Der Krieg, der die Weltordnung auf den Kopf stellt

Donnerstag, den 24. Februar 2022, ca. fünf Uhr morgens. In der Entfernung sind Explosionen zu vernehmen. Wir wachen auf. Wir rätseln, was das hätte gewesen sein können. Wir schauen aus den Fenstern, können jedoch nichts Auffälliges erkennen. Wir nehmen unsere Laptops und Mobiltelefone zur Hand und versuchen, dort die Ursache der Explosionsgeräusche zu erfahren. Keine Meldungen hierzu. Jeder von uns packt einen kleinen Koffer mit den nötigsten Dingen. Für alle Fälle. Schließlich haben wir Putins Rede gehört und wissen, dass Russland der Ukraine de facto den Krieg erklärt hat. Putins Worte waren unmissverständlich. Wer hören wollte, konnte hören … und verstehen.

Surrealismus im Kiewer Supermarkt …

Im Wohnblock, in dem wir leben, gibt es im Erdgeschoß einen kleinen Supermarkt, einen Discounter. Ich wollte bloß ein Brot kaufen, stand aber vor verschlossener Tür, obwohl ich Menschen im Geschäft sehen konnte und Kassiererinnen, die eifrig die Waren der Kunden scannten.

Der Wachmann sah mich und ließ mich dann durch die andere Tür ein. Der Laden war voll. Die Schlangen an den drei Kassen (es ist halt ein kleiner Discounter), reichten fast bis ans Ende des Ladens. Und dennoch tätigte niemand große Hamstereinkäufe. Der eine oder andere kaufte vielleicht ein wenig mehr als üblich, aber es hielt sich in Grenzen. Bei den Kunden war keinerlei Hektik zu spüren, schon gar keine Panik. Viele unterhielten sich in einem gelösten Tonfall, ab und an hörte man ein Lachen. Eine ältere Dame, deren Platz ich in der Schlange freihielt, bedankte sich freundlich und sagte mir mit einem großen Lächeln auf Ukrainisch: „Alles wird gut“. Vor mir in der Schlange scherzten zwei ältere Kundinnen, man sollte jetzt wohl das nötigste kaufen – Salz und Streichhölzer – woraufhin beide lachten.

Vor dem Hintergrund, dass heute früh Raketen auf Kiew abgefeuert wurden, herrschte eine erstaunliche Gelassenheit. Anscheinend wurden 10 Raketen auf Kiew abgefeuert, die vom ukrainischen Militär abgewehrt wurden. Das zumindest wurde von einer offiziellen staatlichen Stelle gemeldet. Hier die Meldung übersetzt: „Die Streitkräfte entschuldigen sich bei den Einwohnern von Kiew für den morgendlichen Lärm, sie haben nur feindliche Raketen mit Drohnen abgeschossen, und am Morgen wurden etwa 10 Raketen und 3 Drohnen zerstört.“ – Surrealismus pur.

Stets auf alles gefasst

Im Laufe desselben Tages warnte der Kiewer Bürgermeister vor möglichem Fliegeralarm. Wir sollten uns bereithalten und wenn die Sirenen losheulen, die vorgesehenen Schutzräume aufsuchen. Jeder aus unserem 3-Personen-Haushalt packte einen kleinen Rucksack mit dem Nötigsten; wir machten uns zum angegebenen Ort auf. Erstens, um zu wissen, wo sich dieser Raum genau befindet, zweitens, um die Zeit zu messen, wie lange wir bis dorthin benötigen.

Dazu haben wir statt des Aufzuges das Treppenhaus benutzt. Denn sollte in einer solchen Situation der Strom ausfallen, würde kein Aufzug funktionieren. Also 8 Stockwerke Treppen runter, den Fußmarsch zum Schutzraum angetreten, gefunden. Knapp 10 Minuten. Einige wenige andere Bürger hatten denselben Gedanken, sodass in etwa ein Dutzend Menschen vor dem kleinen zweistöckigen Gebäude standen. Dort sagte uns eine zuständige Person, der Raum würde maximal 150 Personen aufnehmen können. Und, sollte es zum Fliegeralarm kommen, ausschließlich Mütter mit Kindern eingelassen würden. Wir würden dort also keine Zuflucht finden. Einige tausend Menschen leben hier im näheren Umkreis. Die meisten Mütter und Kinder könnten demnach nicht dort aufgenommen werden.

