Use it or lose it?

Lernen im 3. Alter

Entscheidend für das Überleben des Menschen ist seine große Bereitschaft zu lernen. In jedem Alter. Die Wirkung auf das Gehirn lässt sich beim Erlernen von neuen Bewegungen wie der ungewohnten Benutzung eines Touchscreens oder dem Jonglieren mit Bällen gut belegen. Innerhalb weniger Wochen kann die graue Substanz des Gehirns wachsen, mit 20 genauso wie mit 70 Jahren. Bei Nichtgebrauch bilden sich diese Zellen wieder zurück. Doch reicht das als Grund, um lebenslang lernen zu wollen?

Wer sich mit Lernangeboten für das 3. Alter beschäftigt, kommt zunächst an einer wesentlichen Frage nicht vorbei: Ab wann beginnt dieses Alter und warum benötigt man dafür spezielle Angebote? Diese Frage stellte man mir mit anderen Worten bereits 2009 auf einer europäischen Bildungskonferenz in Stockholm. Immer dann, wenn ich die „Seniorenakademie“ des RBS in einem Workshop mit Vertretern verschiedener Länder vorstellen sollte, fragte man mich ungläubig: Nur für Senioren? Wie alt muss man für eine Teilnahme sein? Warum dürfen keine Jüngeren kommen? Ist das denn keine adult education?

Diese skandinavische Selbstverständlichkeit im Umgang mit Erwachsenenbildung und dem dort tief verankerten Volkshochschulgedanken brachten mich zum Nachdenken. Sie stellten viele Angebote für das 3. Alter in Frage. Denn tatsächlich gibt es in Luxemburg genügend soziokulturelle Aktivitäten wie z.B. Theateraufführungen, Konzerte, Seminare, Kabarett, Konferenzen für jeden, garantiert altersfrei. Ebenso gibt es viele Möglichkeiten und Angebote zur aktiven Gesundheitsförderung, die nicht altersgebunden sind. Selbst der Trend zu Fitnesstraining, Yoga, Achtsamkeitsübungen etc. ist zum Lifestyle geworden, der sich nicht gezielt an Ältere richtet. In der Regel wird dieser im 3. Alter lediglich weitergeführt oder wieder aufgenommen.

Aus dieser Perspektive lässt sich festhalten: Heute finden ältere Lernwillige oder „aktiv Alternde“ ganz selbstverständlich ein umfangreiches Lernangebot in allgemein zugänglichen Einrichtungen vor. Das wird möglich durch den Lifelong Learning-Gedanken, der eng verbunden ist mit der Vorstellung, dass Entwicklung über die gesamte Lebensspanne geschieht. Diese Theorie widerspricht der noch vor 20 Jahren deutlich verbreiteteren Vorstellung vom defizitären Lebensabschnitt Alter, die eher mit beruflichem Schongang, verdientem sozialen Rückzug und allgemeinem Abbau als mit Aktivität und Engagement verbunden war. Heute belegt der überragende Erfolg des Seniorenstudiums an der Universität Luxemburg, dass Menschen ab 60 Jahren durchaus kompetent gemeinsam mit Jüngeren an einem komplexen Bildungssystem aktiv teilnehmen können.

Wer nimmt an Lernangeboten für das 3. Alter teil?

So spektakulär es auch klingen mag, dass bereits mehr als 500 Personen am Seniorenstudium an der Universität Luxemburg teilgenommen haben, so handelt es sich dabei tatsächlich nur um einen winzigen Prozentsatz der älteren Menschen hierzulande.

