… denn sie wussten, und wissen immer noch was sie tun

Seit der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 sollen bis zu 17.000 ukrainische Soldaten gefallen und 113.000 verwundet worden sein. Die beiden aus Czernowitz stammenden Veteranen, Vitalii und Denis, sind zwei von diesen 113.000.

Nach Gefechten mit russischen Truppen wurde Vitalii das rechte Bein, Denis der linke Arm amputiert. Doch Vitalii und Denis haben mehr erlebt als nur physischen Schmerz und Verstümmelung. Im Folgenden berichten sie über ihre Erfahrungen an der Front, ihre Motivationen in den Krieg zu ziehen, die Ereignisse rund um ihre Verwundungen, die Rehabilitationsphase und, letztlich, ihre Weltsichten.

 

Vitalii

Vitalii ist 25 Jahre alt. Als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfällt, ist für ihn klar: Ich muss teilnehmen, und ich muss nach Kyjiw. Denn fällt die Hauptstadt, fällt das ganze Land. Es dauert ein wenig bis Vitalii Czernowitz verlassen kann, um sich dem von ihm ausgewählten Freiwilligenregiment anzuschließen. Deswegen arbeitet er in Czernowitz zunächst als freiwilliger Polizist. Sie patrouillieren, halten Ausschau nach pro-russischen Spionen, sehen zu, dass die Zivilbevölkerung sich an die festgelegten Uhrzeiten der Ausgangsperre hält und vieles mehr.

Dann ist es soweit, Vitaliis Freiwilligenregiment, die Karpatische Sitsch, kann ihn endlich aufnehmen. Der Aufnahmeprozess ist einfach. Es ist Vitaliis Wunsch, am Krieg kämpfend teilzunehmen; er will nicht bloß Papierkram erledigen, keine Büroarbeit – und sein Wunsch wird erfüllt.

Am 10. März wird er während sechs Tagen nahe der Front ausgebildet. Danach geht es in die Schlacht um Kyjiw, nach Irpin. Der Rückzug der Russen ist chaotisch. Sie verstecken sich in Häusern, Gebüschen, im Wald und Vitaliis Mission ist es, die von den Ukrainern befreiten Orte zu „säubern“. Will heißen: Verfolgen, Festnehmen, Aufräumen. Vitalii und seine Kollegen gehen davon aus, dass ein Teil der russischen Streitkräfte ihre eigenen Kameraden mit Absicht zurückgelassen hat, um den Nachzug der Ukrainer zu verlangsamen und zu erschweren. Auf die Frage, ob er und sein Bataillon Erbarmen mit den russischen Soldaten kannten, schweigt er und hält nur den Zeigefinger vor geschlossene Lippen.

Anfang April geht es von Irpin nach Isjum in die Charkiw Region. Vitalii ist nicht nur an der Verteidigung von Kyjiw beteiligt, sondern auch an der erfolgreichen Gegenoffensive der Ukrainer. In der Charkiw Region befinden sich vor allem professionelle, gut ausgebildete russische Truppen, die es zu stoppen gilt, bevor sie die gesamte Region einnehmen. Zunächst werden die Russen nur aufgehalten, aber ab Juli 2022 können sie auch zurückgedrängt werden.

Ausgerechnet am ukrainischen Nationalfeiertag, dem Unabhängigkeitstag, am 24. August 2022, wird Vitalii schlimm verwundet. „Es ist sogar die letzte Mission gewesen, um die Russen zurückzudrängen. Danach sind sie geflohen,“ berichtet er.

Die Mission beginnt morgens und dauert bis Nachmittag. „Wir haben unser Bestes gegeben und haben sogar Gefangene genommen.“ Danach wollen Vitalii und seine Kameraden weitervordrängen, aber sie realisieren gleichzeitig, dass ein Teil der russischen Truppen sich hinter einer Waldlinie befindet, der ihnen Mühe bereitet. Es kommt zu heftigem Schusswechsel.

Als die Russen dann Panzerverstärkung erhalten, wird die Situation für Vitalii und den Rest des Regiments brenzlig. Denn Vitaliis Regiment ist nicht gut genug ausgerüstet, um die russischen Panzer gezielt aus der Distanz außer Gefecht setzen zu können. Dennoch gehen die Kampfhandlungen weiter, bis zum nächsten Tag, bis die russischen Panzer nur noch wenige Kilometer von Vitaliis Position entfernt sind. In zehn bis fünfzehn Metern Entfernung schlagen Panzergranaten neben Vitaliis Schützengraben ein.

