Netflix und die Globalisierung der Narrative

Was der Film Sicario und die Serie Narcos über die Schwäche Hollywoods und die neuen Erzählstrategien der Streamingplattformen aussagen

Sicario von Denis Villeneuve erzählt auf raffinierte und doch recht simple Art eine Rachegeschichte. Raffiniert, weil der Zuschauer genau so unwissend in die Geschichte hineinkatapultiert wird wie die ehrgeizige FBI-Agentin Kate Macer (Emily Blunt). Simpel, weil die Story nicht über das Plot eines einfachen Westerns à la „Unforgiven“ hinausgeht.

Benicio del Toro mimt den schweigsamen Helden, der vom mexikanischen Staatsanwalt zum titelgebenden Sicario – einem Auftragskiller – mutiert ist und ins berühmt-berüchtigte Ciudad Juarez zurückkehrt … „with a vengeance“. Villeneuve legt vor der texanisch-mexikanischen Kulisse eine Art modernen Western mit klassischer Rachegeschichte vor, ein Genre, das so alt ist wie Hollywood selbst. Hinzu kommt eine entsprechend gelungene düstere Musik von Jóhann Jóhannsson und eine geschickte Kameraführung, die uns Authentizität und Immersion ins Geschehen suggeriert.

Keine Frage, es ist ein solider Thriller. Das Problem des Filmes liegt jedoch jenseits technischer und formal-ästhetischer Aspekte. Er begnügt sich wie so viele Hollywoodfilme damit, „Gewaltexzesse anprangernd auszukosten oder moralische Urteile zu fällen“ und bedient sich gekonnt jener morbid-faszinierender Ästhetik des Schreckens, die wir aus thematisch ähnlich gelagerten Filmen wie Ridley Scotts The Counselor (2013) oder Oliver Stones Savages (2012) kennen. Der Regisseur vermischt diese sogar mit der Optik und der Ikonographie von Kriegsfilmen über Afghanistan und Irak. Das Problem des Filmes liegt genau in dieser Kriegsmentalität und der Ideologie, die dem Zuschauer mit düsteren Hochglanzbildern verabreicht wird.

Kriegslogik statt Rechtsstaat

In ihren „War on Terror“-Einsätzen setzen die USA vermehrt auf Drohneneinsätze und einen „low footprint“, was den Einsatz von Bodentruppen betrifft, sprich: Gegner und mutmaßliche Terroristen werden von Drohnen und Spezialeinheiten eliminiert, ohne dass es zu einem Prozess kommt. Zum Teil passiert dies zudem in Ländern, in denen die US-Streitkräfte nicht operieren dürften. Sowohl völkerrechtlich als moralisch ist dies also mehr als fragwürdig. Genau dieses Aufgeben des „moral highground“ wird auch in Sicario als alternativlos propagiert. Um das Böse zu bekämpfen, müssen höhere Ideale geopfert werden. Emily Blunt, deren Figur am Geschehen zerbricht, personifiziert eben diese rechtsstaatlichen Ideale.

Reise ins Herz der Finsternis

Mexiko erscheint in der Bildsprache des Filmes wie ein unkontrollierbares Bandengebiet ohne Regierung, in dem an jeder Ecke geschändete Leichen an Brücken hängen. Nachts fliegen Kugelsalven und Panzerabwehrraketen hin und her; betreten können die Amerikaner das Land nur mit gepanzerten Wagen und in Konvois mit schweren MGs. Und zur Warnung bekommen die von einem Navy-SEAL-Team begleiteten FBI- und CIA-Agenten auf dem Weg nach Mexiko den Satz mit auf den Weg: „Everybody is a possible shooter.“ Jeder Mexikaner. Zum Glück – wird dem Zuschauer vermittelt – gibt es da die Grenzmauer, gegen die all dieser lateinamerikanische Wahnsinn anbrandet.

