Zweifellos gibt es die Art von Themen, an denen man sich nur die Finger verbrennen kann. Doch selbst wenn die Fingerkuppen brennen, so ist Schweigen keine Option. So erging es mir vor einem Jahr und so sehe ich das auch heute noch. Denn die Welt, die ich zu kennen glaubte, machte mit jedem vorbeistreichenden Monat immer weniger Sinn. Es verging kein Tag, an dem man nicht mit einer herzzerreißenden Schlagzeile oder einem verstörenden Bild konfrontiert wurde. „Mehrere Journalisten bei Angriff auf Klinik getötet“[1], „Offiziell Hungersnot in Gaza: Leben Zehntausender Kinder bedroht“[2], „Israel startet Großoffensive auf Gaza-Stadt“[3] …
Krankenhäuser und Sanitätskräfte werden nach wie vor bombardiert, Hilfslieferungen an der Grenze weiterhin verweigert, Menschen (ver)hungern gelassen. Laut dem Statista Research Department[4] wurden seit Kriegsbeginn 65 062 PalästinenserInnen getötet. Diese Zahl entspricht auch in etwa den Angaben des Hamas-Gesundheitsministeriums, welche die UN als glaubwürdig anerkennt. Bei einer im Juni dieses Jahres veröffentlichten wissenschaftlichen Studie[5] liegt die Zahl sogar noch erschreckend höher: Laut den Ergebnissen soll es allein im Zeitraum von Oktober 2023 bis Anfang Januar 2025 75 200 Tote gegeben haben.
2024 war das tödlichste Jahr für JournalistInnen: Israel war für fast 70 Prozent der Todesfälle verantwortlich[6], mehr als 200 wurden bisher insgesamt getötet. Rund 1,9 Millionen Menschen, also 90 Prozent der Bevölkerung in Gaza, gelten als Binnenvertriebene.[7] Die Integrated Food Security Phase Classification-Initiative hatte Mitte August erklärt, dass eine halbe Million Menschen von einer „zur Gänze menschengemachten“ Hungersnot betroffen ist. In den kommenden Monaten riskieren mindestens 132 000 Kinder unter fünf Jahren an Hunger zu sterben. Gaza hat weltweit die höchste Anzahl an Kindern mit Amputationen.[8] Und und und …

Mehr als 100 Menschenrechts- und Hilfsorganisationen sowie Betroffene vor Ort beteuern die Faktizität dieser entsetzlichen Umstände und trotzdem: Nichts wird unternommen. Nein, die israelische Regierung weist weiterhin unverhohlen jegliche Vorwürfe von sich ab. Die getöteten JournalistInnen seien „Missgeschicke“ gewesen und eine Hungersnot in Gaza gebe es nicht. Man bemühte sich sogar, fleißig Propaganda-Werbespots auf YouTube zu schalten, um der Öffentlichkeit verzweifelt das Gegenteil zu beweisen.[9] Und jeder, der Kritik übt, spielt der Hamas in die Hände oder macht sich des Antisemitismus schuldig. Oder beides. Vorwürfe, die auch ich mir bereits habe gefallen lassen müssen.
Sowohl die weltweit führende Vereinigung von Völkermordforschern[10] als auch die unabhängige Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtsrates[11] sehen die rechtlichen Kriterien für einen Genozid gemäß der UNO-Konvention von 1948 als erfüllt an. Der renommierte US-israelische Holocaustforscher Omer Bartov teilte diese Einschätzung bereits im Mai 2024, nachdem die israelischen Streitkräfte in Rafah einrückten und ganz gezielt jegliche Infrastruktur zerstörten. „Wer heute immer noch leugnet, was sich dort abspielt, verweigert schlicht die Realität“, so Bartov.[12] Israel führt einen Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung und praktiziert Kollektivbestrafung für die entsetzlichen Verbrechen der Hamas am 7. Oktober 2023, denen fast 1200 Menschen zum Opfer fielen. Für viele war dies vor mehr als einem Jahr schon eindeutig, viele weitere haben es inzwischen auch erkannt. Einige andere wollen es leider nach wie vor nicht einsehen und bemühen sich äußerst, diesen Vorwurf zu entschärfen.