Man muss wissen, dass Keller in ukrainischen Gebäuden äußerst selten Gemeinschaftsräume sind. Es sind eher Technikräume für Gas-, Strom- und andere Leitungen. Wir wissen nicht, wie groß der Keller in unserem Gebäude ist. Und ob überhaupt alle Bewohner dort Unterschlupf finden könnten. Dieses 16-stöckige Gebäude hat 120 Wohnungen. Zudem: Der Zugang zum Keller ist immer verschlossen. Im Falle eines Angriffes müsste jemand kommen, um die Tür aufzuschließen. Hoffentlich ist dafür Sorge getragen.

Nach dem Gang zum Schutzraum, der uns keinen Schutz bieten wird, nochmals schnell in einen anderen Supermarkt, zum Brot kaufen. Der Laden war nicht übermäßig besucht, niemand machte Hamstereinkäufe, die Regale waren noch überwiegend mit Waren befüllt. Nur das Brot war alle, aber direkt im Laden wurde frisches gebacken. Knapp fünf Minuten Fußweg nach Hause. Keine Hektik auf den Straßen. Die Menschen verhielten sich, als würde nichts passieren. Keine Panik.

Die Meldungen überschlagen sich: Tschernobyl soll von russischen Soldaten eingenommen worden, die Landebahnen der Flughäfen zerstört worden sein. Der Lemberger Flughafen, der bis dahin einzige noch intakte Flughafen in der Ukraine, sollte ebenfalls angegriffen werden.

Am Abend bringen wir transparentes Klebeband an den Wohnzimmerfenster an. Dies könnte einen möglichen Splitterflug etwas eindämmen, sollten die Fensterscheiben durch Einschläge in der Nähe bersten.

Die Nacht bricht an. Die Dunkelheit lässt die Explosionen, die wir aus der Entfernung hören, bedrohlicher wirken. Wir bleiben soweit möglich gelassen, die Beunruhigung wächst dennoch von Stunde zu Stunde. Vor Erschöpfung schlafe ich auf dem Sofa irgendwo gegen 23 Uhr kurz ein. Den ganzen Tag über habe ich Anrufe von Journalisten und Menschen, die sich Sorgen um die Entwicklung in der Ukraine machen und fragen, wie es uns geht, geführt. Zudem unzählige schriftliche Fragen nach unserem Befinden.

Am Morgen erhielt ich einen Anruf unseres Außenministers Jean Asselborn, der gerade auf dem Weg zur Chambre war und sich größte Sorgen um uns macht. Wie man auch in seiner offiziellen Stellungnahme feststellen konnte, ist er entsetzt über die Geschehnisse. Auch unserem Premier Xavier Bettel sah man den Schrecken und das Entsetzen während seiner offiziellen Stellungnahme deutlich an. Es ist begründet.

Ja, wir sind weiter in Kiew. Am Vorabend ließ uns die belgische Botschaft per E-Mail mitteilen, wir sollten uns umgehend Richtung Lemberg (Lviv) aufmachen. Das war uns einerseits nicht möglich, da wir über kein Fahrzeug verfügen. Andererseits war der Gedanke, nachts durch die Ukraine zu fahren, wenn offensichtlich bereits russische Soldaten im Land unterwegs sind, verunsichernd.

Am folgenden Morgen erhielt ich dann eine SMS-Benachrichtigung der Belgischen Botschaft, in der es nun hieß, wir sollten in unseren Wohnungen bleiben und auf neue Anweisungen warten. Ein ganzer Tag ist vergangen. (Es ist nun morgens, der 25. Februar. Keine weitere Nachrichten seitens der belgischen Botschaft. Offensichtlich sind alle überfordert. Niemand weiß, niemand kann wissen, was jetzt zu tun wäre.) In der Tat dürfte es in Kiew zurzeit sicherer sein als auf den Straßen außerhalb der Stadt. Mehrere Vorfälle wurden gemeldet, bei denen russische Panzer vor der Stadt gestoppt worden sind und russische Soldaten festgesetzt wurden.

