Der alte und der neue Terror
Ein Vergleich der politischen Gewalt in Europa
Der Terror ist zurück in Europa. Nach Paris nun Brüssel. Terrorismus gibt es in Europa aber schon länger: In den Tagen nach den Brüsseler Anschlägen zirkulierten Statistiken, die zeigen sollten, dass die Gefahr durch Terrorattacken in Wahrheit gesunken sei: „Zwischen 1972 und 1988 starben jährlich in Westeuropa mehr als 150 Menschen durch Terrorangriffe. Danach gehen die Zahlen deutlich zurück“1. Vermutlich wollen derartige Hinweise einer kollektiven Hysterie vorbeugen. Doch die nackten Zahlen sind wenig aussagekräftig. Dahinter verbergen sich große Unterschiede zwischen dem „alten“ säkularen Terrorismus des 20. Jahrhunderts und dem „neuen“ religiösen Terror des 21. Jahrhunderts. Das lässt sich an sechs Punkten festmachen.
Vom Attentat zum Massenmord
Der Global Terrorism Database zufolge starben im Jahr 1975 in Westeuropa insgesamt 242 Menschen durch Terror.2 Allerdings verteilte sich diese Opferzahl auf 173 einzelne Taten. Keine kostete mehr als sechs Menschen auf einmal das Leben. Vierzig Jahre später, im Jahr 2005, starben in Westeuropa „nur“ noch 56 Menschen bei Anschlägen. Doch fielen davon allein 52 einer einzigen Anschlagsserie – in London – zum Opfer. Gewiss, es gab auch früher Anschläge mit hohen Opferzahlen, etwa das Lockerbie-Attentat. Doch die Mehrzahl der Terroropfer starb bei mehr oder weniger gezielten Aktionen, die manchmal schief gingen, aber meist nicht das Ziel hatten, eine sehr große Zahl von Menschen zu töten. Der Nordirland-Konflikt ähnelte bisweilen eher einem Bandenkrieg mit Strafaktionen ins verfeindete Territorium. Das hat sich geändert: Al-Qaida und seine Nachfolger setzen auf einzelne koordinierte Angriffe, die größtmögliche Opferzahlen und Schockwirkung erzielen. Der Terrorismusforscher Bruce Hoffman schreibt dazu, bis zum 11. September 2001 sei man allgemein der Ansicht gewesen, dass es Terroristen nicht vorrangig ums Töten gehe, sondern um Publicity. Aber bei der heutigen Terroristengeneration sei „die Hemmschwelle für die Ausführung von Anschlägen [gesunken], die auf wahllosen Massenmord hinauslaufen“3.
Von harten zu weichen Zielen
Der „alte“ Terrorismus konzentrierte sich auf militärische und politische Ziele und staatliche Infrastruktur. Die IRA griff nordirische Polizisten an, die ETA spanische Kasernen und Politiker. Die RAF schmuggelte Bomben auf amerikanische Militärstützpunkte und erschoss gut bewachte Wirtschaftsbosse. Dabei wurden zivile Opfer zwar leichtfertig in Kauf genommen, sie waren aber meist nicht das Hauptziel. Mehr als 60% der Opfer der baskischen ETA waren Angehörige der spanischen Sicherheitskräfte und weniger als 20% der IRA-Opfer waren protestantische Zivilisten.4 Als die IRA 1987 bei einem Anschlag, der Soldaten galt, elf Zivilisten tötete, beeilte sie sich, es öffentlich als Versehen darzustellen. Der Vorfall schadete der Organisation politisch enorm. Dschihadisten greifen dagegen ganz bewusst „weiche“ Ziele an. Sie töten mit Vorliebe unbeteiligte Menschen, die morgens zur Arbeit fahren oder abends ausgehen. Das liegt nicht nur daran, dass Züge und Bars leichter zu treffen sind als Staatschefs. Vielmehr gibt es in der Logik der Dschihadisten zwischen Staat und Zivilisten keinen Unterschied. Sie nehmen das Demokratieprinzip auf perverse Weise ernst: Da es in den westlichen Ländern die Bürger sind, die die Regierung wählen, können auch alle als legitime Ziele gelten.