Damit ist auch die Mission seines Regiments gefährlicher geworden: einerseits sollen die russischen Truppen davon abgehalten werden sich zurückzuziehen, andererseits bedeutet dies sich Panzerbeschuss auszusetzen.

Dann passiert das fast Unvermeidliche. Eine Panzergranate explodiert in Vitaliis Nähe als er sich im Schützengraben verschanzt. Granatsplitter treffen ihn an beiden Beinen. Das linke Bein ist von Geschossen schwer getroffen und dadurch durchlöchert. Die Wunden haben teilweise die Größe einer Faust. Das rechte Bein ist nur noch an einer Stelle über die Haut mit dem Körper verbunden. Knochen und Sehnen sind durchtrennt.

Doch Vitalii ist nicht alleine im Graben. Neben ihm befindet sich ein Tscheche, der sich als Freiwilliger ganz frisch dem Bataillon angeschlossen hat. Der Tscheche ist am linken Bein verwundet und verliert, im Gegensatz zu Vitalii, sehr viel Blut. „Vielleicht habe ich weniger geblutet, weil die Verbrennungen die Adern zugemacht haben.“ Als der Tscheche aufgrund seiner Unerfahrenheit das überlebenswichtige Tourniquet falsch anwendet und beschädigt, entscheidet Vitalii ihm seine Aderpresse zu geben.

Das Tourniquet ist ein simples Werkzeug, das in Notsituationen Leben retten kann, indem die Blutzufuhr abrupt abgestellt wird. „Ich war in einer schlimmeren Verfassung und dachte, dass ich nicht überleben würde. Ich habe meine eigene Situation als lebensbedrohlicher eingeschätzt.“ Es wirkt: Der Tscheche hat zwar stärker geblutet, aber sein Zustand scheint sich nun in der Tat wieder zu stabilisieren. Rückwirkend erklärt Vitalii sein Räsonnement: „Entweder ich sterbe und helfe ihm zu überleben, oder ich sterbe und er wird mit mir sterben, wenn ich ihm nicht mein Tourniquet gebe.“

Ein Soldat einer US-Amerikanischen Spezialeinheit demonstriert Mitgliedern der Ukrainischen Luftwaffe das Anbringen eines Tourniquets. (Juni 2021) © Staff Sgt. Izabella Workman

Doch auch in dieser lebensbedrohlichen Situation ist der Kampf für die Verwundeten noch nicht zu Ende. Beide wissen, dass sie auf sich allein gestellt sind. Denn die Verwundung passiert genau in dem Moment als Vitaliis Einheit den Standort wechselt, sodass der Großteil seiner Einheit weiter entfernt ist. Weil zudem die Kommunikation abgebrochen ist, kann er keine Hilfe erwarten.

Vitaliis Funktion im Bataillon ist die Handhabung des schweren Maschinengewehrs (MG), und das trägt er weiterhin bei sich. Es ist voll funktionsfähig. Vitalii und der Tscheche robben durch den Graben, um sich in eine gute Stellung zu bringen. Sie können nur geduckt, ohne Sicht auf den Gegner feuern, wenn sie dem feindlichen Beschuss ausweichen wollen. Vitalii muss nach Gehör operieren. Vorsichtig horcht er, von wo die Schüsse kommen, um in diese Richtung zu zielen. Es geht darum, die Russen einzuschüchtern, durch die Gewalt des MG. Während Vitalii nach Gehör zielt und schießt, lädt der Tscheche nach. Zwischendurch wird mit der freien Hand auch mal eine geraucht, auch wenn Vitalii hören kann, wie die Russen immer näherkommen.

In diesen Momenten empfindet er keine Schmerzen. Er bewahrt seine Ruhe, gerät nicht in Panik. Auch der Tscheche verliert die Fassung nicht, auch wenn Vitalii ihn ab und zu befehlend anschreien muss, damit sie gemeinsam weiterhin die Stellung halten können. „Eine gesunde Mischung aus Anschreien und Beruhigen, um den Tschechen bei Ernüchterung zu behalten,“ sagt Vitalii grinsend.