Ein neuer Tag bricht an

Freitag, 25. Februar. Es ist noch Nacht. Um 4:20 Uhr werden wir von einer Explosion geweckt. Im Kiewer Gebiet Posnjaki wurde anscheinend eine russische Rakete oder Drohne von der ukrainischen Streitmacht abgewehrt. Dabei sollen Teile in ein Wohnhaus gestürzt sein. Ein Feuer, das sich über sechs Stockwerke des Gebäudes ausbreitete, soll ausgebrochen sein. Von unserem Schlafzimmer aus konnte man in der Entfernung eine rötliche Beleuchtung des Nachthimmels erkennen, die wohl durch den Brand verursacht wurde. Es werden einige Schwerverletzte gemeldet. Ob es Tote gab, weiß ich zum jetzigen Zeitpunkt, in dem ich diese Zeilen schreibe, nicht.

Der Versuch, noch ein wenig zu schlafen, schlug fehl. Ein Halbschlaf bis ca. Viertel nach sieben, dann aufgestanden, den Computer angeworfen und nach aktuellen Nachrichten gesucht. Gegen drei Uhr dieses Tages sollte ein russischer Großangriff auf Kiew stattfinden. In der Kurzmeldung ging leider nicht deutlich hervor, ob 3 Uhr morgens oder 15 Uhr nachmittags. Wenn am Nachmittag, dann steht uns das noch bevor.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba twitterte heute früh: „Schreckliche russische Raketenangriffe auf Kiew. Das letzte Mal, dass unsere Hauptstadt so etwas erlebt hat, war 1941, als sie von Nazi-Deutschland angegriffen wurde.“ Er fügte an: „Die Ukraine hat dieses Übel besiegt und wird dieses besiegen.“ Seinen Optimismus zu teilen, fällt mir im Moment schwer.

Diplomatische Fehler der Vergangenheit

Was wir spätestens seit 2014 erleben ist Diplomatie um der Diplomatie willen. Diplomatie kann bloß zielführend sein, wenn beide Seiten, also Ost und West, dieselben Interessen verfolgen. Und genau das ist nicht der Fall. Wer Putins Reden und schriftliche Statements der letzten Jahre zur Kenntnis genommen hat, dazu die tägliche Hetze und der Hass in den russischen Staatsmedien gegen die EU, Nato, Ukraine, USA, die die russischen Bürger zu den besten Sendezeiten frei Haus in ihre Wohnzimmer geliefert bekommen, muss wissen, dass Putins Interessen denen der westlichen Welt diametral gegenüberstehen.

Der Westen möchte Frieden. Putin möchte seine Hegemonialmacht ausdehnen. Vor allem möchte er sich selbst und seinen unermesslichen Reichtum schützen. Er weiß, sollte er die Macht in Russland verlieren, riskiert er damit den Verlust eines großen Teils seines Reichtums, und eventuell sein Leben. Er tut also alles, um seine eigene Haut zu retten. Die Bürger seines eigenen Landes nimmt er in Geiselhaft, die Bürger anderer Länder sind ihm schlicht egal.

Wer die russischen Medien, das Staatsfernsehen vor allem, verfolgt, muss wissen, wie Putin tickt. Im russischen Staats-TV sind Sätze wie der folgende zu hören: „Eine Welt ohne Russland braucht Russland nicht. Und dann verwandelt sich nicht nur Amerika in radioaktive Asche, sondern auch Europa – als Reaktion auf die Aggression.“ Mit solchen Sprüchen werden russische Bürger seit langer Zeit täglich von ihren Staatsmedien gefüttert. Dieser Fatalismus lässt nichts Gutes ahnen. Wir erleben die Ausführung dieser Worte jetzt live.

