- Gesellschaft, Politik
Schwester!
Ein Blick hinter die Kulissen der Pflege
Mitteilungen, welche erklären was Pflegende wirklich tun und warum Investitionen in die Pflege wichtig sind, gibt es selten.1 So entsteht ein fruchtbarer Boden für Floskeln wie „In der Pflege arbeiten, das könnte ich nicht! Mit den alten Menschen hätte ich keine Geduld. Aber Respekt dafür, dass du das machst. Es gibt ja auch zu wenige von euch. Und dann habt ihr auch noch solch schlechte Arbeitsbedingungen und verdienen tut ihr auch nichts. Kein Wunder, dass die jungen Leute den Beruf nicht mehr machen möchten.“
Derartige Gespräche und das mir entgegengebrachte Mitleid überrumpeln mich jedes Mal auf ein Neues und meine Antwort lautet meistens: Stille. Wie kann ich aber künftig verhindern, dass mein Beruf auf Ausscheidungen, Spritzen, Verbände, Blutdruck messen und Essen reichen reduziert wird? Wie kann ich der Öffentlichkeit eine Vorstellung davon geben, was es wirklich bedeutet in der Pflege tätig zu sein und welche Aufgabe der Pflegewissenschaft zukommt? Ein Vorschlag der beiden Autorinnen des Buches From Silence to voice2 lautet, man solle versuchen eine Situation aus der Praxis anschaulich zu beschreiben, damit der Gesprächspartner sich ein Bild von der Tätigkeit der Pflegenden und ihren Überlegungen machen kann. Ich bin dem Rat gefolgt und habe also eine alternative Antwort vorbereitet, die einen Einblick in meine Tätigkeit auf einer Palliativ
station bietet.
„Eine Geschichte, die ich gerne erzähle, handelt von Frau S.3 Sie leidet unter einem unheilbaren Magenkarzinom (Magenkrebs), ist noch recht jung, verheiratet und hat zwei Kinder. Seit Wochen zwingt sie sich, ihrer Familie zu Liebe, zum Essen um nicht weiter an Gewicht zu verlieren und nicht noch schwächer zu werden.
Um dem Stationsgeruch etwas entgegen zu wirken und Erinnerungen an eine schöne Zeit oder an einen Ort der Geborgenheit zu wecken, backen wir an Ostern einen Hefezopf. Auf dem Stationsflur riecht es nach frischem Gebäck und zudem Gemüseauflauf, den die Köchin zubereitet hat. Beim Öffnen der Tür bemerke ich, wie die Patientin schnuppert und frage, ob ich die Tür einen Spalt weit offenlassen soll, damit der Geruch weiter ins Zimmer strömt. Sie meint: „Oh ja bitte, das riecht ja köstlich!“. In der Küche holt die Köchin gerade den dampfenden Auflauf aus dem Ofen. Frau S. hat kein Essen bestellt, sie zog Zwieback vor. Trotzdem beschließe ich, ihr etwas von dem Auflauf anzubieten. Ich habe ihr vor 30 Minuten ein Mittel gegen die Übelkeit verabreicht, damit die Wirkung des Medikamentes zur Essenszeit eintritt; mit dem Ziel, dass ihr das Essen etwas mehr Freude bereiten würde.
Seit Ihrem Aufenthalt auf unserer Station habe ich bemerkt, dass Frau S. sich freut, wenn die Stationskatze zu ihr ins Zimmer kommt. Sitzt diese erst mal auf der Decke, bewegt sich die Patientin kaum, um sie bloß nicht zu verscheuchen. In Begleitung der Katze versichere ich ihr, dass es keine Schande sei, wenn sie den Auflauf nicht isst. „Sie können auch einfach nur genüsslich dran riechen.“ Auf keinen Fall möchte ich, dass Frau S. den Auflauf isst um mir einen Gefallen zu tun. Und siehe da, als ich zurückkomme, finde ich eine leere Schüssel vor. Frau S. sitzt im Bett und krault unsere Katze. Mir war bewusst, dass Frau S. während dem Abendessen keinen Besuch hatte. Sie hat den Auflauf wohl selber verspeist. Die Freude, das Essen seit langem wieder zu genießen, lese ich ihr sofort an ihrem strahlenden Gesicht ab. Sie schwärmt von dem Geschmack nach Wein, Zwiebeln, Butter, Lauch… „Der Auflauf hat wohl so gut geschmeckt wie er riecht?“ frage ich vorsichtig und neugierig zugleich. „Das war eine richtige Geschmacksexplosion!“
Ich nehme an, dass sich die Dame sicher freuen würde, wenn sie die Köchin des köstlichen Gerichts kennen lernen könnte. „Frau S., darf ich Ihnen die Köchin des leckeren Auflaufs vorstellen?“ Sie ist hellwach, aufgeweckt. Sie bedankt sich mehrmals und gratuliert ihr. Die Damen versinken in einem Gespräch. Ich lasse die beiden alleine und räume das restliche Besteck aus den Zimmern. Von dem schönen Erlebnis spricht sie noch tagelang und ich denke auch oft an die gelungene Pflege zurück. Was solche Kleinigkeiten bewirken können!
