„As bestas“ von Rodrigo Sorogoyen

Das Recht auf Selbstverteidigung

Einen ersten Eindruck davon, wie rau und unnachgiebig der Mikrokosmos in Rodrigo Sorogoyens Drama As bestas (span. Las bestias, engl. The Beasts, 2022) ist, erhalten die Zuschauer.innen bereits in der Eröffnungssequenz. Minutenlang ringen zwei Männer, sogenannte Aloitadores, in Zeitlupe und in Nahaufnahmen mit einem Wildpferd, umgreifen es mit ihren bloßen Händen und Armen und drücken es so lange auf den Boden, bis das Tier vermeintlich aufgegeben hat.

(c) Le pacte

Schon in diesen ersten Filmminuten löst Regisseur Sorogoyen (u.a. El reino, 2018 und Madre, 2019) die Grenzen zwischen Mensch und Tier auf, und deutet an, dass die titelgebenden Bestien nicht nur im Tierreich wiederzufinden sind. Bei aller offensichtlichen Brutalität und Erbarmungslosigkeit lässt Sorogoyen aber auch eine gewisse Intimität und Verletzlichkeit durchschimmern – ein Widerspruch ist das nicht, denn wie sich zeigen wird, verfügen die Figuren in As bestas, all ihrer Monstrosität und offen zur Schau gestellter Egoismen zum Trotz, über zutiefst menschliche Bedürfnisse.

Angesiedelt in Galicien im Nordwesten Spaniens, erzählt As bestas die Geschichte von vier Menschen, deren konträre Lebensentwürfe, Begehren und Zukunftsprojektionen aufeinander prallen. Auf der einen Seite: Ein französisches Paar, Olga (Marina Foïs) und Antoine (Denis Ménochet), beide Ende vierzig oder Anfang fünfzig, die sich seit einigen Jahren in einem kleinen Dorf in der galicischen Provinz niedergelassen haben, um ein neues Leben in Harmonie und in Einklang mit der Natur zu führen. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie sich mit biologischer, umweltfreundlicher Landwirtschaft; daneben renovieren sie verlassene Bauernhäuser, die sie dem Gemeinwohl überlassen wollen, um so die Region wieder zu bevölkern. Auf der anderen Seite: Ihre direkten Nachbarn, die Brüder Xan (Luis Zahera) und Loren (Diego Anido) im etwa gleichen Alter, die nichts anderes gekannt haben als ein Leben in Armut, kräftezehrender Farmarbeit und stumpfsinniger Monotonie, und sich gewissermaßen als inoffizielle, wenngleich unberechenbare Anführer der Dorfgemeinschaft verstehen.

(c) Le pacte

Löste schon die bloße Präsenz der (vormals) gutbetuchten und weltgewandten Franzosen Neidgefühle und unterschwellige Ausländerfeindlichkeit aus, so kippt die Stimmung endgültig ins Feindselige, als sich Antoine und Olga wiederholt gegen die Installierung von Windrädern sperren – eine Haltung, die bei den Einheimischen für Unverständnis sorgt, wollen diese doch die finanzielle Entschädigung dafür nutzen, dem öden dörflichen Mikrokosmos endlich zu entkommen. Antoine und Olga hingegen sehen jenes Projekt, das sie für ihren Lebensabend auserkoren haben, in Gefahr, und weigern sich, ihre Einwilligung zu geben – Naturverbundenheit und Umweltschutz ja, aber: not in my backyard. In der Folge entwickelt sich ein Psychokrieg zwischen den beiden ungleichen Paaren, der mit Gemeinheiten und Drangsalierungen beginnt – Xan und Loren verseuchen die Ernte ihrer Nachbarn, indem sie ausgelaufene Autobatterien in einem Brunnen hinterlegen, woraufhin Antoine beginnt, die Brüder heimlich mit einer Kamera zu filmen – und schließlich in tödlichem Ernst endet.

Regisseur und Autor Rodrigo Sorogoyen (der das Drehbuch, wie bei seinen vorigen Regierarbeiten, zusammen mit Isabel Peña verfasste) vermengt in As bestas Elemente des Westernfilms und des ruralen Thrillers, wie beispielsweise Deliverance (John Boorman, 1972), Straw Dogs (Sam Peckinpah, 1971) und Southern Comfort (Walter Hill, 1981), zu einem atmosphärisch dichten, mit Momenten extrem wuchtigen Film, der eine ungeheure Spannung aus alltäglichen Situationen zu ziehen vermag.

