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Macrons Atomkraft: Überlebenskampf statt Renaissance?
Die Atomenergie ist in Frankreich ein untrennbarer Teil des nationalen Mythos der grandeur und der souveraineté nationale, und das sowohl in Bezug auf die zivile als auch auf die militärische Nutzung. Bei Macrons „Renaissance“-Ankündigungen geht es deshalb auch um Nationalismus, um Macht und – kurz vor den Präsidentschaftswahlen im April und den Parlamentswahlen im Juni – um Strategie und Wahlversprechen. Den nackten Zahlen nach ist es aber eher ein verzweifeltes Aufbäumen einer Industrie im Überlebenskampf als ein Beitrag zur Klimarettung.
Falls Sie Macrons Wahlkampfshow verpasst haben: Der Noch-Präsident hat angekündigt, sechs neue EPR-2-Reaktoren in Auftrag zu geben und den Bau von acht weiteren prüfen zu lassen. Der Baubeginn des ersten Exemplars soll „um“ 2028 und die Netzanschlüsse zwischen 2035 und 2045 stattfinden. Die sechs ersten EPR-2 sollen dabei als Zwillingspaare in drei bestehenden Zentralen gebaut werden, wobei hier momentan noch vier Orte im Gespräch sind: Bugey zwischen Lyon und Genf, Tricastin im Rhône Tal sowie Penly und Gravelines am Ärmelkanal. Wegen der sehr langen Vorlaufzeit will Macron zudem die bestehenden Atomkraftwerke auf 50 Jahre und mehr verlängern, was aber ebenfalls bereits seit über fünf Jahren seitens EDF und der Atomaufsicht ASN in Vorbereitung ist. Und auch die Entwicklung von neuartigen Mini-AKWs oder SMR (Small Modular Reactors) war bereits angekündigt worden. Soweit die Zahlen und Ankündigungen rund um dieses atomare Wahlkampfversprechen.
Zur Umsetzung braucht es allerdings die Zustimmung der Assemblée nationale und des Sénat bzw. eine Gesetzesänderung. Mit einem anderen Präsidenten oder einer cohabitation – d. h., wenn die Parlamentswahlen eine andere Mehrheit ergäben – würde sich das Bild wieder ändern. Allerdings überbieten sich momentan sämtliche mitte-rechts bis stramm rechte Präsidentschaftsanwärter in puncto Pro-Atomstrategie, während die Kandidaten des linken Lagers die Atomabhängigkeit ihres Landes reduzieren oder ganz aussteigen möchten und stärker auf erneuerbaren Energien setzen – mit Ausnahme der Kommunisten.
Das Ende des Tout nucléaire
Vor elf Jahren brachte die Atomkatastrophe von Fukushima, im Hochtechnologieland Japan, auch das offizielle Ende der bisherigen französischen Politik des Tout nucléaire mit sich. Mit dem Wahlsieg François Hollandes 2012 und seinem Abkommen mit den Grünen hieß das neue Ziel: Reduzierung der Atomstromabhängigkeit von 75 % auf 50 % des Verbrauchs bis 2025, Schließung von 24 der 58 Reaktoren, angefangen mit den beiden ältesten Reaktoren (Fessenheim), Vorantreiben der Reaktoren der 3. Generation mit einem ersten „EPR“ (ursprünglich European Pressurised Reactor, heute Evolutionary Power Reactor) in Flamanville und das Ende der problematischen MOX-Technologie (Uran-Mischoxid Brennstäbe mit hochradioaktivem Plutonium).
Das MOX-Versprechen überlebte allerdings nicht einmal die Wahlen, da Hollande nach seinem Sieg diese Zusicherung an die Grünen sofort wieder einkassierte. Kein Teil des Abkommens, aber dennoch beendigt wurde der 2009 von Präsident Sarkozy beschlossene zweite EPR-Reaktor in Penly. Das 50 %-Reduktionsziel bis 2025 hatte seither Bestand, wurde 2015 per Gesetz festgeschrieben und auch unter Macron weiter verfolgt – wenn auch um zehn Jahre verlängert –, und die Atomzentrale von Fessenheim wurde ihrerseits 2020 stillgelegt. Weitere Schließungen werden unzweifelhaft folgen – wenn auch nicht aus gesetzlichen Gründen, so doch aus Alters- und Kostengründen. Die technischen und finanziellen Probleme der Atomindustrie sind nicht nur in Frankreich, sondern auch in den anderen Atomstaaten so gewaltig, dass der langfristige Niedergang dieser Industriebranche kaum abgewendet werden kann.