Nun geht es hier nicht darum, die Bandenkriminalität und die Brutalität der Kartelle kleinzureden. Allein das Verschwinden hunderter Menschen in Ciudad Juárez ist eine Schande für den mexikanischen Staat. Aber in der Hollywood-Narrative ist Mexiko schlicht Kriegsgebiet, das barbarische Herz der Finsternis, und eine quasi militärische Intervention notwendig, um die Zivilisation zu retten. Das ist ein stark bevormundender, ja kolonialer Blick auf eine fremde Kultur. Der Vergleich mit Bagdad oder Kunduz liegt nahe und scheint gewollt. Die Angst vor den Mexikanern erinnert an die Angst der US-Soldaten, die sich in Irak und Afghanistan nur gepanzert auf die Straßen trauen können. Jeder könnte ein möglicher Terrorist sein. Die Parallele wird besonders
dann offensichtlich, wenn man bedenkt, dass die Spezialeinheit, welche die Agenten auf ihrer Mission beschützt, gerade aus Afghanistan zurückgekehrt ist: „War on Terror“ und „War on Drugs“ werden gleichgesetzt. Mexiko ist nur ein weiteres Einsatzgebiet.

Man setzt nicht mehr auf Ermittlungen, Prozesse und Verhandlungen mit Regierungen, die – das muss man zugeben – teilweise korrupt sein können, sondern auf gezielte Tötungen in souveränen Staaten. Anscheinend, so eine der Figuren des Films, mache das alleine „a true difference“. Und die von Benicio del Toro gespielte Figur erscheint letztlich – da fast ohne Dialog, Mimik oder Hintergrundgeschichte – wie eine menschliche Kampfdrohne, wenn er ohne Skrupel mexikanische Polizisten und die gesamte Familie eines Drogenbosses samt Kleinkindern exekutiert.

Diese vermeintlich sehr amerikanische Geschichte sagt ungewollt vielleicht mehr über den Zustand einer Nation nach einem Jahrzehnt „War-on-Terror“ und Geheimgefängnissen als über Mexikos Probleme aus. Diese USA haben die Ideale und die Fundamente, auf denen sie aufgebaut wurden, verloren. Und die Frage stellt sich, ob der Film eventuell die Grenzen, die Filmen „made in Hollywood“ gesetzt sind, aufzeigt. Sie sind trotz Globalisierung und einem wachsenden lateinamerikanischen Publikum unfähig oder unwillens die US-amerikanische Perspektive auf die Welt aufzugeben oder durch eine differenzierte Darstellung der Fremde zu durchbrechen.

Neue Perspektiven dank Streamingplattformen

Die einseitige Weltsicht aus Sicario tritt um so deutlicher zutage, wenn man den Film mit der 2015 von Netflix produzierten und von südamerikanischen Regisseuren inszenierten Serie Narcos vergleicht. Das Thema ist ein ähnliches, es geht um Aufstieg und Fall des kolumbianischen Drogenbosses Pablo Escobar (Wagner Moura), doch die Herangehensweise ist eine diametral entgegengesetzte.

Die Macher der Serie haben erkannt, dass das Internet ihr Produkt auch dem Rest der Welt zugänglich macht, und haben es gewagt, sich für das spanischsprachige Publikum zu öffnen. Die Serie wurde fast integral auf Spanisch und mit südamerikanischen Schauspielern gedreht. Zu den narrativen Entfaltungsmöglichkeiten, die das – Romanen nicht unähnliche – Format der Serie ohnehin bietet, kommt so ein kultureller Perspektivenwechsel hinzu, der für teuer produzierte Serien bislang fehlte. Dieser Schritt macht erzählbar, wie die Zivilgesellschaft in Kolumbien, also überaus mutige Politiker, Bürger und Polizisten, zum Fall Escobars beitrugen. Wohlwissend, dass sie dies mit ihrem Leben bezahlen würden. Die Lateinamerikaner sind nicht mehr nur wehrlose Opfer und „possible shooters“, sondern sie setzen sich unter Einsatz ihres Lebens für die gute Sache ein. Zudem sind es letztlich – trotz aller Korruption – Ermittlungen und Prozesse, die Escobar zu Fall bringen. Vorangetrieben durch intelligente Beamte und den Willen politischer Verantwortlicher, ihr Land wieder auf die Beine zu stellen, ihm die Würde wiederzugeben, die das organisierte Verbrechen ihm nahm. Hier wird deutlich: Persönliche Rachefeldzüge und einsame Rächer machen nicht die „true difference“, sondern Veränderungen im System, auch wenn sie anfangs nur von einigen wenigen getragen werden.

