- Gesellschaft, Politik
Ein ganz normaler Tag?
Ich bin Krankenpfleger bei der „Équipe ESSAD“ (Équipe soins spécialisés à domicile) von SHD (Stëftung Hëllef Doheem) im Bereich Palliativpflege. In der Regel beginnt mein Dienst mit einem kurzem Briefing und Kaffee in unserem Büro in Steinsel, danach mache ich mich auf den Weg zu meinem ersten Klienten.
Meine erste Pflegeintervention des Tages ist bei einem über 80-jährigen Klienten. Seine Ehefrau ist im Sommer dieses Jahres nach langer Krankheit in einer Klinik gestorben. Sie hatten keine Kinder. Er hat noch Familie, die sich, so gut es geht, um ihn kümmert.
Nach dem Tod seiner Ehefrau hat er seinen Lebensmut verloren. Sein einziger Wunsch ist es, zuhause bleiben zu können und nicht in einer Klinik zu sterben. Mit etwas gutem Zureden – vor allem aber auch Zeit und Zuhören – gelingt es mir, den Klienten dazu zu bewegen, sich von mir pflegen zu lassen und danach trinken wir noch zusammen eine Tasse Kaffee. Er erzählt mir von seiner Ehefrau und ihrem gemeinsamen Leben. Frühstücken möchte er nichts, da er keinen Hunger hat an diesem Morgen, wie öfters in den letzten Tagen.
Die Situation ist nicht einfach, da der Klient häufig die ihm angebotene Unterstützung ablehnt und alleine in seinem Haus bleibt. Dies erhöht leider die Gefahr, dass er beim nächsten Besuch eventuell auf dem Boden liegt, da er aufgrund seiner körperlichen Schwäche gefallen ist oder dass er sogar alleine gestorben ist. Allerdings muss man sich fragen: Wer bin ich / sind wir, dass wir die Entscheidung des Klienten nicht respektieren müssen / sollten, zuhause zu bleiben bis zu seinem Lebensende?
Vor einer Woche fand ein Gespräch mit dem Klienten, seiner Familie, seiner Hausärztin und einem Krankenpfleger des ESSAD statt. Bei diesem Gespräch wurde der Wunsch des Klienten festgehalten, zuhause zu sterben. Die Familie erklärte sich bereit, diesen Wunsch zu respektieren. Die Hausärztin schickte in der Folge
einen Antrag für ein „carnet palliativ“ an die Gesundheitskasse. Desweitern wurde ein Telealarm1 installiert, so dass wir sofort informiert werden, falls dem Klienten etwas passiert.
Danach mache ich mich auf zu dem zweiten Klienten des Tages. Es handelt sich um einen jungen Familienvater, der an einem unheilbaren Tumor mit Lebermetastasen leidet. Er wurde vor einigen Tagen auf eigenen Wunsch aus der Klinik nach Hause entlassen, um dort zu sterben. Die Ehefrau und seine Eltern möchten ihm diesen Wunsch erfüllen. Die Klinikärztin hat uns ein Rezept ausgestellt, sollte der Klient Schmerzen oder sonstige Symptome bekommen und behandelt werden müssen. Außerdem ist die Klinikärztin jederzeit telefonisch für uns erreichbar. Er ist verheiratet, hat zwei kleine Kinder, seine Eltern die weiter entfernt wohnen, sind zurzeit bei ihm. Der Klient ist bei meiner heutigen Visite sehr müde und schläfrig, hat allerdings keine Schmerzen oder sonstige Symptome. Er isst und trinkt immer weniger in den letzten Tagen, da er weder Durst- noch Hungergefühl hat. Vor allem die Mutter des Klienten stellt immer wieder Fragen bezüglich des Sterbeprozesses, möchte wissen, wie lange ihr Sohn noch leben und wie er sterben wird. Ich versuche ihr zu erklären, dass niemand eine Prognose über die noch verbleibende Lebenszeit stellen kann, es aber aller Wahrscheinlichkeit nur noch einige Tage sind … Bezüglich des „wie?“, erkläre ich der Familie, dass der Klient aufgrund seiner Lebermetastasen immer mehr schlafen und vermutlich auch im Schlaf sterben wird. Falls er doch Schmerzen oder andere Symptome wie Verschleimung der Luftröhre oder ein Lungenödem bekommt, können wir ihm die entsprechenden Medikamente geben, um die Symptome zu lindern.
