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Wie verstehen wir den Finanzsektor in Luxemburg? Perspektiven auf „Eis Finanzplaz“
Dieser Text entstand ursprünglich als Einleitung für einen Diskussionsabend, der am 24. November 2022 in den Rotondes stattfand. Auf Einladung von Action Solidarité Tiers Monde (ASTM) / Klimabündnis Luxemburg diskutierten – unter der Moderation von Cédric Reichel – Vertreter von Presse, Kultur, Gemeindepolitik und des Finanzsektors verschiedene Perspektiven auf den Finanzplatz. Die gesamte Veranstaltung können Sie hier sehen:
Der Finanzplatz Luxemburg steht für Arbeitsplätze, Wachstum, Internationalität und das „Triple-A“. Wie sprechen wir in Luxemburg über den Finanzplatz (oder auch nicht), der für 25 % unseres BIP verantwortlich ist und das Bild unseres Landes auch international prägt? Um dieser Frage näher zu kommen, lohnt es, sich verschiedene Narrative über den Finanzplatz näher anzuschauen. In der Folge möchte ich die zentralen Elemente dreier Narrative hervorheben: die der Historiographie, der Medienberichterstattung und des offiziellen politischen Diskurses.
Die Geschichtsschreibung über den Finanzplatz
Benoît Majerus, Historiker an der Universität Luxemburg, hat die Geschichtsschreibung über den Finanzplatz analysiert[1] und kommt zu dem Schluss, dass der Finanzplatz – im Gegensatz zur zentralen Rolle, die der Sektor für die luxemburgische Wirtschaft einnimmt – in der Geschichtsschreibung noch relativ wenig sichtbar ist. Ein weiterer Punkt, den Majerus hervorhebt, ist, dass die Geschichte des Finanzplatzes oft in einem Kontext des Gedenkens verfasst wird, beispielsweise zum Anlass von Jubiläen von Finanzinstitutionen. Außerdem wird sie oft von Akteuren des Finanzplatzes selbst geschrieben und/oder von solchen finanziert. Die Geistes- und Sozialwissenschaften hätten sich noch kaum, so Majerus, von dieser Art Erzählung emanzipiert, manche Werke der Historiographie grenzten dabei schon beinahe an Hagiographie.
Hierzu einige Beispiele. Ein Element, das immer wieder in den Darstellungen des Finanzplatzes auftaucht und uns bis heute begegnet, ist seine vermeintliche Fragilität. So wurde beispielsweise in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Errichtung eines gemeinsamen europäischen Marktes von luxemburgischen Autoren allgemein als Bedrohung angesehen. Dass EU-Institutionen mit echten Befugnissen auf luxemburgischem Hoheitsgebiet tätig werden würden, sah man mit Sorge, da es die Handlungsfreiheit der Regierung einschränken könnte.
1999 veröffentlicht der Statec eine Geschichte der luxemburgischen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, und das Kapitel zum Finanzsektor durfte Lucien Thiel, damaliger Direktor der Association des Banques et Banquiers Luxembourg (ABBL), verfassen. Der Text ist eine Lobeshymne auf den Finanzsektor; die Darstellung ist geprägt von der Hervorhebung von Faktoren wie „politische Stabilität“, „kosmopolitischer Charakter“, „Fingerspitzengefühl der Politiker“ und „Dynamik der Wirtschaftsakteure“. Aber auch die Abwesenheit „steuerlicher Nachteile“ und natürlich die Rolle des von ihm angeführten Vereins ABBL werden vom Autor als Faktoren genannt, um die Entstehung und den Erfolg des Finanzplatzes zu erklären.
Es gibt allerdings auch kritischere Stimmen, so etwa von Gérard Trausch, der 2015 in einer Publikation des Statec[2] die Stellung hinterfragt, die der Finanzsektor heute in Luxemburg einnimmt, insbesondere wegen der Auswirkungen, die diese Entwicklung auf das demokratische Funktionieren in einer zunehmend von der Finanzialisierung beherrschten Gesellschaft hat.
Andere Autoren beschäftigen sich mit der Frage, inwieweit die Entwicklung des Finanzplatzes eigentlich auf Entscheidungen zurückzuführen sei, die tatsächlich in Luxemburg getroffen wurden. Für Michel Pauly[3] ist der Aufschwung des Finanzplatzes nicht auf eine voluntaristische Politik der Regierung zurückzuführen, um die Verluste aus der Stahlkrise auszugleichen, sondern eher ein Zufallseffekt. Emile Haag (2015) argumentiert ähnlich: „Es ist oft behauptet worden, dass Luxemburg versucht hat, ausländische Banken durch eine extrem günstige Steuergesetzgebung anzuziehen. In Wirklichkeit waren es externe Gründe und Vorschriften, nicht inländische, die den Ausschlag des Finanzplatzes des Landes ausgelöst haben.“[4]
Insgesamt, so Majerus’ Schlussfolgerung, fehle der Historiographie über den Finanzplatz die kritische Distanz. Die Geschichte des Finanzplatzes, so der Historiker, müsse sich von dem „Bankenkorsett“ befreien. Sie solle sich nicht auf eine wirtschaftliche und institutionelle Geschichte beschränken, sondern etwa die Sozialgeschichte der Mitarbeiter des Finanzplatzes erforschen, die urbane und geografische Dimension einbeziehen, insbesondere die Transformation der Stadt Luxemburg und ihrer Umgebung; ebenso die Geschichte der Migration, von der gefügigen Arbeiterklasse der Grenzgänger bis zu den Topmanagern; die sozialen Verbindungen zwischen Bank- und Politikerkreisen entschlüsseln, usw.