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Sorogoyen übernimmt in As bestas zwar ein zentrales Motiv aus den oben zitierten Filmen – die Hostilität zwischen vermeintlich zivilisierten, gebildeten Städtern und einer ebenfalls vermeintlich rückständigen, degenerierten Dorfbevölkerung mit schlechten Intentionen –, aktualisiert es jedoch und überträgt es auf recht subtile Weise auf die Jetztzeit. Die wohlmeinenden Biobauern und Gentrifizierer Antoine und Olga, die ihr Seelenheil in der galicischen Provinz suchen und der eingesessenen Population die Vorzüge neuartiger Anbaumethoden erklären, reflektieren den von individueller Selbstverwirklichung bestimmten gegenwärtigen Zeitgeist: Beide könnten ohne weiteres auch in einer Dokumentation über gesellschaftliche Aussteiger.innen zu sehen sein.

Es bleibt seitens der Zuschauer.innen das höchst ungute Gefühl zurück, dass die vorgeblich Guten gar nicht so löblich handeln, wie man das eigentlich gerne hätte.

Das, was sie für die große Freiheit halten und dementsprechend romantisch verklären – Antoine berichtet an einer Stelle, er sei in seiner Studentenzeit nach einer durchzechten Nacht in ebenjenem Dorf aufgewacht, in dem er jetzt lebt, und wusste, dass es seine Bestimmung wäre, irgendwann dorthin zurückzufinden – ist für Xan und Loren ein deprimierendes Freiluftgefängnis in einer unerbittlichen und kargen Natur, das beide, ohne Bildung, Geld und Beziehungen, zu keinem Moment in ihrem Leben hätten verlassen können. Und jene winzige Perspektive, die sich ihnen durch die Installierung der Windanlagen bietet, wird jetzt ausgerechnet von Menschen vereitelt, die Zeit ihres Lebens fast jedes Privileg genießen konnten.

(c) Le pacte

Die erzählerische Stärke von As bestas ist es, dass Sorogoyen diese unbequemen Ambiguitäten zulässt und auch den Abgehängten, die nun ihren Platz einfordern, eine Stimme gibt.

In einer mehrminütigen, beeindruckenden Plansequenz, in der Antoine in der ortsansässigen Bar mit Xan und Loren ein letztes klärendes Gespräch sucht, kommen beide Seiten zu Wort – und Sorogoyen nutzt diese Situation für eine nuancierte Überlegung über Egoismen, Selbstverwirklichung und -verteidigung. Während Antoine sich gegen die verbalen und körperlichen Aggressionen der beiden Brüder zur Wehr setzt, und dabei auch seine Lebensträume und die seiner Ehefrau schützen möchte, verteidigt Xan seinen eigenen Anspruch (und den seines nach einem Pferdeunfall geistig zurückgebliebenen Bruders) auf Teilhabe und ein Mindestmaß an Wohlstand gegen die – aus seiner Sicht – Eindringlinge aus Frankreich. Beide Seiten merken irgendwann, dass es keine Lösung und kein Entrinnen aus dieser Pattsituation gibt; die bestialische Konsequenz davon zeigt Sorogoyen in einer drastischen, den Filmanfang aufgreifenden Sequenz, die einem wortwörtlich den Atem stocken lässt.

Im letzten Drittel verlagert Sorogoyen schließlich den erzählerischen Fokus verstärkt auf Olga, die zwar rationaler agiert als die affekt- und instinktgetriebenen Männer, in ihrer erstarrten Weltsicht aber nicht weniger erratische Entschlossenheit demonstriert.

Es bleibt seitens der Zuschauer.innen das höchst ungute Gefühl zurück, dass die vorgeblich Guten gar nicht so löblich handeln, wie man das eigentlich gerne hätte (und das, obwohl das Recht am Ende auf ihrer Seite ist). In diesem Sinne ist As bestas trotz seines archaischen Settings ein sehr moderner Film, der keine einfachen bzw. eindeutigen Wahrheiten zulässt und der zeigt, wie trügerisch der Blick auf die Welt und die eigenen Ideale sein kann – und wie leicht sich auch das Publikum in die Irre führen lässt.

Sehr empfehlenswert.

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