So wie der neue Bericht des Begin-Sadat-Centers für Strategische Studien (BESA) der Bar-Ilan-Universität: Dieser habe nachgewiesen, dass die Anschuldigungen politisch motiviert und die vorhandenen Daten nicht zu belegen seien. Von einer Politik der Aushungerung zu sprechen sei nicht haltbar und die Anzahl ziviler Opfer sei kein Beleg für Völkermord, sondern bewusst von der Hamas einkalkuliert, „um das Bild eines Genozids zu erzeugen“.[13] Der Rechtsbegriff des Völkermords verlange den Nachweis, dass ein Staat mit systematischer Absicht die Vernichtung einer ganzen Bevölkerungsgruppe plane und betreibe und diese sei nicht im Ansatz erkennbar. Folgende Zitate[14] israelischer Regierungsmitglieder könnten allerdings genau das Gegenteil vermuten lassen:
„Ich habe eine vollständige Belagerung des Gazastreifens angeordnet. Es wird keinen Strom, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff geben, alles ist geschlossen. […] Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend.“[15] ‒ Yoav Gallant, ehemaliger Verteidigungsminister Israels, am 9. Oktober 2023 „Es ist eine ganze Nation da draußen, die dafür verantwortlich ist. Diese Behauptung, dass die Zivilbevölkerung nichts davon wusste und nicht daran beteiligt war, ist absolut falsch.“[16] ‒ Isaac Herzog, Präsident Israels, am 13. Oktober 2023 „Wir sind das Volk des Lichts, sie sind das Volk der Finsternis, und das Licht wird über die Finsternis triumphieren. Wir werden die Prophezeiung Jesajas verwirklichen.“[17] ‒ Benjamin Netanjahu, Premierminister Israels, am 25. Oktober 2023 „In der heutigen globalen Realität ist es unmöglich, Krieg zu führen – niemand auf der Welt würde zulassen, dass wir zwei Millionen Bürger hungern und dürsten lassen, auch wenn es gerecht und moralisch vertretbar wäre, bis sie unsere Geiseln freilassen.“[18] ‒ Bezalel Smotrich, israelischer Finanzminister, am 6. August 2024 |
Vor zwei Monaten hat Verteidigungsminister Israel Katz sowohl mit der völligen Zerstörung von Gaza-Stadt gedroht als auch die komplette Einnahme der Stadt genehmigt.[19] Finanzminister Smotrich hat im Mai (2025) bei einer „Siedlungskonferenz“ seine Vision für den Gazastreifen mitgeteilt: „Innerhalb weniger Monate werden wir verkünden können, dass wir gewonnen haben. Gaza wird vollständig zerstört sein. […] Sie [die EinwohnerInnen] werden völlig verzweifelt sein, weil sie erkennen, dass es in Gaza keine Hoffnung und nichts gibt, wonach sie streben könnten, und sie werden nach einem neuen Zuhause suchen, um an anderen Orten ein neues Leben zu beginnen.“ In Anbetracht dessen erklärte er, dass die Neubauten im Gebiet E1 „die Art und Weise sind, wie wir den de facto palästinensischen Staat zerstören“.[20]
Und die Vergehen Israels beschränken sich nicht nur auf den Gazastreifen oder die illegal besetzten palästinensischen Gebiete. Auch die Souveränität umliegender Länder wurde mehrmals verletzt: Neben dem Iran, Syrien, dem Libanon und dem Jemen hat Israel nun auch noch Katar bombardiert.[21] Die Nation, die sich seit Kriegsbeginn unermüdlich als Mediator mit der Hamas und Israel an den Verhandlungstisch setzt, um einen Waffenstillstand auszuarbeiten. Man könnte fast meinen, Israel wolle gar keinen Frieden … Wo und wann wird die Grenze gezogen? Wann ist die rote Linie überschritten, von der schon seit mehr als einem Jahr immer wieder die Rede ist?
Es ist schon längst kein Geheimnis mehr, dass es das Ziel der israelischen Regierung ist, ganz Gaza einzunehmen: Koste es, was es wolle. Und diese Eroberungskampagne wird nicht nur Menschenopfer kosten, sondern auch Geld. Aber wer kann das bezahlen?
Alles mit der Ruhe!