Die Details zählen
Was war an dieser Situation so besonders? Es ging um weitaus mehr als um die Verabreichung eines Medikaments und das Zustellen eines Gerichts. Pflegende arbeiten nach einem gewissen Pflegeprozess. Im Fall von Frau S. verschafften wir uns einen ersten Eindruck von der aktuellen Problematik und stellten Pflegediagnosen auf. Im Gegensatz zu medizinischen Diagnosen beziehen sich diese nicht auf Erkrankungen, sondern auf bestehende Gefahren oder die Reaktionen der Pflegebedürftigen auf die Erkrankungen und Lebensprozesse. Wichtigstes Pflegeziel der Pflegediagnose „Übelkeit“ war, Phasen belastender Übelkeit weitgehend zu verhindern, sodass Frau S. trotz allem ihre verbleibende Lebenszeit weitgehend genießen konnte. Im Kontext der geschilderten Anekdote galten beispielsweise die Ablenkung durch die Katze, das Schaffen einer ruhigen Umgebung und das Angebot eines appetitanregenden Gerichtes als pflegerische Maßnahmen. Außerdem waren das Erkennen der Vorboten der Übelkeit sowie der Situationen, welche Übelkeit hervorriefen wichtig, um letzterer entgegenzuwirken und die Verabreichungszeiten der Medikamente anzupassen.4
In ihrer Entscheidung für oder gegen eine Maßnahme greifen die Pflegenden in der Tat auf ihre Erfahrung und Intuition, die Wünsche des Patienten sowie die Umgebungsbedingungen (Zeit, Material,…) zurück5. Die Einbeziehung von aktuellen Forschungsergebnissen ist dabei unabdingbar. Der Forschungsprozess beinhaltet nämlich Hürden, welche unsachliche Einflüsse (Vorlieben, Abneigungen, Befangenheiten, Denkfehler) ausschließen. (Empirische) Forschungsergebnisse bilden also einen wichtigen, aber eben nur einen Teil des pflegerischen Wissens, welches den Pflegenden erlaubt zu handeln.6 Um die Bedürfnisse des Patienten und die Situation einschätzen zu können, nehmen Pflegende bewusst und unbewusst wichtige Hinweise wahr und interpretieren diese.7 Mit zunehmender Berufserfahrung erkennen Pflegende bspw. ganz feine Veränderungen: Obwohl Frau S. Zwieback bestellt hatte, bemerkte ich Anzeichen dafür, dass sie am benannten Tag vielleicht doch das Essen genießen könnte und bot Frau S. eine auf ihre Gesamtsituation zugeschnittene Maßnahme an.8
Die Sprachlosigkeit der Pflege
Wie in der Einleitung angedeutet, fällt es der Pflege oft schwer, zu benennen was sie tut. Aber wie die amerikanische Pflegewissenschaftlerin Norma Lang sagt: „Wenn wir etwas nicht benennen können, können wir es nicht kontrollieren, nicht finanzieren, nicht lehren, nicht erforschen und auch nicht in die Politik einbringen“. Diese Tatsache stellt ein grundsätzliches Problem der Pflege dar. Die deutsche Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Zegelin beschreibt dieses Phänomen der Sprachlosigkeit der Pflege folgendermaßen: Es ist immer wieder überraschend, für wie belanglos Pflegende ihre eigene Tätigkeit halten: „Ja, morgens gehen wir durch, da geht es nur um Betten und Körperpflege…“ Offensichtlich bedürfen Pflegende selbst der Hilfe, um dies in Worte zu fassen.9
Sozialisation der Pflegenden
Buresh u.a.10 erklären, dass Pflegende meistens für ihre Tugenden, Güte und Freundlichkeit gelobt werden, selten aber für ihr Wissen, ihre Fähigkeiten und ihr Handeln. Auf Fotos lächeln sie entweder den Patienten an oder stehen in einer Reihe freundlich in die Kamera blickend. Sie lassen nicht vermuten, dass sie etwas Bedeutsames oder komplexe Pflege leisten. Zudem wurden Pflegende bereits in der Vergangenheit entmutigt, über ihre Arbeit zu sprechen: „Spreche wenig und tue viel“. Noch heute werden sie dazu motiviert, sich für den Beruf aufzuopfern und ihre Bedürfnisse hinter jene ihrer Patienten zu stellen. Berichtete Geschichten11 von Pflegenden, welche Geld sammeln, um ein Geburtstagsgeschenk für einen Patienten zu kaufen oder Überstunden leisten, um den Angehörigen anzurufen und nachzufragen, ob alles in Ordnung ist, d.h. Geschichten, welche Pflegende für ihren Einsatz, ihre Hilfsbereitschaft und leidenschaftliche Hingabe für den Beruf loben, stärken die traditionelle Sichtweise einer aufopfernden Pflege. Natürlich berühren solche Geschichten. Das sollen sie auch. Trotzdem dürfen bei derartigen Schilderungen die Kompetenzen der Pflegenden nicht vergessen oder auf „freundlich sein“ reduziert werden.