Vom Druck zur Furcht
Terrorismus ist auch eine Kommunikationsstrategie: Anhänger sollen mobilisiert, die Öffentlichkeit beeinflusst und dem Staat eine „Botschaft“ gesendet werden. Der alte Terrorismus wollte Druck auf klar identifizierbare Akteure aufbauen. Ein Sonderfall war der rechtsradikale Terror in Italien im Rahmen der „Strategie der Spannung“, dessen Intention bewusst im Dunkeln blieb. Doch Gruppen wie die ETA, die IRA oder die RAF richteten sich an einen verfeindeten Staat, an den sie konkrete Forderungen stellten: Autonomie, Freilassung von Gefangenen, eine Änderung der Außenpolitik. Der neue Terror hat dagegen weder rationale Forderungen noch klar definierte Adressaten. Er will eher diffuse Bilder und Stimmungen verbreiten. Nach den Anschlägen von Paris veröffentlichte der IS in seiner Propagandazeitschrift Dabiq Fotos blutüberströmter Menschen mit den Worten „The nightmare in France has only begun“.5 Solche Bilder sollen die eigene Macht zur Schau stellen und die Feinde erniedrigen. Nicht politischer Druck, sondern allgemeine Furcht soll erzeugt werden. Die Ästhetisierung der Gewalt ersetzt dabei weitestgehend die inhaltliche Botschaft. In den Worten von Hans Magnus Enzensberger: „Die Massaker, auf die es ihm ankommt, inszeniert er [der islamistische Terror] als gelehriger Schüler Hollywoods, nach dem Vorbild des Katastrophenfilms, des Splatter-Movies und des Science-Fiction-Thrillers“6. Die Propagandazeitung des IS ist ein bizarres Hochglanzmagazin, das in jeder Ausgabe eine Top-10-Hitliste der sehenswertesten Youtube-Hinrichtungsvideos führt.
Vom regionalen Konflikt zum globalen Bürgerkrieg
In Nordirland und im Baskenland ging es um regional begrenzte Konflikte. Wer nicht nach England oder Irland reiste, musste sich um die IRA nicht sorgen. Die Konfliktlinien waren primär territorialer und ethnischer Natur. Der neue Terrorismus ist transnational. Freilich gab es Vorläufer: Palästinensische Gruppen haben den Terror schon in den 1970er Jahren nach Europa gebracht. Ihnen kommt das traurige Verdienst zu, die Strategie der internationalen Flugzeugentführung erfunden zu haben.7 Gleichwohl rechtfertigten sie das stets mit Verweis auf die Nahostpolitik. Solange der islamistische Terror in Belgien und Frankreich nur jüdische Schulkinder (Toulouse 2012) oder Besucher jüdischer Museen (Brüssel 2014) getroffen hatte, konnte die Mehrheitsgesellschaft sich noch einreden, es sei dabei auch irgendwie um die Politik Israels gegangen. Damit ließen sich diese Taten scheinbar in das vertraute Muster einordnen. Tatsächlich ist der neue Terrorismus von realen, regionalen Konflikten losgelöst. Sicher: Er nutzt diese dankbar als Brandbeschleuniger und Rekrutierungsgebiet. Doch im Grunde begreift er die ganze Welt als Schlachtfeld. Das hat Folgen: IRA und ETA kalkulierten ihre Aktionen mit Blick auf die Bevölkerungen vor Ort und versuchten, die Gewalt auf einem Niveau zu halten, das die lokale Gesellschaft nicht völlig in den Abgrund reißt. Der neue Terror hingegen möchte einen globalen Bürgerkrieg überhaupt erst auslösen.
Sehr viel stärker als die relativ klar eingegrenzte Gruppe der Basken oder Iren stellt die globale Gemeinschaft der Gläubigen, in deren Namen der religiöse Terror ausgeübt wird, aber eine abstrakte und fiktive Größe dar. Sie soll selbst durch den Terror überhaupt erst als distinkte Gruppe hervorgebracht werden.8 In einem islamistischen Strategiehandbuch heißt es entsprechend: „Gesellschaften müssen in zwei einander gegenüberstehende Gruppen transformiert werden, um einen brutalen Kampf zwischen ihnen zu entfachen, der mit Sieg oder Märtyrertum zu Ende geht“9. Die Gewalt wird damit potenziell schrankenlos.