Da der Klient jetzt etwas wacher ist, wasche ich ihn zusammen mit seiner Ehefrau im Bett. Zwischendurch kommt
seine Tochter ins Zimmer, um zu schauen wie es dem Vater geht. Sie gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Um mit dem Kind ins Gespräch zu kommen, untersuche ich ihren Teddy. Als ich mich später von dem Klienten und seiner Familie verabschiede, zeigt mir die Tochter ihre Puppensammlung, die sie im Wohnzimmer ausgebreitet hat. Ich setzte mich zu dem Kind und wir spielen einige Zeit zusammen …
Den Wunsch meiner Klienten nach einem Sterben zuhause, versuche ich durch meine tägliche Arbeit zu erfüllen, soweit dies möglich ist. Hierbei spielt die Zusammenarbeit zwischen mir und den behandelnden Ärzten (Hausarzt und Klinikarzt) eine große Rolle.
Nach diesem Besuch mache ich meine Pause, trinke einen Kaffee und versuche dabei etwas Abstand zu dieser Situation zu finden. Nach diesem kurzen Moment der Ruhe, mache ich mich auf zur letzten Pflegeintervention auf meiner heutigen Tour. Ich besuche einen Klienten, den wir schon länger begleiten. Er ist seit einigen Jahren an einem Lungentumor erkrankt. In den letzten Wochen hat er vermehrt Luftnot, sobald er sich körperlich anstrengt. Trotzdem möchte er sein Leben und seine Wohnung noch selbst organisieren. Vor allem legt er sehr großen Wert darauf, so lange wie irgend möglich sich selbst zu waschen. Er ist geschieden, lebt alleine und erhält regelmäßigen Besuch von seinem erwachsenen Sohn, der auch mit ihm zusammen einkaufen fährt. Während meiner heutigen Pflegeintervention führe ich verschiedene Übungen der palliativen Atemtherapie durch, bei denen er immer gut entspannen kann. Während dieser Übungen hören wir fernöstliche Meditationsmusik. Er fuhr früher öfters nach Asien in den Urlaub und beschäftigt sich schon seit längerem mit Buddhismus und verschiedenen Meditationstechniken.
Nach der Übung sitzen wir noch zusammen im Wohnzimmer und sprechen über seine jetzige Lebenssituation. Er erzählt dann auch aus seinem Leben und von seiner Arbeit. Er genießt es, wenn er einem Ratschläge und Tipps für den Garten geben kann. Er war früher beruflich als Gärtner tätig. Als ich mich verabschiede, bittet er mich, ihm nun doch jemanden zu organisieren, der ihm die Wohnung putzt. Ich verspreche ihm, dass ich mit der Abteilung „Activités de Proximité“, dem nationalen Dienst der Stiftung, welcher unter anderem den hauswirtschaftlichen Bereich organisiert, Kontakt aufnehme, sobald ich im Büro bin. In den nächsten Tagen wird sich die verantwortliche Person aus diesem Bereich bei ihm melden und mit ihm gemeinsam absprechen, wann und wie oft die Haushaltshilfe in Zukunft kommt, um die Wohnung sauber zu halten.
Danach fahre ich zurück ins Büro, spreche mit den Kollegen der „Activités de Proximité“ wegen dieser Anfrage, schreibe einen Bericht von meinen Pflegeintervention und mache zusammen mit den Kollegen das Briefing für die Spätschicht. Zudem plane ich noch die Pflegeinterventionen für den nächsten Tag.