Als sie beim letzten Magazin angekommen sind, halten sie die Handgranaten parat. Nicht für den Feind, sondern für eigene Zwecke. Gefangenschaft ist keine Option. Vitalii will sich das nicht antun – das Leid der russischen Gefangenschaft ertragen zu müssen. „Die Russen hätten sicherlich geheime Informationen haben wollen, und so weiter.“

Doch beide haben Glück. Verstärkung erreicht die Verwundeten und die Russen müssen sich zurückziehen. Erst jetzt beginnt Vitalii den Schmerz zu spüren. Er ist so stark, dass sogar das Morphium nicht helfen kann. Zudem ist die Evakuierung keine Luxusfahrt. Vitalii wird schnell und grob in den Pick-up geworfen. Jede Bewegung, jede noch so kleine Erschütterung ist spürbar. Von der Frontlinie bis zum ersten Lazarett dauert die Fahrt ungefähr vierzig Minuten, wobei die Straße nicht asphaltiert, geradlinig und ruhig verläuft, sondern eine hügelige mit Schlaglöchern versehrte Landstraße ist. Vitalii will jetzt eigentlich nur noch bewusstlos sein, bleibt aber wach.

Als er nach der medizinischen Behandlung und der Amputation des rechten Beines zum ersten Mal aufwacht, wird er sofort wieder bewusstlos. So hat man es ihm zumindest geschildert, denn daran kann er sich nicht mehr erinnern. Sein erster bewusster Gedanke nach der Amputation ist, dass es nun für ihn vorbei ist, dass er nicht mehr gebraucht wird, weil er nicht mehr kämpfen kann. „Aber auf jedem Schritt bin ich guten Menschen begegnet, Ärzte und Freiwillige, die mich unterstützt, mir geholfen haben, mir moralisch beigestanden sind.“ Vitalii weiß nicht genau, wer von seinem Regiment alles an jenem Augusttag überlebt hat, und wer gestorben ist. „Der Soldat am Mörser hat beide Beine verloren. Vier sind gestorben.“ Und dein Freund, der Tscheche? „Er hat überlebt. Ich habe ihn später im Krankenhaus wiedergetroffen, aber er ist nicht mein Freund.“ Sie haben zusammen gekämpft und sich geholfen, aber er hat ihn nur für zwei Tage gekannt. „Ich kann mich nicht einmal an seinen Namen erinnern.“

Vitalii sieht sich nicht als Held. Er versteht die Frage nicht mal richtig. Es geht nicht um Aufopferung, sondern darum, seine Arbeit und seine Pflicht zu tun. Befehle befolgen, kämpfen und so weiter. „Als Freiwilliger weiß man auf was man sich eingelassen hat und wie es enden könnte. Man macht halt, was man tun muss. Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken.“

Alles scheint situativ zu sein. In diesem spezifischen Moment zu leben, und nichts anderes. Man handelt nach den Regeln, von denen man glaubt, dass sie in diesem Moment helfen. Der Tscheche hat mehr Möglichkeiten zu überleben, also kriegt er das Tourniquet; Nachladen, Schießen und die Stellung halten; die Granate zünden, falls der Feind einen erreicht hat und gefangen nehmen will. Schritt für Schritt tut man, was die Situation von einem verlangt.

Später, im Krankenhaus, erzählen Vitaliis Kollegen ihm, dass an dem Ort, wo er und der Tscheche die Position gehalten haben, viele tote russische Soldaten gefunden wurden. „Die Russen haben gedacht, dass sie ohne Probleme durchstoßen können, aber wir haben sie auf uns gezogen und beschäftigt.“ Das Wichtigste für Vitalii als Soldat ist die Verantwortung. Immer wenn er auf Urlaub zu Hause war, hat er Schuldgefühle empfunden, weil er als erfahrener Soldat nicht an der Front war. Es geht nicht um Nützlichkeit, sondern um Verantwortung, es geht darum zu tun, was man tun soll. Wenn er sein altes Regiment eines Tages wiedertreffen wird, hofft er sie nicht nur wiedersehen, sondern ihnen auch helfen zu können.