„Lost in translation“

Es ist nicht ohne Ironie, dass der FBI-Agent Steve Murphy (Boyd Holbrook), der dem kolumbianischen Ermittler Javier Peña (Pedro Pascal) zur Seite gestellt wird, anfangs „nur Spanisch versteht“, d. h. er begreift die Situationen, in die er gerät, nicht und ihm entgehen Informationen, da er Dialogen nicht folgen kann. Folglich passt er sich auch nur langsam seinem neuen Umfeld an, das gleichermaßen vom magischen Realismus und der banalen Brutalität Südamerikas durchtränkt ist… Murphy erkennt allerdings irgendwann, was die USA an ihrer Herangehensweise ändern müssten. Andere Repräsentanten der USA in Kolumbien kommen in Narcos nie von ihrem Fehllesen der Situation ab; die US-Botschafterin lebt ohne Kontakt zur Realität in Kolumbien. Und ein ideologisierter Vertreter der Streitkräfte fordert dauernd Geld und Männer, um vermeintlich gefährliche linke Guerillagrüppchen im Urwald auszuräuchern. Er entzieht Murphy so dringend benötigte Ressourcen, da der Kampf gegen Diskussionsgruppen übermütiger linker Studenten, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, im Kalten Krieg Priorität hat. „Communists. Remember those?“, ironisiert der Erzähler (der pensionierte Murphy) dann auch rückblickend.

Das System der Drogenkartelle

In Narcos wird zudem deutlich, dass die USA nicht ganz unschuldig am Phänomen der Drogenkartelle sind. In Sicario hingegen wird nur in einem einzigen Satz erwähnt, dass die Kartelle überleben, weil die amerikanische Elite die Drogen konsumiert. Das ist der Vorteil der Serie, sie muss – da sie nicht unter Zeitdruck leidet – nicht an der Oberfläche verharren und uns simplistische Rachegeschichten als Lösung für soziale und wirtschaftliche Probleme auftischen. In der Serie werden das durch und durch kapitalistische System, die maßlose Gier, die ideologische Verblendung und die Scheinheiligkeit entlarvt, die dem Drogenhandel zugrunde liegen, ihm sogar Auftrieb verleihen. In Sicario wird lediglich das Symptom mit Gewalt entfernt – nur damit es sich nach neuen Bandenkriegen regeneriert.

Narcos zeigt uns das menschlich Allzumenschliche, macht uns Kolumbien verständlich, Sicario unterhält uns hingegen mit schablonenhaften Figuren, die hart an der Grenze zu Klischees stehen. Dass Unterhaltung und Komplexität jedoch durchaus Hand in Hand gehen können, dass die globalisierte Welt neue, andere Perspektiven braucht und verträgt als die monolithische Narrative Hollywoods, ja dass dies eine Bereicherung für den globalen öffentlichen Diskurs ist, das wird deutlich, wenn man diese Produktionen, die beide Authentizität beanspruchen, vergleicht. In diesem Sinne sind Produktionsfirmen und Streamingplattformen wie Netflix weitaus innovativer; sie brechen das diskursive Monopol Hollywoods effektiver als Jahrzehnte nationaler Kinoproduktionen in Europa
und Südamerika.

Genutzte Literatur kann beim Autor erfragt werden.

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