Auf dem Nachhauseweg höre ich gerne Musik, um das Erlebte nochmals Revue passieren zu lassen. Später entspanne ich dann je nach Jahreszeit in meinem Garten oder beim Sport. Abends trinke ich dann manchmal noch ein Gläschen Wein mit meiner Frau. Mir ist es wichtig, jeden Tag aufs Neue mein Leben zu genießen, indem ich jeden Tag versuche so zu gestalten, dass ich abends sagen kann: „Heute war ein guter Tag“. Dies bezieht sich sowohl auf die Situation in der Familie, mit den Kindern, aber auch jene auf der Arbeit.
Für die Klienten und ihre Familien war das sicherlich alles andere als ein „ganz normaler Tag.“ Dies muss uns bei jeder Begleitung bewusst sein. Jede Begleitung ist einmalig. Nicht wir bestimmen, wie eine Begleitung verläuft, sondern die Klienten und ihre Familien. Wir müssen unsere Erfahrungen und unser Wissen einbringen, fachliche Beratung und Unterstützung anbieten, aber wir dürfen die Klienten und ihre Familien auch nicht überfordern. Wir müssen nicht alles sagen, was wir wissen, aber alles was wir sagen, muss wahr sein. Im Vordergrund steht die Kontrolle von Schmerzen sowie von anderen unangenehmen Symptomen, welche auftreten können. Meine Arbeit besteht ebenfalls darin, die psychischen, sozialen und spirituellen Probleme, die in einer solchen existentiellen Lebenskrise auftreten können, zu erkennen und ansprechen zu können. Alltagsgespräche führen mit Familie und Klient, Biografiearbeit machen, lange Gespräche…
Ich werde nie die Aussage meines Schwiegervaters, der auch von einem ambulanten Palliativdienst begleitet wurde, vergessen: „Was muss ich denn der Krankenschwester alles erzählen…?“. Das Gegenteil sollte der Fall sein. Es geht nicht darum, was wir hören wollen, sondern wir müssen in der Lage sein, das zu hören, was die Klienten und Familien bereit sind, uns zu erzählen, und darauf angemessen reagieren. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Klienten nicht auf jede Frage eine hundertprozentig richtige Antwort erwarten, häufig reicht es ihnen, wenn sie jemanden haben, der da ist, um sich die Fragen anzuhören.
Die Herausforderung der palliativen Begleitung in der ambulanten Pflege ist es, eine individuelle holistische Begleitung und Betreuung des Klienten sowie seiner Angehörigen zu ermöglichen, um somit eine Krankenhauseinweisung in der letzten Lebensphase zu vermeiden oder im äußersten Falle die Länge des Aufent-
haltes zu verkürzen. Es ist die umfassende Betreuung und Behandlung von Menschen, deren Erkrankung nicht mehr auf kurative Behandlungsmaßnahmen anspricht. Ziel ist es, unter würdevollen Bedingungen eine bestmögliche Lebensqualität für den Klienten und seine Familie zu erreichen.
In den meisten Gesprächen, die ich mit meinen Klienten und deren Angehörigen führe, geht es nicht nur um Tod und Sterben, sondern meistens um das Leben, die Erinnerungen an gemeinsame Zeiten, viel Schönes, manchmal auch Trauriges, aber in den meisten Fällen überwiegt das Positive in den Lebenserinnerungen. Deshalb spielen Lachen und Humor eine sehr wichtige Rolle in der palliativen Begleitung der Klienten und ihrer Angehörigen.
1 Telealarm ist ein Hausnotrufsystem welches von Sécher Doheem dem Klienten zur Verfügung stellt. Es
funktioniert mittels eines Empfangsgerätes, welches an die Telefonleitung angeschlossen wird sowie einem
korrespondierenden Minisender (Armband, Halskette oder Sturzmelder). Im Notfall wird mittels des Senders ein Notruf ausgelöst. Dieser Dienst funktioniert 7 Tage die Woche, 24 Stunden am Tag.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