Der Finanzplatz in der Medienberichterstattung
Trotz der relativ breit aufgestellten Luxemburger Presse gab es über lange Zeit ein vorherrschendes Narrativ über den Finanzplatz, und zwar ein eher unkritisches, wohlwollendes: so zum Beispiel im Fall des Zusammenbruchs der Investors Overseas Services (IOS) in den frühen 1970er Jahren, dem ersten Skandal in Verbindung mit dem Luxemburger Finanzplatz. An dieser Stelle sei kurz daran erinnert, dass der Finanzsektor seinen großen Aufschwung in den 1960er und 1970er Jahren erlebte, als sich zahlreiche internationale Banken – vor allem aus den USA und aus Deutschland – in Luxemburg niederließen. Der Kollaps von IOS wurde von europäischen Medien als luxemburgischer Skandal bezeichnet; in Luxemburg selbst allerdings wurde der Skandal nicht als solcher benannt, und auch nicht in gleicher Weise von der Presse und den politischen Entscheidungsträgern kritisiert.[5]
Die IOS-Insolvenz war das erste Ereignis, das die luxemburgische Finanzindustrie in den Fokus der internationalen Presse rückte. Die nachfolgenden Skandale, die den Finanzplatz Luxemburg erschütterten, deckten Praktiken auf, die sonst sowohl für die Zeitgenossen als auch für die Historiker von heute weitgehend unsichtbar geblieben wären: Herstatt im Jahr 1974, Banco Ambrosiano 1982, Bank of Credit and Commerce International 1991, Clearstream 2004, LuxLeaks 2014, Panama Papers 2016. Ohne an dieser Stelle auf die Details einzugehen, kann man doch hervorheben, dass bei all diesen „Affären“ die Ereignisse von Personen skandalisiert wurden, die von der politischen Klasse Luxemburgs, von der Elite des Finanzplatzes und auch in den traditionellen Medien des Landes als Ausländer betrachtet wurden, welche oft im Verdacht standen, dem Finanzplatz schaden zu wollen. Die luxemburgische Presse half dabei nicht nur im Fall IOS den Aufsichtsbehörden und den politischen Eliten, den Skandal zu beenden oder zu begraben.
Die größtenteils konservative und wohlwollende Berichterstattung über den Finanzplatz in der luxemburgischen Presse wurde erst im letzten Jahrzehnt langsam aufgebrochen, einerseits durch die Arbeit internationaler Journalistenkonsortien, andererseits durch die Entwicklung des investigativen Journalismus in Luxemburg selbst. 2014 veröffentlichte das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) die sogenannten LuxLeaks. Durch die dabei geleakten Dokumente wurden 548 Advance Tax Rulings der Luxemburger Steuerbehörde öffentlich, die diese zwischen 2002 und 2010 über PricewaterhouseCoopers (PwC) abgeschlossen hatte. Diese vertraulichen Steuervereinbarungen boten internationalen Konzernen die Möglichkeit, ihre Steuern auf unter 1 % zu drücken – auf Kosten anderer Länder.
Ein paar Jahre später waren dann auch Journalisten aus Luxemburg selbst an den Recherchen beteiligt, und zwar 2021 bei OpenLux. Diese Recherchen basierten auf Informationen aus dem Registre du commerce et des sociétés sowie dem Registre des bénéficiaires, welches ja seit dem 22. November nicht mehr öffentlich zugänglich ist.[6] OpenLux deckte zahlreiche Fälle auf von bekannten Persönlichkeiten, Politikern, aber auch mafiösen Strukturen, die in Luxemburg Scheinfirmen gegründet hatten, um Steuern zu vermeiden.
Die traditionelle Luxemburger Presse reagierte auf OpenLux, wie sie traditionell auf solche Skandale oder Enthüllungen reagierte, nämlich zurückhaltend. So etwa die Schlagzeile im Luxemburger Wort: „Im Parlament weisen die Mehrheitsparteien sowie CSV und ADR die Kritik am luxemburgischen Finanzplatz zurück. Déi Lénk und den (sic) Piraten scheren aus.“ Dieser Ausdruck im letzten Satz – sie „scheren aus“ – verdeutlicht die in der traditionellen Presse verbreitete Dichotomie zwischen den Verteidigern des Finanzplatzes und den Angreifern, denjenigen, die „auf Linie“ sind, und den Abweichlern.