Kontextuelle Faktoren
Aus Gesprächen mit Pflegenden im Krankenhaus geht zudem hervor, dass die pflegerische Arbeits- und Ausdrucksweise stark vom Abrechnungssystem beeinflusst wird: „Was muss ich wie dokumentieren, damit die geleistete Pflege erstattet wird?“. Die Pflegedokumentation dient eigentlich dazu, u.a. die bisher gesammelten Informationen sowie den Pflegeprozess festzuhalten. Pflegende unterscheiden dabei relevante von nicht relevanten Informationen. Als selbstverständlich erachtete, sich wiederholende und unveränderte Tätigkeiten (bspw. Frau S. dabei unterstützen, die Pantoffeln anzuziehen) werden dabei als nicht relevante Informationen angesehen und somit kaum dokumentiert. Dadurch besteht die ständige Gefahr, dass geleistete Pflegemaßnahmen aufgrund der fehlenden Niederschrift im Abrechnungssystem außer Acht gelassen werden. Die Pflegedokumentation, d.h. der Ort an dem Pflegende ihre Tätigkeit sichtbar machen können, muss also zunehmend an die Anforderungen des Abrechnungssystems angepasst werden. Dies stellt die Pflege vor neue Herausforderungen, denn auf keinen Fall darf dies die aktuellen Problematiken der Pflegebedürftigen überlagern.
Nun kann man folgende Überlegung anstellen: Das Krankenhaus dient der Akutversorgung. Wie sieht es jedoch in der Langzeitpflege (zu Hause oder in Einrichtungen) aus, also dort wo sich das eigentliche Leben der Menschen abspielt? Laut der Pflegewissenschaftlerin Sabine Bartolomeyczik wird das Tätigkeitsfeld der Pflegenden stark von der Pflegebedürftigkeitsdefinition des Gesetzes geprägt. Pflegende neigen dazu, diese Definition gegen ihre eigentliche Berufsauffassung zu verinnerlichen, weil eben nur diese Ausschnitte finanziert werden, und für Weitergehendes keine Zeit bleibt. Diese Auffassung von Pflege hat sich ebenfalls auf politischer Ebene festgesetzt.12 Der Pflegebedürftigkeitsbegriff wird im Artikel 348 des luxemburgischen Gesetzes zur Pflegeversicherung wie folgt definiert: „[L]’état d’une personne qui (…) a un besoin important et régulier d’assistance d’une tierce personne pour les actes essentiels de la vie.“ Interessant wird es, wenn man sich anschaut, was unter den „actes essentiels de la vie“ verstanden wird. Auf welche Tätigkeiten könnten Sie als Pflegebedürftige/r nicht verzichten? Laut der Pflegeversicherung scheinen dies folgende vier Tätigkeiten zu sein: 1. Körperpflege, 2. Ausscheidung, 3. Nahrungsaufnahme, 4. (Fort-)bewegung. Im neuen Gesetzesentwurf gehören nun das An- und Ausziehen ebenfalls dazu.
Was ist jedoch mit dem Bedarf an Genuss? Einen Kaffee morgens im Bett zu trinken. Nicht zur Flüssigkeitsaufnahme, sondern weil es herrlich ist an einem Frühlingsmorgen mit einem heißen Kaffee im Bett zu verweilen. Was ist denn mit dem Bedürfnis Zeitung zu lesen, Hobbies und Spaß zu haben, sich was Gutes zu tun, sich nützlich zu machen, usw.? Bleiben pflegebedürftigen Menschen diese schönen Dinge somit verwehrt?
Das Potenzial der Pflegewissenschaften
Falls die Pflege mehr an Bedeutung in der Öffentlichkeit gewinnen möchte, müssen alle Pflegenden sowie die Organisationen aktiv an die einflussreiche und breite Öffentlichkeit herantreten.13 Die Pflegewissenschaft versucht die Pflege dabei zu unterstützen, eine Stimme zu finden und sich Gehör zu verschaffen indem sie u.a. das verborgene Wissen, über welches die Pflegenden verfügen, greifbar macht. Sie nutzt die qualitative Forschung, um die Bedürfnisse der Menschen zu ergründen, Pflegediagnosen sichtbar und verstehbar zu machen, Instrumente zu deren Messung sowie Hilfsmittel zur Erleichterung des Umgangs mit den Pflegediagnosen zu erarbeiten. Es werden quantitative Studien durchgeführt, um die Wirksamkeit von Maßnahmen und die Einflussfaktoren auf die Pflege messbar zu machen. Dadurch lässt sich u.a. aufzeigen, was die Pflege wirklich leistet und warum Investitionen in die Pflege entscheidend sind. Die Pflegewissenschaft liefert somit einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung des Berufs und zur Emanzipation der Pflege.14 Jene aus anderen Berufssparten kann ich beruhigen, denn die Pflege ist auf eure und ihr seid auf ihre Unterstützung angewiesen. Auch in Zukunft gilt es eine nicht zu unterschätzende Aufgabe im Bereich der Pflegeversorgung zu leisten und diese schafft keiner von uns im Alleingang!
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