An diesem Niedergang ändern auch Macrons neue Wahlversprechen nichts. Wenn man nämlich genau hinschaut, bedeuten seine Zahlen de facto das endgültige Ende des Tout nucléaire in Frankreich: Ein einziger zusätzlicher neuer EPR-2-Reaktor soll in den kommenden 13 Jahren ans Netz gehen bzw. sechs Exemplare binnen 23 Jahren. Eine Renaissance sieht anders aus! Bis 2045 werden aber insbesondere die Reaktoren der 1970er Jahre nicht alle weiterlaufen können. Sogar Cattenom-1 (1986) wäre dann bereits 60 Jahre alt! Macrons Ankündigung zeugt deshalb, abgesehen von seiner Wahlkampfstrategie, viel eher vom verzweifelten Aufbäumen einer Industrie im Überlebenskampf, welche die globale Klima- und CO2-Problematik als eine letzte gute Chance sieht und diese auch seit drei bis vier Jahren mit aller Kraft und riesigen Lobby- und Marketing-Budgets recht intelligent nutzt.

Die nackten Zahlen des Niedergangs
Jenseits von Marketing und Lobbying sieht die atomare Klimarettung allerdings eher nach einem Trickbetrüger-Schema aus. Natürlich ist Atomstrom CO2-arm, doch einen signifikanten Beitrag zum weltweiten Klimaschutz, geschweige denn die versprochene Rettung kann die Atomindustrie in der Praxis gar nicht liefern – und das weiß sie auch. Die aktuell weit über 400 Atomreaktoren liefern lediglich 4 % des weltweiten Primärenergieverbrauchs und 10 % der Elektrizität, aber ihr Durchschnittsalter beträgt bereits 31 Jahre. Bevor die Atomenergie überhaupt eine größere Energieproduktionsrolle spielen könnte, müsste der rapide alternde Reaktorbestand zuerst einmal ersetzt werden. Doch davon kann keine Rede sein, denn dann müssten bereits jetzt viel mehr Reaktoren fertig oder im Bau sein. Doch neue Reaktoren rechnen sich wirtschaftlich nicht mehr und werden immer teurer.
Was viele nicht wissen: Über die gesamte Atom-Ära betrachtet – d. h. seit den 50er Jahren – wurde jeder achte Reaktor schon stillgelegt, bevor er überhaupt Strom produzierte. Die größte Anzahl an aktiven Reaktoren gab es global vor 20 Jahren (2002), und das beste Jahr in puncto Stromanteil liegt schon 26 Jahre zurück (1996). Wegen ihrer komplexen und unlösbaren Probleme konnte die Atomkraft auch über sechs Jahrzehnte hinweg nie zu einer globalen Alternative werden und spielt auch heute in vier Fünftel aller Staaten keine Rolle.
Deshalb erinnern die aktuelle Berichterstattung und der globale Atomkraft-Diskurs unweigerlich an den letzten atomaren Hype: Auch in den 60er Jahren glaubte man an eine „saubere und sichere Atomkraft“, die schnell alle Energieprobleme der Menschheit lösen sollte; und nach den Ölpreisschocks der 70er Jahre erschien die Atomkraft sogar vielen als die einzige Lösung. Dass dies weder damals noch heute der Fall war oder ist, müsste jedem klar sein; ebenso wie die seit 60 Jahren unveränderten Probleme, Gefahren und Nachteile: die Unfallrisiken mit auf Jahrzehnte verseuchten Landstrichen, die Müllproblematik als „ewige“ Erbschaft an die Bürger und Steuerzahler, das Atomwaffen-Proliferationsrisiko, der dreckige Uran-Abbau und schließlich die Tatsache, dass Atomenergie kommerziell nicht versicherbar und ohne Subventionen auch nach 60 Jahren noch immer wirtschaftlich unrentabel ist – im Gengensatz zu den erneuerbaren Energien.