Vitaliis Bataillon, die Karpatische Sitsch, haben einen paramilitärischen Hintergrund und wurden im Zusammenhang des Kriegsbeginns von 2014 gegründet, um gegen die pro-russischen Separatisten, vor allem im Donbass, in der Ostukraine zu kämpfen. Die Gründung der Karpatischen Sitsch ist insofern politisch kontrovers, weil sie mit ultranationalistischen Parteien in Verbindung steht.

Vitalii aber will mit solch politischen Bewegungen nichts zu tun haben. Sicherlich sieht er sich als Nationalisten und Patrioten, der sein Volk liebt. Aber seiner Meinung nach geht es um Selbstverteidigung gegen die barbarischen Russen, die den Ukrainern ihre Freiheit und ihr Territorium wegnehmen wollen. Dass die Russen die Ukrainer als Nazis bezeichnen, kümmert ihn wenig. „Die Russen bringen Menschen um und foltern. Am besten ist es, sie zu ignorieren und so schnell wie möglich den Krieg zu gewinnen.“ Auf Nachdruck präzisiert er: „Es gibt keinen spezifischen ukrainischen Nationalismus. Jeder liebt sein Volk und wir haben das Recht in unserem Land zu leben.“

Um Ukrainer von Nazis unterscheiden zu können, weist Vitalii darauf hin, dass es ausreicht, sich die Handlungen der Ukrainer anzuschauen. „Die Ukraine ist nicht anders als Westeuropa. Wir wollen Frieden und Freiheit, und in der Ukraine kann jeder seine Sprache sprechen und keiner unterdrückt Ausländer. Aber wir haben Pech mit unserem Nachbarn. Seit Jahrhunderten wollen sie uns versklaven und unser Land besitzen, das ist der Grund, wieso wir die Russen hassen, die uns niemals Frieden geben. Aber keiner hat eine Waffe auf sie gerichtet, bis sie angegriffen haben.“

Vitalii ist religiös und sein Glaube hat ihm immer in seinem Leben geholfen. „Aber ich hoffe, dass Gott weggeschaut hat, als ich in diesem Krieg gekämpft habe,“ sagt er schelmisch. Der Tod ist für ihn keine große Sache: „Wenn ich sterbe, dann heißt das, dass meine Zeit vorbei ist, und es bedeutet, dass Gott es so will, und wenn Gott mich am Leben lässt, dann bedeutet das, dass es eine Erprobung und Prüfung ist, die ich überstehen muss.“ Deswegen hat Vitalii auf dem Schlachtfeld nicht viel nachgedacht. „Denn sollte ich sterben, dann ist es Gott, der es so will, und solange ich lebe, ist es halt eine Prüfung.“ Hierin liegt in seinen Augen auch der Grund, weshalb er sich auf seine Aufgaben und Mission voll konzentrieren konnte. Wenn er nicht kämpfen musste, hat er viel geschlafen. „Ich habe versucht zu schlafen, wann immer ich konnte, weil wir manchmal tagelang ohne Ruhe durchhalten mussten. Ich konnte überall, egal wie schlafen: im Sitzen, im Stehen.“

Schlechte und negative Erinnerungen hat Vitalii nicht. Wenn er alte Kameraden trifft, dann sprechen sie über die schönen und positiven Erlebnisse. Manchmal träumt er schlecht, aber es ist keine größere Sache.

Vitalii nimmt seine Beinamputation nicht zu ernst. „Man sollte nicht zu viel darüber nachdenken, denn es kann sich sowieso nicht mehr ändern.“ Das Leben geht weiter. Aufgeben scheint keine Option zu sein. Vitalii hat Pläne für sein Leben. Er will seiner Familie helfen, seinen eigenen Betrieb öffnen, sein Regiment besuchen und die Freiwilligen, die ihm bei der Rehabilitierung geholfen haben, eine Prothese für sein rechtes Bein organisieren, Papierkram erledigen. Er hat genug zu tun, um nicht verzweifelnd über seine Lage nachdenken zu müssen. Er war, ist und bleibt Realist.

 

Denis

Denis ist 22 Jahre alt und drei Jahre jünger als Vitalii. Aber er ist schon länger beim Militär, seit dem 30. Mai 2019. Er ging gleich mit 18 Jahren zur Armee. Denis wollte damals wegen den Ereignissen von 2014, der Maidan Revolution und ihren Folgen, Waffendienst leisten.