Was die Reaktionen der Politiker und der Finanzelite auf kritische Medienberichterstattung anbelangt, so fällt diese relativ eindeutig aus. So redet zum Beispiel Nicolas Mackel, CEO bei Luxembourg for Finance (LFF), von „Blödsinn, deen do geschriwwe gëtt“,[7] oder, im Rahmen von OpenLux, von „einer Mischung aus Populismus, Ignoranz und Böswilligkeit“.[8] Pierre Gramegna seinerseits bezeichnete die LuxLeaks als „eine Attacke auf Luxemburg, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben habe“.[9]
Der Diskurs der finanzpolitischen Elite
Damit sind wir dann auch beim offiziellen politischen Narrativ über den Finanzplatz. An dieser Stelle könnte man nun unzählige Zitate anführen, etwa von Jean-Claude Junker, Luc Frieden oder Pierre Gramegna. Insgesamt kann man zusammenfassen, dass in den vergangenen Jahrzehnten jegliche Kritik am Luxemburger Finanzplatz zurückgewiesen wurde, mal als neidische und ungerechte Reaktion auf den Erfolg eines dynamischen Kleinstaates, mal als Ausdruck eines vermeintlichen deutsch-französischen Hegemoniewillens, der sich gegen ein kleines Land richtet. Besonders in der Junker-Ära, in der man die sprudelnden Steuereinnahmen des Finanzplatzes verteilen konnte, war Kritik am Finanzplatz und der entsprechenden Regierungspolitik tabu.[10]
2008 entstand Luxembourg for Finance, ein public private partnership und Sprachrohr des Finanzplatzes. Ursprünglich war es das Ziel, den Finanzplatz Luxemburg im Ausland zu promovieren, also ausländische Investoren nach Luxemburg zu bringen oder der internationalen Presse „Informationen“ zum Finanzplatz zur Verfügung zu stellen. 2020 allerdings lancierte LFF erstmals eine Kampagne in Luxemburg selbst, unter dem Motto: „Eis Finanzplaz, dat si mir all“. Nicolas Mackel zufolge handelte es sich dabei um eine reine Informationskampagne, die notwendig sei, da in der Luxemburger Bevölkerung das Verständnis dafür, was die Finanzindustrie eigentlich ist, eher gering sei. Allerdings war die Aufmachung der Kampagne dann doch eine recht emotionale. So produzierte LFF Videospots mit den Kindern von Menschen, die am Finanzplatz arbeiten, und denen man dann versuchte, auf „kinderleichte“ Art und Weise zu erklären, was ihre Eltern da eigentlich so machen. Um die Kampagne vorzustellen, gab Mackel ein Interview im Luxemburger Wort.[11] Auf die Frage, ob die Luxemburger den Finanzplatz vergessen oder etwa verdrängt hätten, lieferte Mackel eine durchaus interessante Antwort. In seinen Augen nähmen die Luxemburger den Finanzplatz wie eine Selbstverständlichkeit wahr. Nur wenige würden bedenken, dass der Finanzplatz Motor der ganzen Wirtschaft sei, der Pfeiler des ganzen Wohlstands. Luxemburg habe, so Nicolas Mackel, einen Grad des Wohlstands erreicht, an dem sich die Leute nicht mehr die Frage stellen, wo er eigentlich herkommt.

[1] Benoît Majerus, „Écrire l’histoire de la place financière d/au Luxembourg“, in: Claude Marx / Marc Limpach / Benoît Majerus (Hg.), Surveillance, indépendance et intégrité, Luxemburg, CSSF, 2020, S. 119-126.
[2] Gérard Trausch, La société luxembourgeoise face à ses problèmes économiques et sociaux, Luxemburg, Statec, 2015.
[3] Michel Pauly, Histoire du Luxembourg, Brüssel, PUB, 2013.
[4] Emile Haag, The rise of Luxembourg. From independence to success, Luxemburg, Saint-Paul, 2015, S. 229.
[5] Benoît Majerus: „This is not a scandal in Luxembourg“, in: Entreprises et Histoire 4 (2020), 101, S. 75-87.
[6] Siehe dazu auch die Podcastfolge „Transparenz um Réckzuch“ von reporter vom 2. Dezember 2022, www.reporter.lu/podcast-on-the-record-transparenz-um-reckzuch (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 7. Dezember 2022 aufgerufen).
[7] www.rtl.lu/radio/invite-vun-der-redaktioun/a/1798518.html
[8] https://paperjam.lu/article/nicolas-mackel-lff-succes-luxe
[9] www.rtl.lu/radio/background/a/1843261.html
[10] Laurent Schmit / Jürgen Stoldt / Bernard Thomas, „Der Mann ohne Eigenschaften. Jean-Claude Juncker zu seinem dreißigsten Regierungsjubiläum“, in: forum 324 (Dezember 2012), 324, S. 4-11, https://www.forum.lu/article/der-mann-ohne-eigenschaften.
[11] Nadia Di Pillo / Pierre Leyers (Interview): „‚Niemand fragt, wo der Wohlstand herkommt‘. Nicolas Mackel, CEO von ‚Luxembourg for Finance‘, über das Verhältnis der Luxemburger zu ‚ihrem‘ Finanzplatz, in: Luxemburger Wort vom 20. Oktober 2020, S. 12.
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