Auch müssen AKWs als potenziell terroristische und militärische Angriffsziele gelten und von den betroffenen Staaten mit großem Aufwand – inklusive militärischer Geheimhaltung – vor Eindringlingen, Sabotage, Drohnen, Flugzeugen (Stichwort 9/11) usw. geschützt werden – auf Kosten der Steuerzahler.
Es geht nicht ums Klima, sondern um Macht
Präsident Macron und der Atomlobby geht es nicht ums Klima, es geht ums Überleben der zivilen und militärischen Atomindustrie Frankreichs, mit allem was daran hängt, wie z. B. Atombomben und -raketen, Atom-U-Booten, Atom-Flugzeugträgern und – extrem wichtig – die Stellung der Grande Nation als globale Grande puissance.
Die militärische Dimension wird oft vergessen oder bewusst verklärt, dabei sind beide Dimensionen untrennbar miteinander verbunden. Macron gibt dies auch offen zu. Im Dezember 2020 erklärte er der Belegschaft eines Reaktorschmiedewerks in der Bourgogne, dass es „sans nucléaire civil, pas de nucléaire militaire et sans nucléaire militaire, pas de nucléaire civil“ geben würde, um eine Minute später den Bau eines atomar angetriebenen Flugzeugträgers anzukündigen. Zudem betonte er explizit, dass „notre avenir stratégique, notre statut de grande puissance passe (…) par la filière nucléaire, la dissuasion, les sous-marins, notre porte-avions, tout ce qui fait que la France est une puissance indépendante, écoutée, respectée“.[1]
In diesen realpolitischen Kontext passen auch die gehypten Minireaktoren, die als – so die Hoffnung – zukünftiger Exportschlager zwar nicht das Klima, aber zumindest die zivile und militärische Atomindustrie retten sollen. Es ist kein Zufall, wenn die Hauptakteure des französischen SMR Projekts NUWARD auch Militärtechnologie entwickeln und etwa den Antrieb des erwähnten Flugzeugträgers liefern sollen. Schließlich dienen Minireaktoren bereits seit Jahrzehnten einigen wenigen Ländern als sündhaft teure Motoren für atomgetriebene U-Boote, Flugzeugträger oder Eisbrecher.
Dass Macrons oberste Priorität die Rettung der Atomindustrie ist und nicht die Rettung des Klimas, belegt auch die Tatsache, dass Frankreich als einziger von 27 EU-Mitgliedstaaten seine auf erneuerbare Energien bezogenen EU-Ziele für 2020 verfehlt hat. Und noch deutlicher wird dies durch die Tatsache, dass Ende 2020 nur eine einzige traurige Offshore-Windkraftanlage vor den französischen Küsten stand, obwohl Frankreich rund 19.000 km Küstenlinie hat. Zum besseren Vergleich: In belgischen Gewässern standen zum gleichen Zeitpunkt 399 Offshore-Anlagen, in den Niederlanden 537 und im ebenfalls atomaren Vereinigten Königreich – dem Offshore-Weltmeister – sogar 2.294.
Zu langsam, zu teuer, zu gefährlich …
Die Atomkraft ist eine der wenigen Technologien, die ihre Kosten nicht senken konnte. Im Gegenteil, mit jeder neuen AKW-Generation steigen die Entwicklungs-, die Bau- und die Betriebskosten. Die durchschnittliche Bauzeit eines neuen Reaktors liegt bei gut 10 Jahren und in Europa noch länger. So soll der erste EPR-Reaktor in Europa rund 20 Jahre nach der Bauentscheidung ab März 2022 schließlich Strom ins finnische Netz liefern. Der französische EPR-Reaktor in Flamanville befindet sich seit 15 Jahren im Bau, und der Start wurde gerade um ein weiteres Jahr verschoben. Der französische Rechnungshof geht davon aus, dass dieser Ex-Vorzeigereaktor am Ende über 19 Mrd. Euro kosten wird und eine wirtschaftliche Stromproduktion damit nicht mehr möglich ist. Für die beiden britischen EPRs in Hinkley Point C musste die britische Regierung den Bauherren sehr hohe garantierte und indexierte Stromabnahmepreise über 35 Jahre (!) garantieren, d. h. eine höhere und viel längere Preisgarantie als für erneuerbare Energien – sonst hätte niemand die Reaktoren gebaut! Deshalb will Frankreich dieses EPR-Fiasko nun möglichst schnell durch einen „noch besseren“ EPR-2-Reaktortyp vergessen machen.