2021 ist er zunächst in der Donezk Region stationiert. Doch seit der Invasion im Februar 2022 nimmt er an Schlachten in der Kyjiwer Region, Tschernihiw, Charkiw, und im Donbass in der Nähe von Donezk teil.

Wie Vitalii wird auch Denis im August 2022 verletzt. Die Mission seines Bataillons ist vor allem die Verteidigung der Donezk Region. Er ist in der Nähe von Bachmut und Soledar stationiert, in Nyzhnia Bilohorivka. Er hat während seiner Zeit beim Militär mehrere Funktionen inne: er ist Sappeur, Pionier, Fahrer im Schützenpanzer BMP.

Eines Nachts haben Denis und seine Truppe die Mission, in der Nähe von Lysychans’k in einem dichten und buschigen Wald Minen zu legen, um den Durchbruch der Russen zu verhindern. Denis‘ Arbeit ist Ausschau zu halten, damit die Minenleger konzentriert ihrer Arbeit nachgehen können, ohne auf äußere und anderweitige Gefahren achten zu müssen. Die erste Nacht verläuft gut. In der zweiten jedoch, als sie tiefer im Wald Minen legen, werden sie auf dem Rückweg von den russischen Truppen entdeckt und mit Artillerie und von Panzern beschossen.

Alles passiert schnell, und Denis erinnert sich lediglich an zwei Lichtblitze. Das wars. Ab jetzt pendelt sein Geist zwischen einem bewussten und einem bewusstlosen Zustand, aber de facto ist er fortan für mehrere Stunden ohne Bewusstsein. Sehr vage und lediglich in Schnappschüssen erinnert er sich auf den Boden zu fallen; an die Kameraden, die ihn irgendwo hintragen; das Aufladen auf einen Wagen; im Krankenhaus aufzuwachen; ein Arzt, der sich über ihn beugt; das Gefühl als liege er weiterhin am Boden auf einer Barre; irgendeiner sagt „Nach Dnipro“. Als Denis das nächste Mal zu Bewusstsein kommt, ist er tatsächlich bereits in Dnipro.

Was war passiert?

Denis trifft die Granate eines Minenwerfers. Das Schrapnell der ungefähr fünf Meter entfernt explodierten Granate verwundet ihn am Ober- und Unterkörper. Die Gehirnerschütterung und die Schmerzen in den Beinen und Armen führen dazu, dass er bewusstlos wird: shell shock. Ein Phänomen, das schon aus dem ersten Weltkrieg bekannt ist. Nur dank seiner Kameraden weiß Denis, was genau passiert ist. Er kann den Moment bis heute jedoch nicht komplett rekonstruieren.

Seine Truppe entscheidet sich nach seiner Verwundung sofort für den Rückzug. Er wird auf den Schultern seiner Kameraden zu den entfernten Schützengräben evakuiert. Dann wird er in einen Schlafsack gepackt und für eineinhalb Kilometer üben den Boden gezogen bis er aus der Gefahrenzone ist. Immer noch im bewusstlosen Schockzustand ist Denis ständig am Beten. „Es waren keine spezifischen Gebete, sondern eher das Rufen nach Gott. Gott hilf mir, rette mich aus dieser Situation, und so weiter.“

© Shutterstock / Jose HERNANDEZ Camera 51

Denis ist gläubig, aber er gehört keiner Konfession an. Er glaubt, dass es einen Gott gibt, und folgt einer Mischung aus allen Glaubensrichtungen, aus der er seinen eigenen Glauben formt. Vor dem Krieg war er nicht besonders gläubig, aber in dem Moment, als sich sein Kommandant in einem Gefecht verwundet und ein Bein verliert, hat Denis eine Kirche gesehen und einfach angefangen für sich zu beten. Die Kirche war ein Symbol für ihn, mit der sich seine Sicht auf und Meinung zu Gott geändert hat. „Komischerweise, war das Gefecht als mein Kommandant sich verletzt hat mein erstes Gefecht, während meine eigene Verwundung mein letzter Einsatz war. An beiden Einsätzen habe ich gebetet.“

Denis wird ins Feldlazarett gebracht, er wird stabilisiert, und dann nach Kramatorsk transportiert, wo er operiert wird. Die letzte Station ist Dnipro. Der linke Unterarm ist bis zur Unkenntlichkeit völlig zerstört, sodass er amputiert werden muss. Am Unterleib sind Hüftknochen und Becken gebrochen. Denis hinkt bis heute.