Auch wenn Deutschland (fast zwei Jahre und eine halbe Milliarde Euro später) nun beschlossen hat, die Ausfuhr von Rüstungsgütern „einzuschränken“[22] und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 10. September in Straßburg (den längst überfälligen Vorschlag) verkündet hat, Zahlungen an Israel wie auch das Freihandelsabkommen mit ihnen wegen des Vorgehens im Gazastreifen auszusetzen[23], so muss Israel trotzdem nicht auf die alleinige finanzielle Spende der Vereinigten Staaten von Amerika setzen, um dem Traum der Nahost-Riviera näher zu kommen.
Nein, wieso auch?! Auf die luxemburgische Finanzaufsichtsbehörde ist schließlich Verlass. Die Commission de surveillance du secteur financier (CSSF) hat nämlich den Verkauf israelischer Staatsanleihen auf dem europäischen Finanzmarkt genehmigt, nachdem Irland aus offensichtlichen Gründen die Finger davon gelassen hat.[24] Uns kann es ja offenbar egal sein, für welche Zwecke Israel die Erlöse verwendet. Aber wer hat hier grünes Licht gegeben?
RTL hat nachgefragt. Das Außenministerium hat auf das Finanzministerium verwiesen, dieses hat die Anfrage wiederum an die CSSF weitergeleitet. Auf die Frage hin, ob letztere die Wahl gehabt habe, die Zulassung abzulehnen, gab es von der Finanzaufsicht keinen Kommentar.[25] Auf wessen Mist diese Affäre gewachsen ist, wird uns wohl so schnell nicht mitgeteilt werden. Den rezentesten Informationen zufolge „liege der Ball nun beim Außenministerium“[26], so die Opposition und CSSF-Direktor Claude Marx. Letzterer könne die sogenannten „Israel bonds“ erst vom Markt zurückziehen, wenn die Regierung sich klar für nationale Sanktionen gegen Israel ausspreche.
Aber die aktuelle Regierung tut sich ja schon länger schwer mit konkreten Stellungnahmen, wie auch in den letzten zwei Jahren bei der Anerkennung eines palästinensischen Staates. Außenminister Xavier Bettel hatte bisher immer wieder betont, dass es einfach noch nicht den passenden Zeitpunkt gegeben habe. Das wäre reine „Symbolpolitik“, meinte er. Ich habe, ehrlich gesagt, nie ganz verstanden, wie man sich für die Zweistaatenlösung einsetzen kann, während man einen der beiden besagten Staaten nicht anerkennt. Es bräuchte zunächst einen Waffenstillstand, sagte er am 2. Juli, als die Petition N°13528, die Sanktionen gegen Israel forderte, in der Chamber debattiert wurde. Natürlich sei die Chamber entsetzt darüber, was im Gazastreifen passiert, und sie würde auf europäischem Niveau alles dafür tun, eine Blockade zu unterstützen, aber sie sei sich uneinig darüber, ob Luxemburg nationale Sanktionen beschließen sollte, für welche es scheinbar keine legale Basis habe. Der Außenminister würde sich aber um eine Analyse möglicher Maßnahmen bemühen und diese der Chamber Ende des Jahres zukommen lassen.[27] Die Vorwürfe der Petitionäre, Luxemburg würde nichts unternehmen, sich zum Komplizen machen und die Augen verschließen, seien allerdings falsch, sagte Bettel.
Tatenlosigkeit in Anbetracht eines Völkermords ist ja die eine Sache, aber der rezente Beschluss der CSSF kommt aktiver Unterstützung gleich. War das etwa alles nur Symbolrhetorik, Herr Bettel?
Nein, denn „Palästina braucht jetzt eine Möglichkeit, als Staat zu existieren.“[28] So der Außenminister am 13. September im Interview mit dem Luxemburger Wort. Er und Premierminister Luc Frieden haben endlich beschlossen, dass Luxemburg Palästina bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York als Staat anerkennen wird. Der „richtige Zeitpunkt“ ist wohl jetzt gekommen. Wo genau der Sinneswandel herrührt, kann man nur vermuten … Die Lage scheint nun opportun genug, dass man sich trauen kann. Inwiefern dies keine reine Symbolpolitik mehr ist, müssen die Herren Minister nun aber noch unter Beweis stellen und Taten folgen lassen. Es bleibt abzuwarten, aber mein Optimismus hält sich schon länger in Grenzen.