Die Ideologie des Selbstmordanschlags
Japanische Kamikazepiloten waren vermutlich die ersten, die den eigenen Tod als taktischen Vorteil einkalkulierten.10 Aber erst islamistische Gruppen haben dies zur Perfektion getrieben und aus einem improvisierten Mittel eine Ideologie gemacht. In Europa waren Selbstmordanschläge im 20. Jahrhundert gänzlich unbekannt. Aber auch weltweit werden sie erst im 21. Jahrhundert zur Standardvorgehensweise des Terrors. Die RAND Database of Worldwide Terrorism Incidents listet für den Zeitraum von 1968 bis 2000 weltweit 84 Selbstmordanschläge auf. Allein in den Jahren von 2001 bis 2009 beträgt die Zahl dagegen über 1500.11 Selbstmordattentäter sind keine irren Einzelgänger: Der Selbstmordanschlag ist ein bewusst gewähltes Mittel. Soweit wir wissen, ist weder Verzweiflung noch blinde Wut, sondern das Gefühl glücklicher Pflichterfüllung im Wissen um die eigene Überlegenheit für die Attentäter charakteristisch.12 Das Opfer des irdischen Lebens soll die eigene Siegesgewissheit beweisen und den Feind in Angst versetzen. Das ist die Bedeutung der Al-Qaida-Parole „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“13. Die vielzitierten 72 Jungfrauen haben damit nichts zu tun. Der Selbstmordattentäter will vielmehr zeigen, dass für ihn die Spielregeln nicht gelten und unsere Welt in einem radikalen Sinn nicht mehr die seine ist.
Politik und Antipolitik
Der letzte Unterschied ist der grundsätzlichste. Gruppen wie die IRA hatten verhandelbare und auch nicht völlig unrealistische Ziele. In Nordirland wurden erfolgreiche Friedensverhandlungen geführt, aus Martin McGuinness und Gerry Adams wurden anerkannte Politiker. Noch die Aktionen radikaler linker Splittergruppen waren auf die Tatsache bezogen, dass im Kalten Krieg eine reale politische Gegenmacht zum Kapitalismus bestand. Die RAF besaßen bei aller ideologischen Rigidität genug Realitätssinn, um Mitte der 1990er Jahre den Kampf von sich aus einzustellen und einzugestehen: „Die RAF konnte keinen Weg zur Befreiung aufzeigen“14. Der Dschihadismus hingegen „erschöpft sich in der Negation. Es handelt sich um eine im strengen Sinn unpolitische Bewegung, da sie keinerlei verhandelbare Forderungen erhebt. Im Klartext wünscht sie, dass die Mehrheit der Bewohner des Planeten, die aus Ungläubigen und Abtrünnigen besteht, kapitulieren oder umgebracht werden soll“15. Das schrieb Hans Magnus Enzensberger vor zehn Jahren. Seine Worte haben mit der Transformation der irakischen Al-Qaida-Zelle in den „Islamischen Staat“ nur an Wahrheit gewonnen: Nun zählen auch alle Schiiten zu den Abtrünnigen. Ganz unsinnig ist die Vorstellung, man könne mit dem IS verhandeln wie mit separatistischen Gruppen. Letzteres forderte vor kurzem ein Vertreter der Friedensbewegung: Auch für den IS sei Terrorismus „lediglich Mittel zum Zweck der Nationsbildung“, nicht anders „wie seinerzeit für die IRA“.16 Doch nichts liegt dem IS ferner als Nationsbildung. In seiner Propagandazeitung heißt es über den wahren Gläubigen: „his Islam is not correct until he disbelieves in nationalism, as nationalism declares people equal regardless of their religion“17. Der IS nennt sich zwar „Staat“, will aber alle bestehenden Staaten abschaffen. Zur Staatsbildung ist er im Übrigen ganz unfähig. Seine Anhänger werden durch die Lust am Ausnahmezustand zusammengehalten, nicht durch ein gemeinsames politisches Projekt. Wo das groteske „Kalifat“ zur Herrschaft im Alltag gelangt, kann Loyalität folgerichtig nur durch brutalen Terror auch gegen die eigenen Leute gesichert werden.18
Äpfel und Birnen
Ich habe es vermieden, Terrorismus genauer zu definieren. Als „Terroristen“ galten schließlich auch mal Nelson Mandela und der ANC. Ein Wort sagt noch nicht viel aus. Letztlich vergleicht man auch Äpfel mit Birnen, wenn man die Aktionen von Al-Qaida und IS mit jenen von IRA, ETA oder RAF aufrechnet. Erst eine genauere, vergleichende Analyse des Kontexts, der Mittel, Motive und politischen Ziele erlaubt es, die jeweilige Dynamik der Gewalt zu verstehen. Es gibt heute weniger tödliche Anschläge in Europa als früher. Aber sie sind brutaler und willkürlicher geworden. Im Vergleich zu Irak oder Pakistan leben wir in Europa in großer Sicherheit. Es gibt keinen Grund zur Hysterie. Aber neu und beunruhigend ist, dass die Terroristen Brüssel, Paris, Bagdad und Lahore als Schauplätze ein- und desselben globalen Schlachtfeldes imaginieren. Natürlich werden sie niemals gewinnen. Die Frage ist nur, wie viele Menschen sie vorher mit in den Tod reißen und welche Narben dies in unseren Gesellschaften und Seelen hinterlässt.
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