Selbstdenken
Anmerkungen zum so genannten „Werteunterricht“
Zugegeben, die neue Regierung hat in der Sache Laizität des Staates und der Schule einen Schritt gewagt, den man ihr a priori nicht unbedingt zugetraut hätte. Zum neuen „Werteunterricht“ bleiben dennoch Einwände gegen die Prozedur, den Kompromiss mit den Religionsgemeinschaften und die bisherigen offiziellen Texte zu Inhalt und Methode. Die „Arbeitsversion“ vom 11.3.20151 zum Konzept des Fachs unter dem Titel „Leben und Gesellschaft“ (LG) lässt viele Fragen offen.
Warum überhaupt?
Dass es überhaupt so ein Fach geben sollte — nenne man es nun Werteunterricht, Praktische Philosophie oder wie auch immer — ist nicht selbstverständlich. Bereits bei der Einführung der „Morale laique“ 1968 als Alternative zum katholischen Unterricht gab es Fragen und Einwände. Die einen befürchten das Eindringen des Staates in Angelegenheiten, die nur die „Familien“ etwas angehen, wie die moralische Erziehung. Konservative befürchteten subversive Effekte, Linke eher eine ideologische Rechtfertigung bestehender Verhältnisse im Namen von Moral, politischer Bildung oder Staatsbürgerkunde. Die Schule habe die Aufgabe, gesichertes Wissen zu vermitteln, nicht dubiose Wertvorstellungen oder schwammige Moralpräzepte. Und überhaupt: welcher zusätzliche Nutzen habe ein solches Fach, da man die dort behandelten Themen — ethischer und/oder gesellschaftlicher Art — auch in (fast) allen anderen Fächern vertiefen könnte? Bleibt schließlich das Problem der pädagogischen Methode: Einerseits passten die herkömmlichen Unterrichtsmethoden nicht zu einem Fach, das zum eigenständigen Denken anregen soll. Andererseits müsse man sich fragen, wie spezifische, freiere Methoden in eine Schule hineinpassen sollen, die solche anderswo kaum pflege.
Den geneigten Leser_innen sei ein tiefgründigeres Nachdenken über diese Fragen überlassen. Mir scheint, die überzeugende Antwort muss vor allem von der Praxis kommen. Praxis heißt: Programm und Methode. Da hilft schon ein Blick in das Kerncurriculum der heutigen Formation morale et sociale (FMS), in Unterrichtsbücher wie „Gedankenflieger“ (für die Grundschule), den Lehrplan für „Praktische Philosophie“ des Landes Nordrhein-Westfalen, die Publikationen der FMS-Lehrer_innen (ALPE), oder auch ein Blick in die Klassenräume während der FMS-Stunden. Ein solcher Blick führt unweigerlich zur Frage, warum dies alles und die langjährigen Vorarbeiten zu einem „Einheitskurs“ nicht für das neue Fach genutzt wurden. Die einzige Erklärung liegt wohl in der Kompromiss-Logik, in der die Frage von Laizität und „Werteunterricht“ ausgehandelt wurde. Dieser Logik muss man allerdings nicht folgen. Umso weniger, als sie auf einem vielfach geschürten Missverständnis beruht.
Kompromisslogik
Da die FMS das Gegenstück zum Religionsunterricht sei, könne man sie nicht zur alleinigen Basis eines einheitlichen Kurses machen. Denn das hieße, in einer ideologischen Auseinandersetzung die eine Seite auf Kosten der anderen zu bevorzugen. Die ganze Konfusion beruht darauf, dass man Laizität als eine Weltanschauung unter anderen darstellt — wenn nicht sogar als unvereinbar mit den christlichen Werten des Abendlandes — und damit einen ideologischen Streit beschwört. Auch im bisherigen Text zum Fach „Leben und Gesellschaft“ wird diese Konfusion übernommen, gleich im ersten Satz: „Mit dem aktuellen Regierungsprogramm soll die im Jahr 1968 eingeführte Trennung zwischen konfessionellem Religions- und laizistischem Moralunterricht im Luxemburger Schulsystem endgültig abgeschafft werden.“ Es gibt keinen „laizistischen“ Moralunterricht, und es soll ihn auch nicht geben. Aber die falsche Gegenüberstellung rechtfertigt scheinbar die notwendige Suche nach einem „Dritten“ zwischen oder neben den ideologischen Kontrahenten oder nach einer ausgewogenen Mischung von beiden.
Die Laizität ist keine Weltanschauung, sondern das Prinzip der Nichteinmischung des Staates in weltanschauliche Fragen (siehe Kasten). Die FMS ist daher kein ideologisches Gegenstück zum Religionsunterricht, sondern die Anwendung der Laizität auf den Unterricht.
Der Begriff der Laizität (ebenso wie der strittige Begriff der Toleranz) impliziert aber nicht die Gleichwertigkeit der „Meinungen“, die Gleichsetzung von Meinen und Wissen, von Evolutionswissenschaft und Kreationismus. Die Schule hat die Aufgabe (nicht nur in einem Fach wie „Praktische Philosophie“) Kriterien des Wissens zu vermitteln, Methoden der rationalen Argumentation. Zugegeben: Die Gratwanderung zwischen dem Respekt der anderen
Meinung und dem Pochen auf Rationalität und Wahrheit ist schwer. Leicht driftet man ab entweder in Dogmatismus oder in Relativismus. Aber mit gefälligen Formulierungen wie „Toleranz, Respekt und gegenseitiges Verständnis im Umgang mit Diversität“ (Leben und Gesellschaft, Document cadre, Seite 1) wird man der komplexen Problematik nicht gerecht.