[1] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/gaza-krankenhaus-journalisten-100.html
[2] https://www.diepresse.com/20020284/offiziell-hungersnot-in-gaza-leben-zehntausender-kinder-bedroht
[3] https://www.tagesschau.de/video/video-1498048.html
[4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417316/umfrage/opferzahlen-im-terrorkrieg-der-hamas-gegen-israel/
[5] Michael Spagat, Jon Pederson, Khalil Shikaki et al., Violent and Nonviolent Death Tolls for the Gaza War: New Primary Evidence, 23. Juni 2025, https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2025.06.19.25329797v3.full
[6] https://www.spiegel.de/ausland/studie-2024-so-viele-journalisten-getoetet-wie-nie-a-0e9c13da-ec40-4a64-b194-00e08ef120d7
[7] https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/gaza-begeht-israel-voelkermord-stimmen-internationale-wissenschaftler
[8] https://www.handicap-international.ch/de/neuigkeiten/in-gaza-gibt-es-nur-neun-prothesen-und-orthesen-techniker-innen-fur-die-versorgung-tausender-menschen-mit-amputationen#:~:text=Mehr%20als%204000%20von%20ihnen,Zahl%20an%20amputierten%20Kindern%20auf
[9] https://www.derstandard.de/story/3000000285851/wie-israels-aussenministerium-in-werbungen-die-hungersnot-in-gaza-als-luege-darstellt
[10] https://apa.at/news/forscher-kriterien-fuer-genozid-durch-israel-in-gaza-erfuellt/
[11] https://orf.at/stories/3405590/
[12] https://www.ipg-journal.de/interviews/artikel/man-muss-es-voelkermord-nennen-8447/
[13] https://www.juedische-allgemeine.de/israel/studie-voelkermordvorwuerfe-gegen-israel-nachweislich-unhaltbar/
[14] Ich habe diese Wahl an Zitaten getroffen, da sie als Beweislage für Genozid-Absichten in der Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof vorgelegt wurden.
[15] https://www.youtube.com/watch?v=ZbPdR3E4hCk
[16] https://www.theguardian.com/world/2025/sep/04/who-is-isaac-herzog-named-in-icj-ruling-for-incendiary-comments-fuelling-israel-gaza-war
[17] https://momentmag.com/israeli-politicians-incitement-quotes/?srsltid=AfmBOoo_yKITGHPlD4M3NV1svV0Nn1nGmyk3Ki595sG6egQ6nWY_DLnz
[18] https://edition.cnn.com/2024/08/06/middleeast/israeli-minister-smotrich-starve-gazans-intl
[19] https://www.deutschlandfunk.de/verteidigungsminister-katz-droht-mit-zerstoerung-von-gaza-stadt-einsatzplaene-gebilligt-102.html
[20] https://www.timesofisrael.com/smotrich-says-gaza-to-be-totally-destroyed-population-concentrated-in-small-area/
[21] https://www.aljazeera.com/news/2025/9/10/maps-israel-has-attacked-six-countries-in-the-past-72-hours
[22] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/deutschland-ruestungsexporte-israel-100.html
[23] https://www.deutschlandfunk.de/von-der-leyen-eu-kommission-setzt-zahlungen-an-israel-aus-wadephul-und-dobrindt-reagieren-skeptisch-100.html
[24] https://www.wort.lu/wirtschaft/irlands-rueckzug-oeffnet-tuer-fuer-luxemburg-bei-umstrittenen-israel-anleihen/87411980.html?utm_source=wort&utm_medium=newsletter&utm_content=top_teasers_no_bg&utm_term=1-1&utm_campaign=evening_edition_daily
[25] https://www.rtl.lu/news/national/a/2334243.html
[26] Ana Angel & Jo Diseviscourt: „„Israel bonds“: Ball läit elo beim Ausseministère, esou d’CSSF an d’Deputéierter“, am 19. September 2025 auf 100,7.
[27] https://www.chd.lu/fr/meeting/13528
[28] https://www.wort.lu/politik/bettel-palaestina-braucht-jetzt-eine-moeglichkeit-als-staat-zu-existieren/89921856.html?utm_source=wort&utm_medium=newsletter&utm_content=top_teasers_with_bg&utm_term=0-0&utm_campaign=morning_edition_weekend
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