Die kollektive Lernresistenz des Westens ist erschreckend. Obwohl die westliche Handlungsunfähigkeit die heutige zugespitzte Situation erst ermöglichte, sieht man die außenpolitischen Fehler der letzten Jahre nicht ein. Stattdessen rühmt man sich lieber mit dem Minsker Abkommen, das de facto ein prorussisches Dokument ist. Ein Aggressor wurde damit belohnt, dass er Konditionen setzen durfte für den Osten der Ukraine, statt dass man beherzt auf die völkerrechtswidrigen Aktionen Russlands hingewiesen und eine sofortige Umkehr gefordert hätte. Schließlich weiß man heute, dass wie auf der Krim auch im Donbass grüne Männchen, Wagner-Soldaten, unterwegs waren, die die Vorarbeit für die Übernahme der Region durch russische Militärs und KGB-Leute leisteten. Man muss davon ausgehen, dass die jetzigen Angriffe in der gesamten Ukraine ebenfalls zu einem großen Teil von Wagner-Soldaten vorbereitet wurde.

Der Westen hat nicht bloß falsch reagiert, er hat überhaupt nicht reagiert. Und nein, Gespräche auf Augenhöhe mit Putin führen zu wollen, sind keine Reaktion. Es ist eine Kapitulation vor einem skrupellosen Politiker, der stets in seiner KGB-Welt verblieben ist. Sein engster Zirkel besteht aus Ex-KGB-Leuten. Und einer der größten Unterstützer Putins, der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche Kyrill, war ebenfalls ein KGB-Mann. Es passt, dass er die russische Streitmacht am Tag des Angriffes auf die Ukraine segnete, zum Schutze Russlands.

Während ich diese Zeilen schreibe an diesem frühen Morgen des 25. Februars 2022 höre ich immer wieder Explosionen. Von meinem Wohnzimmerfenster aus, das mir einen weiten Blick von der linken Seite des Dnepr auf die rechte Seite des Flusses erlaubt, sehe ich (noch) keine Zerstörungen. Das Zentrum Kiews scheint noch intakt. Ebenso die Mutter-Heimat-Statue, das Wahrzeichen Kiews. Auch die Beleuchtungsmaste des Fußballstadions von Dynamo Kiew stehen noch. Keine Verwüstungen zu sehen. Und dennoch gibt es bereits viel Verwüstung, wie auf den Aufnahmen zu sehen ist, die gerade um die Welt gehen.

Das berühmte Höhlenkloster Lawra, das ich ebenfalls von meinem Fenster aus sehe, wird wohl kaum in Mitleidenschaft gezogen werden, gehört es doch der russisch-orthodoxen Kirche, die eine Fehde mit der ukrainisch-orthodoxen Kirche ausfechtet. Dieser Krieg ist auch ein Religionskrieg. Die furchtbare Vorstellung hier ist: Putin wird nach einem militärischen Erfolg in der Ukraine in ebendiesem Kloster zum „Zaren“ der Ukraine gekürt. Sein Ziel ist es, die Herrschaft über die gesamte Ukraine zu erlangen.

Der Westen hält sich immer noch zurück, die Ukraine zu unterstützen, zum Beispiel mit Lieferungen von Verteidigungswaffen. Viele EU-Politikern scheinen sich immer noch nicht zu gegenwärtigen, dass in diesem Moment in der Ukraine das Schicksal der EU, unserer Demokratie, unserer Sicherheitsarchitektur, auf dem Spiel steht. Geht die Ukraine unter, wird die EU, wie wir sie jetzt noch kennen, bald Geschichte sein. Mit erheblichen Folgen für die gesamte Weltordnung.

Derweil wir hier weiter Explosionen vernehmen…

 

 

* Daniel Porcedda ist Luxemburger Staatsbürger, Jurist und als Unternehmensberater in der Ukraine tätig. Er lebt seit 23 Jahren in der Ukraine, hat in Kiew 2004 die Orange Revolution sowie 2013/2014 die sogenannte Revolution der Würde aktiv miterlebt. Porcedda veröffentlichte bereits mehrere Beiträge in der luxemburgische Presse und ist Autor beim humanistischen Pressedienst (HPD).

Karikatur © Carlo Schmitz

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