Die Atomkraft kann auf Basis der Fakten in den nächsten 30 Jahren keine Klima-Hilfe sein – dafür ist sie zu teuer, zu langsam und zu gefährlich. Jeder, der das Gegenteil behauptet, ignoriert die Fakten und „hofft“ lediglich darauf, dass AKWs in Zukunft schneller gebaut würden, billig und sicher würden und sich für das Müllproblem nach 70 Jahren Atommüllproduktion endlich eine gangbare Lösung finden würde. In der realen Welt ist Atomenergie aber nicht nur eine Hochrisikotechnologie und ein Nischenplayer, sondern auch volkswirtschaftlicher Unsinn, viel zu langsam umsetzbar, zu kapitalintensiv und auf dem freien Markt nicht versicherbar. Sie verschlingt bzw. bindet damit dringend benötigtes Finanzkapital, Rohstoffe und Ressourcen, Wissenschaftler, Ingenieure, Handwerker, Arbeitsstunden, Forschungsgelder usw., die alle wesentlich besser in den Ausbau der erneuerbaren Energien, in Energieeffizienzmaßnahmen sowie in intelligente Netzinfrastruktur und Speichertechnologien investiert wären.
… und nicht so CO2-arm wie behauptet.
Atomstrom ist vergleichsweise CO2-arm, aber keinesfalls CO2-neutral. Die Spannweite der CO2-Berechnungen für Atomstrom geht in der wissenschaftlichen Literatur sehr weit auseinander. Viele Analysen mit niedrigen Werten kommen vonseiten der AKW-Befürworter und teilweise sogar von Betreibern, doch vor allem sind viele diesbezügliche Papiere und Studien nicht auf den üblichen Publikationskanälen mit Peer-Review veröffentlicht worden. Als Referenz werden deshalb oft die IPCC Angaben von 2014 zitiert, laut denen die Treibhausgasemissionen von Atomkraftwerken über den gesamten Lebenszyklus im Bereich von 3,7 bis 110 Gramm CO2-Äquivalenten pro Kilowattstunde liegen. Die Franzosen promoten ihre Atomindustrie mit einem CO2-Wert von lediglich 6 g, die Internationale Atomenergieagentur (IAEA) geht von einem Durchschnittswert von 14,9 g CO2-Äquivalente/kWh aus, während etwa Wissenschaftler wie z. B. Mark Jacobson, Direktor des Atmosphere and Energy Programs an der Stanford University, für heutige – neue – Reaktoren von einer bereits viel höheren Spannweite von 78 bis 178 Gramm CO2/kWh ausgehen; also sehr weit weg von 6 Gramm CO2 und auch deutlich höher als sämtliche modernen erneuerbaren Energien wie Windkraft, Solarenergie, Wasserkraft, Geothermie und Biomasse. Atomenergie bleibt deshalb ein teurer und gefährlicher Irrweg – auch im Klimaschutz.
Dan Michels engagiert sich seit der Gründung im März 2011 als einer der Koordinatoren des Nationalen Aktionskomitees gegen Atomkraft, vertritt das Aktionskomitee in der Commission locale d’information des Atomkraftwerks Cattenom und hat als parlamentarischer Mitarbeiter von déi gréng auch beruflich mit dem Thema zu tun.
[1] https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2020/12/08/deplacement-du-president-emmanuel-macron-sur-le-site-industriel-de-framatome (letzter Aufruf: 17. Februar 2022)
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