Erst nach 36 Stunden erlangt Denis zum ersten Mal das volle Bewusstsein wieder. Er sieht, wie er in einem Krankenbett liegt. Er versucht seine Beine zu bewegen, aber es geht nicht. Auch das Bewegen seiner Arme gelingt ihm nicht wirklich. Dann sieht er die metallenen externen Fixateure, die aus seinem geschwollenen linken Bein herausragen. Er schaut auf seinen amputierten Arm. Denis beginnt zu weinen und zu schreien. Daraufhin gibt ihm die Krankenpflegerin ein Beruhigungsmittel, sodass er wieder einschläft. Während drei Tagen wiederholt sich dieses Szenario: Denis wacht auf, sieht seinen Körper, beginnt zu schreien, daraufhin kommt die Krankenpflegerin und spritzt ihm ein Beruhigungsmittel.

Nach und nach kann Denis bei Bewusstsein bleiben, ohne Schrei- und Weinausbrüche; aber nun sind es die Schmerzen, die ihm zu schaffen machen. „Die Wunden sind offen und ohne Stiche und nur mit Bandagen versorgt. Der Bandagenwechsel tut sehr weh, aber wir erhalten immer die gleiche Dosis Beruhigungsmittel. Man kann sich nicht an den Schmerz gewöhnen.“

Von Dnipro wird Denis nach Riwne gebracht. Hier erwarten ihn mehr Operationen. Erst nach 4 Monaten kann sich Denis zum ersten Mal hochrappeln und ohne Stütze am Bettrand sitzen. Während vier Monaten konnte Denis sich nicht bewegen und lag in nur einer einzigen Position. Fast komplett paralysiert, konnte er nur seinen Kopf, einen seiner Arme, seine Hand, und ein wenig sein rechtes Bein bewegen.

Die ersten zwei Wochen im Bett sind ein Albtraum. „Du siehst dich als ein normaler Mensch, und dann wachst du auf und fragst dich: Was ist los mit mir? Es war sehr traumatisch.“ Nahe am Fenster liegend, kann Denis draußen Spaziergänger beobachten und Paare, die Spaß haben, was ihn noch trauriger macht. „Die ersten Monate waren eine Zeit der Unsicherheit, weil keiner mir sagen konnte, was mit mir passieren würde, ob ich wieder gehen könnte.“ Weil ihm die Lebenslust fehlt, ist sein Ziel in diesen Momenten einfach einzuschlafen. Während dieser Zeit schreibt er dreimal seinen Kollegen an der Front, wieso sie ihn gerettet haben. Sie hätten ihn dort sterben lassen sollen; anstatt, dass er nun so leben müsse.

Der erste hilfreiche Gedanke, den Denis hat, ist, dass das Ganze ein Albtraum ist, aus dem er bald aufwachen wird. Dabei hilft ihm ein Psychologe. „Unser Rehabilitierungsprogramm basiert auf dem amerikanischen System. Viele kritisieren dieses System, aber mir hat es sehr geholfen. Sie bauen dich geistig auf, indem sie die richtigen Gedanken fördern, damit du weitermachen kannst.“

Die Psychologen versuchen Denis beizubringen, dass die momentane Situation irreversibel ist und sich nicht mehr ändern wird, dass er sich selbst und die Situation so akzeptieren muss, wie sie ist. Ab jetzt muss er so leben. Einer seiner Psychologen ist ein ehemaliger Hubschrauberpilot, sitzt im Rollstuhl und hilft Denis bis heute mit seiner Situation klarzukommen. Sowohl die eigene Erfahrung als auch der höhere Rang des Majors wirken auf Denis, weil er einen hochrangigen Offizier ernster nimmt.