Werteunterricht?
Zwar wurde im offiziellen Sprachgebrauch der Begriff „Werteunterricht“ durch „Praktische Philosophie“ beziehungsweise durch den neuen Namen des Faches „Leben und Gesellschaft“ ersetzt. Dennoch geistert bei Gegnern wie Befürwortern des Fachs die Vorstellung, hier gehe es um die Vermittlung von „Werten“. Als könne man „Werte“ unterrichten wie grammatische Regeln oder physikalische Gesetze. Allein der Begriff der „Werte“ wirft mehr Fragen auf, als er Antworten liefern kann (siehe Kasten).
Das neue Fach als Vermittlung von Werten zu verstehen, bedeutet im besten Fall eine unzulässige Vereinfachung, im schlimmsten Fall eine dogmatische Apologie bestehender gesellschaftlicher Normen. Dabei muss eine Erziehung zur Mündigkeit (im Sinne Kants) gerade das Gegenteil anstreben, nämlich die Erkenntnis, dass und wie man herrschende Normen in Frage stellen kann. Etwas naiv formuliert das Document cadre vom 11.3. zu den Menschenrechten: „Diese ideologiefreien und universellen Werte bilden die Grundlage des Kurses.“ (S. 3). Gar nichts gegen das Engagement für Menschenrechte, auch in der Schule! Aber: Gibt es „ideologiefreie Werte“?
Die Erkenntnis, dass das friedliche Zusammenleben der Menschen gewisse Grundregeln erfordert, kann dabei nur das Ergebnis eines selbständig mitgedachten Lernprozesses sein. Der Rekurs auf die Lebenserfahrungen der Kinder kann behilflich sein, wenn er nicht wieder die Reproduktion gängiger Denk-, Vorstellungs- und Verhaltensweisen bedeutet. Weiter kommt man nur mit „Selbstdenken“, schreibt Ernst Bloch. „Wer sich nur dem Zug des Vorstellens überlässt, kommt wenig weit. Er sitzt nach kurzem in einer allgemeinen Gruppe von Redensarten fest, die sowohl blass wie selber unbeweglich sind. Die Katze fällt auf ihre Füße, aber der Mensch, der nicht denken gelernt hat, der aus den kurzen, den üblichen Verbindungen des Vorstellens nicht herauskommt, fällt ins ewig Gestrige. Er wiederholt, was andere wiederholt haben, er treibt im Gänsemarsch der Phrase.“ (Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, 1951)
Die Gretchenfrage
„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.“
Die Frage, ob und wie Religionen im neuen Fach behandelt werden sollen, ist umstritten. Schwer einzusehen, dass sie ein zentrales Thema „Praktischer Philosophie“ sein sollten. Das Wissen über Geschichte und Glaubensinhalte von Religionen, wenn es nicht missionarisch vermittelt wird, kann durchaus Ausgangspunkt sein von Bewegungen des Selbstdenkens. Dazu gehört dann aber auch kritische Auseinandersetzung mit den religiösen Inhalten und Glaubenssätzen, Konfrontation von Lehre und Praxis, Irrungen und Wirrungen der Geschichte. Dazu gehört sicher eine Berücksichtigung von historisch-kulturellen Kontexten, die aber nicht zu Rechtfertigungsstrategien verkommen darf.
Der Rahmenplan „Leben und Gesellschaft“ bleibt da sehr zweideutig. So soll das Fach „die Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, religiöse Symbole und Texte in ihrer Vielschichtigkeit zu verstehen und zu deuten.“ (S. 3) Denn das Unverständnis der „sinnbildlichen Sprache“ religiöser Texte bereite „den Weg für dogmatische und radikale Positionen“. Religiöse Exegese in der „Praktischen Philosophie“ als Prävention? Zur Erinnerung: Die Sprache der originären religiösen Texte war in der Regel überhaupt nicht „sinnbildlich“ gemeint. Ihre symbolische Interpretation ist erst das allmähliche Produkt einer allgemeinen kulturellen Entwicklung, zum Teil einer Anpassungsstrategie der Religionen. Was verlangt man da eigentlich von den Lehrer_innen?
Denken und Wissen
Nicht nur für das Thema Religion gilt: Denken und Wissen sind nicht zu trennen. Wissen ohne Denkanstrengung bleibt fremdes Zubehör ohne Halt, Denken (und Sprechen) ohne Wissen dreht im leeren Raum. Wissen heißt nicht Nachplappern, Denken ist nicht Geschwätz. Insofern gilt auch für „Praktische Philosophie“: Bei aller pädagogischen Offenheit und Flexibilität kann man auf Denk- und Rededisziplin („rigueur“) nicht verzichten. Das sokratische Gespräch ist kein leeres Geschwätz. Denken verlangt Schulung, meint Ernst Bloch:
„Denken (…) beginnt sofort als Selbstdenken. (…) Es lernt, um zu wissen, wo wir uns befinden, es sammelt Wissen, um danach das Verhalten einzurichten. Geschultes Denken nimmt nichts als fix und fertig hin, weder zurechtgemachte Fakten noch totgewordene Allgemeinheiten noch gar Schlagworte voll Leichengift.“ (ebenda)
1 http://www.men.public.lu/fr/actualites/communiques-confe- rence-presse/2015/03/23-conf-vie-societe/document-cadre.pdf
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