kameradschaftsabend, Tourneetheater, unter: www.schlingensief.com/projekt.php?id=t031 (letzter Aufruf: 18. Januar 2022).
2 Ders., Via Intolleranza ii (2010). Reg.: ders., Aut.: ders., Kampnagel, Hamburg, Premiere: 15. Mai 2010.
3 Vgl. Carl Hegemann, „Ger/Ego-mania. Art and Non-Art in the Work of Christoph Schlingensief“, in: Susanne Gaensheimer (Hg.), Christoph Schlingensief. German Pavillon. 54th International Art Exhibition La Biennale, Berlin, Sternberg Press, 2011, S. 206; 197-207.
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