Die Stimmen der Geschichte
Ein Leben voller Anstrengungen und Entbehrungen: Als Enkel piemontesischer Emigranten tritt der französische Regisseur Alain Ughetto in einen fiktiven Dialog mit seinen Vorfahren, die er als animierte Figuren mittels Stop-Motion-Technik zum Leben erweckt, um die aufopferungsvolle Geschichte ihrer Auswanderung nachzuzeichnen. Interdit aux chiens et aux Italiens ist eine ebenso nostalgisch-fantasievolle wie tragische Hommage an die eigene Familie und deren Suche nach einem besseren Leben.

Norditalien, Ende des 19. Jahrhunderts: Das Leben in dem kleinen Bergdorf Ughettera am Monte Viso, in dem fast alle Einwohner den gleich Nachnamen – Ughetto – tragen, ist karg und hart, die Natur erbarmungslos. Um der Armut und Perspektivlosigkeit zu entfliehen, macht sich Luigi Ughetto (der spätere Großvaters des Regisseurs Alain Ughetto) mit zwei Brüdern auf, um im Schweizer Wallis Arbeit zu finden; er ist der zweitälteste Sohn von insgesamt zwölf (!) Kindern. Unterwegs trifft er auf die Liebe seines Lebens, Cesira – die beiden heiraten und gründen nach ihrer Rückkehr in Ughettera ihre eigene Großfamilie.

Die schwierigen Witterungsbedingungen und der quasi inexistente Zugang zu medizinischer Versorgung, aber auch das Aufkommen mehrerer Kriege mit Beteiligung Italiens (der Italienisch-Äthiopische Krieg, der Erste Weltkrieg) sowie der Aufstieg des Faschismus, fordern ihren Tribut und zwingen die Familie schließlich, ihr Glück in der Emigration nach Frankreich zu suchen. Obwohl Luigi – wie Abertausende andere italienische Gastarbeiter auch – dort helfen, die Infrastruktur des Landes (Brücken, Straßen, Tunnel und Staudämme) mit aufzubauen, stoßen sie auch hier, wo sie eigentlich ihr kleines Paradies suchen, auf Ablehnung und Rassismus, und werden mit öffentlich plakatierten Parolen wie Interdit aux chiens et aux Italiens „begrüßt“. „C’est le marqueur d’une époque, en voyant ces affiches-là, on devait se dire : quel accueil ! La cruauté et la férocité de ce petit panneau qui accueillait les migrants illustre le contexte historique“, so Regisseur Alain Ughetto.
❝Interdit aux chiens et aux Italiens [ist] ein vielschichtiges, zugleich poetisches, komisches und tragisches Familienepos.❞
Ughetto verzahnt in Interdit aux chiens et aux Italiens die kleine, persönliche Geschichte seiner Vorfahren mit der großen, weltpolitischen Geschichte Italiens und Frankreichs, um am Beispiel einer, seiner, Familie nachzuzeichnen und aufzuzeigen, was Hunderttausende italienische Familien in den Migrationsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts durchlebt haben. Aus Geschichten wird Geschichte, und umgekehrt – Ughetto gibt hier jenen eine Stimme, die ansonsten gerne im statistischen Nebel der Geschichtsschreibung untergehen. Den erzählerischen Ton, den er dafür findet, ist bemerkenswert tragisch und optimistisch zugleich – immer wieder blitzen, fast schon trotzig, bissiger Witz und heitere Situationskomik auf und brechen die dramatische Handlung, ohne die Mühen und Entbehrungen der Vorfahren auch nur aufs geringste zu schmälern.

Das liegt vor allem daran, dass man Interdit aux chiens et aux Italiens in jeder Sekunde anmerkt, mit welcher Hingabe und Pietät sich Ughetto an die Geschichte seiner Familie, die auch seine eigene ist, herangewagt hat. Als erzählerischer Bezugspunkt fungiert dabei die liebevoll animierte und von Ariane Ascaride gesprochene (Stop-Motion-)Figur der Großmutter Cesira, mit der sich Ughetto konstant in einem imaginären Dialog befindet, fast schon kindliche Fragen an sie richtet, Zusammenhänge zu verstehen versucht, die Erinnerung wiederherstellt. Immer wieder tauchen dabei auch Ughettos Hände im Bild auf – sei es, um an den Dekors zu arbeiten, oder um seinen animierten Lehmfigürchen Werkzeuge und Utensilien, Rohstoffe und Gemüse zu reichen, die sich auch in der Gestaltung der Kulissen wiederfinden: Aus Zuckerwürfeln werden Mauern, aus Holzkohle ganze Gebirgsmassive, aus Brokkoli Bäume. Die Fragilität der Existenz seiner Vorfahren schimmert dabei stets durch – ein kleiner Windstoß reicht, und sie liegt wortwörtlich in Trümmern.
Animationsfilme werden gerne mit Kinderfilmen gleichgesetzt – ein Trugschluss, und Interdit aux chiens et aux Italiens ist ein weiterer Beleg dafür, dass das nicht stimmt. Ughettos 2022 beim Festival international du film d’animation d’Annecy mit dem Preis der Jury ausgezeichnetes Werk mag sich auch an ältere Kinder richten, aber eben nicht nur. Vielmehr ist Interdit aux chiens et aux Italiens ein vielschichtiges, zugleich poetisches, komisches und tragisches Familienepos, das mehr als sechs Jahrzehnte persönlicher wie großer Geschichte rekonstruiert, und dabei innovative Wege findet, den Austausch und Wissenstransfer zwischen den Generationen in filmische Bilder zu kleiden. Sehr empfehlenswert.
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