Adieu, Front Républicain!

Die Präsidentschaftswahlen von 2017 wiederholen sich, nur „in schlimmer“: Wieder werden sich Emmanuel Macron und Marine Le Pen in der Stichwahl gegenüberstehen. Dieses Jahr verbessern sich die Gewinnchancen der rechtsradikalen Kandidatin aber wesentlich, denn viele französische Bürger*innen sind wahlmüde.

Käseplatten und Champagner. Eins muss man dem Rassemblement National lassen: Das Catering für Journalist*innen übertrifft alles, was die anderen Parteien kulinarisch zu bieten haben. Und dennoch ist die Stimmung an Marine Le Pens Wahlabend am 10. April für uns Medienschaffende angespannt. Darf ich mir ein Stück Roquefort-Käse abschneiden, wenn doch der Magen knurrt? Oder ist das moralisch verwerflich? Es sind ja trotzdem alles Rechtsextremist*innen hier.

Über die letzten fünf Jahre hat Marine Le Pen in ihrer Partei eine rigorose Entradikalisierungsstrategie durchgesetzt, um ihr Image zu verschönern. Viel dazu beigetragen hat die Kandidatur des ehemaligen Essayisten Éric Zemmour. Während Journalist*innen und Aktivist*innen bei seinen Wahltreffen angepöbelt und verprügelt werden, inszeniert sich Marine Le Pen als die salonfähige Alternative aus der braunen Ecke. Nichtsdestotrotz bleibt ihr Wahlprogramm fundamental europaskeptisch und ausländerfeindlich.

Einige Wähler*innen konnte die Kandidatin des Rassemblement Nationals mit ihren neuen Formulierungen überzeugen. Knapp die Hälfte aller Franzosen lehnen sie jedoch komplett ab.

Um der Rechtsextremistin den Weg in die zweite Wahlrunde zu versperren, bemühte sich das linke Spektrum wenige Tage vor der ersten Wahlrunde darum, den Kandidaten Jean-Luc Mélenchon als einzig wahren Präsidentschaftsanwärter des linken Spektrums darzustellen, da er auch der Einzige war, der den Umfragen zufolge reale Chancen auf den zweiten Wahlgang hatte. Viele renommierte Schriftsteller*innen, Aktivist*innen und Politiker*innen, darunter Ségolène Royale und Christiane Taubira, riefen dazu auf, den Kandidaten der linkspopulistischen France Insoumise zu wählen. Den Einzug in die Stichwahl verpasste der 70-Jährige um anderthalb Prozentpunkte.

Die Frustration im linken Spektrum ist groß. Seit einem Jahr bemühten sich die Sozialist*innen, die Grünen und die Linkspopulist*innen, gemeinsam eine Kandidatin oder einen Kandidaten zu designieren, die oder der das gesamte „peuple de gauche“ repräsentieren könne – und scheiterten dabei kläglich. Zu groß war das Ego der jeweiligen Kandidat*innen, vor allem das des Grünen Yannick Jadot und das der Sozialistin Anne Hidalgo, deren proeuropäische, sozial-ökologische Wahlprogramme sich überwiegend glichen. Doch auch Jean-Luc Mélenchon hat Verhandlungen über ein Bündnis aller linker Parteien für die Präsidentschaftswahlen von Anfang an ausgeschlossen. Er behauptete stets, man müsse bloß seiner Bewegung Union Populaire beitreten.

Trotz Mélenchons Starrköpfigkeit richtet sich der Hass des linken Spektrums überwiegend gegen die grüne Partei Europe Écologie Les Verts (EELV). Yannick Jadot wollte seine Kandidatur bis zum Schluss nicht aufgeben. Politisch hätte solch ein Rücktritt zugunsten der France Insoumise kaum Sinn ergeben, da sich beide Amtsanwärter bezüglich ihrer EU-Politik tiefgreifend unterscheiden. Trotzdem prangte am Montagmorgen das Wort „Traîtres“ auf dem EELV-Parteisitz in Nantes, welches ein*e Demonstrant*in nach Verkündung der Wahlergebnisse auf die Fenster gesprüht haben muss.

Die Entrüstung bei den rund 7,6 Millionen Wähler*innen von Jean-Luc Mélenchon ist groß. Das Rampenlicht wird in den zwei kommenden Wochen auf sie gerichtet sein, denn nur mithilfe einer linken Wählerschaft kann Präsident Emmanuel Macron Marine Le Pen in der Stichwahl schlagen.

Nachdem 2017 der Kandidat der France Insoumise seine Wählerschaft nicht klar dazu aufgerufen hatte, wen sie in der Stichwahl wählen sollten, positionierte er sich Sonntagabend deutlicher. „Ich will, dass keine einzige Stimme an Marine Le Pen geht“, wiederholte er in seiner Abschlussrede direkt dreimal.

© Carlo Schmitz

Die Aussage mag auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen, doch obwohl Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon politische Gegenpole sind, vereint sie ein Grundgedanke: Beide haben ihren Wahlkampf stark gegen Emmanuel Macron ausgerichtet. Der letzten Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Ipsos zufolge werden sich 36 Prozent von Mélenchons Wählerschaft bei der Stichwahl enthalten, 34 Prozent werden am 24. April für Emmanuel Macron stimmen und 30 Prozent für Marine Le Pen. Mélenchon und Le Pen wollen beide das Rentenalter von 62 auf 60 Jahre heruntersetzen, Emmanuel Macron will es auf 65 Jahre hochsetzen. Ein*e Wähler*in, die*der gegen die Rentenreform, gegen die NATO oder gegen die partielle Impfpflicht ist, wird wahrscheinlich für Marine Le Pen stimmen. Der linke Politiker kann so oft wiederholen, wie er mag, dass ein Sieg Marine Le Pens katastrophale Folgen für Frankreich haben werde, sie wird seine Wähler*innen dennoch mit offenen Armen empfangen.

Das wäre auch einer der Hauptunterschiede zwischen der Präsidentschaftswahl heute und der vor fünf Jahren: Nachdem Jean-Marie Le Pen schon 2002 und Marine Le Pen 2017 in die Stichwahl gelangten, wirkt die Präsidentschaftswahl heute wie ein Déjà-vu. Nachdem der sogenannte „Front Républicain“ bereits die letzten beiden Male den Rechtsextremist*innen den Einzug zur Präsidentschaft versperrt hat, verliert diese Drohkulisse heute an Wirkung. In den letzten zwanzig Jahren hat sich Frankreich daran gewöhnt. 

Die Linke ist von Emmanuel Macron dermaßen enttäuscht, dass sie das Feingefühl verliert, einen wirtschaftsliberalen Pro-Europäer von einer rechtsradikalen Populistin mit antisemitischer Vorgeschichte zu unterscheiden. Noch nie in der Geschichte der Republik war das Vertrauen in die repräsentative Demokratie so erschüttert wie heute. Seit dem Vichy-Regime stand den Rechtsextremist*innen die Tür zum Elysée-Palast noch nie so weit offen.

Léonardo Kahn ist Journalist und derzeit als Paris-Korrespondent für Radio 100,7 tätig. Er studierte Journalismus an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und an der Pariser Sorbonne. 

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