Auch Kunsttherapie hilft ihm. Es geht darum, Karten zu interpretieren. „Man erkennt etwas in den Karten und erklärt, wieso man etwas sieht. Desto mehr man über seine Verwundung spricht, desto mehr hilft es einem, zu akzeptieren, was passiert ist und es hilft zu verarbeiten und nicht ständig in dieser Situation zu leben.“

Ebenfalls geholfen hat das malerische Ausdrücken von Gefühlen. „Man malt alles, was einen beunruhigt und was einen beschäftigt. Man realisiert, dass man ein Problem hat, man akzeptiert das Problem und wenn man weiß, was das Problem ist, dann kann man es auch bekämpfen.“ Denis malt schwarze Raben, blutige Augen. Sie repräsentieren machtlose Wut. Im Schlaf kriegt Denis manchmal Panikattacken. Aber die Therapie wirkt. Die Erinnerungen und Albträume packen ihn heute nicht mehr.

„Hast du Erich Maria Remarque gelesen? Es hat mir sehr viel geholfen. Aufgrund meiner eigenen Erfahrung kann ich dir sagen, dass er die Emotionen der Soldaten sehr gut beschreibt. Ich konnte die Parallelen zum richtigen Leben spüren.“ Denis liest gerne – nicht nur die Romane von Remarque, die das Leben der Soldaten und Zivilisten sowohl im Krieg als auch nach dem Krieg adäquat beschreiben, sondern auch dystopische, postapokalyptische Bücher, wie „The Road“ von Cormac McCarthy.

„Beim Lesen habe ich auch angefangen, mir philosophische Fragen zu stellen. Zum Beispiel am Ende von „Im Westen Nichts Neues“. Weil der Krieg zu lange ging, haben sie angefangen sich Fragen zu stellen: Wieso muss ich in diesem Schützengraben sitzen, wieso muss ich den anderen im Schützengraben umbringen?“ Denis findet Gefallen am Denken, weil man Fakten hinterfragen und von Frage zu Frage weitergehen kann. „Die Philosophie hilft im Leben.“ So erklärt sich Denis auch seine Gedanken zur Religion, seinen Glauben an Gott und seine Konfessionslosigkeit. „Ich denke, dass Gott will, dass wir unsere Feinde zerstören, aber er tut es nicht direkt vom Himmel aus. Er gibt mir die Waffe, um für mein Land und mein Territorium zu kämpfen.“

Sich jemals an das Ereignis der Verwundung erinnern zu können, spielt für Denis keine Rolle, weil die Bewusstlosigkeit nun mal einfach passiert ist. „Meine Verwundung betrachte ich als maximale Wiederherstellung meiner selbst in etwas Neues.“ Viel Schmerz, viel Schock, aber ein neuer Zustand und ein neues Leben. „Ich sage zu meinen Freunden: mein altes Ich ist in diesem Schützengraben geblieben, mein altes Ich gibt es nicht mehr, der Typ, der ins Krankenhaus kam, ist ein neues Ich.“ Es gibt eine Person von Denis vor und nach dem Ereignis. „Aber ich bin immer noch eine ganze Person.“

Denis will zurück ins Militär und helfen, was genau, ist nicht so wichtig. Administrative Arbeit, oder als Ausbilder für neue Rekruten. Dann könnte er seine Erfahrung, sein Fachwissen und – können teilen.

***

„Es gibt aber auch einen Unterschied zwischen Remarques und meinen Erfahrungen. Er hat nicht auf seinem eigenen Territorium gekämpft,“ sagt Denis abschließend. Es stimmt. Remarques „Im Westen Nichts Neues“ ist ein Antikriegsroman, weil die anfängliche Euphorie und Kriegsbegeisterung der Soldaten am Horror und Schrecken der Kriegsrealität zugrunde gingen. Irgendwann wussten der junge Remarque und seine Kameraden nicht mehr wieso und für was sie überhaupt im Westen, weit weg von zu Hause, kämpfen. Der Sinn des Ganzen ging ihnen abhanden.

Bei Denis und Vitalii scheint das nicht der Fall zu sein. Auch sie haben Horror und Schrecken erlebt, aber gerade, weil der Krieg die von außen aufgezwungene Realität ist, ging der Sinn der ganzen Sache nie richtig verloren. Denis und Vitalii wussten ganz genau vor als auch während den Gefechten was sie taten, und wissen es auch immer noch. Sie haben für Freiheit und Souveränität auf dem eigenen Territorium gekämpft, nicht weil Krieg begeistert.


Olivier Del Fabbro ist ein luxemburgischer Philosoph und lehrt als Oberassistent an der ETH Zürich. Er forscht unter anderem zur Philosophie des Krieges und reiste für forum in die Ukraine.

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code