Was ist mit dem Rest? Betrachtet man die durchschnittliche behinderungsfreie Zeit von Menschen in Luxemburg, so kann man behaupten, dass die meis-ten Menschen bis 70 Jahre behinderungsfrei sind, d.h. ohne größere körperliche Einschränkungen leben. Ob man sich bereits mit 50, 60 oder 65 alt im Sinne von „verbraucht“ fühlt oder verhält, hängt daher eher von psychologischen oder sozialen Faktoren ab. Gerade ab 50 ist das Erleben des eigenen Alters sehr unterschiedlich. Während die einen bereits auf die Rente warten, sehen andere das „junge Seniorenalter“ gar nicht als Teil des Alters an. Allgemein wird angenommen, dass Lernen im 3. Alter vor allen Dingen dem Zeitvertreib geschuldet sei. Dies entspricht aber nicht der heutigen Realität, sprich den „jüngerer Senioren“, die – dem modernen Zeitgeist entsprechend – ebenfalls ständig im Stress sind.

Tatsächlich interessiert sich etwa ein Drittel der älteren Bevölkerung für Theater, Oper, Konferenzen, Seminare und Workshops. Doch dieses Interesse entsteht nicht aus Langeweile, sondern basiert vielmehr auf förderlichen Sozialisationsbedingungen, durch die in jungen Jahren Interesse und Freude an kultureller Bildung vermittelt werden konnten. Des Weiteren ist der Trend zur Gesundheitsförderung und das Interesse an Fitness, Yoga, Achtsamkeitsübungen etc. an eine Haltung oder einen Lifestyle gebunden, die sich früher entwickeln und im 3. Alter weitergeführt oder reaktiviert werden. Diese Aktivitäten müssen in Einklang gebracht werden mit den heute stark veränderten sozialen Lebensbedingungen. Das Leben ab 50 ist heute durch vielfältige, neue Herausforderungen gekennzeichnet: Patchwork-Familien, Trennungen, Arbeitslosigkeit, beruflicher Wiedereinstieg, digitale Medien, zersplitterte soziale Netzwerke, Umzüge, etc. Doch das hält bildungsnahe ältere Menschen in der Regel nicht davon ab, sich kulturell weiterzubilden.

Schwieriger ist es hingegen, bildungsferne Menschen ab 50 für Lernangebote zu begeistern. Daher ist entscheidend, ob die jeweiligen Angebote diesen Personen auch tatsächlich „etwas bringen“, da Kultur, Bildung und Lernen für sie eher negativ besetzt sind oder nutzlos erscheinen. Auch prekäre Lebensumstände, Fragilität und Ängste verhindern, dass ein Teil der Menschen im Lebensabschnitt Alter sich weiterbildet. Dabei besteht einerseits die allgemein verbreitete Vorstellung, dass gerade jüngere Senioren viel lernen wollen und sollen. Andererseits unterstellt man Hochbetagten, sie seien pflegebedürftig und benötigten keine Lernangebote mehr, da sie ja durch die Altenhilfe versorgt würden. Diese Klischees gehen an der vielfältigen Realität des Lebens in der zweiten Lebenshälfte vorbei und lassen die wichtigste Frage außer Acht: Warum soll man überhaupt lernen?

Lernen, um im Alter zu überleben

Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit mit Reinhold Messner über die Frage zu diskutieren, was eigentlich Menschen motiviert, außergewöhnliche Belastungen zu überstehen. Seiner Meinung nach ist die zentrale Motivation des Menschens sein Überlebensdrang. In dem Sinne lernen wir, um unser Leben bewältigen und uns auf immer neue Bedingungen einstellen zu können. Bereits bei Kindern kann man erleben, dass vieles spielerisch oder durch Nachahmung erlernt wird. Wenn eine neue Fertigkeit erworben wurde, man etwas Neues „kann“, werden positive Gefühle wie Stolz und Freude ausgelöst. Doch tatsächlich ist die Freude am Effekt Teil eines inneren Belohnungssystems, das letztendlich unser Überleben sichern soll.

Während des Berufslebens versucht man durch Arbeit, sein wirtschaftliches Überleben zu sichern. Da dazu bestimmte Kompetenzen notwendig sind, ist verständlich, warum Menschen lernen, auch ältere Mitarbeiter. Dabei lernt man mit 50 oder 60 Jahren keineswegs anders als in jüngeren Jahren. Vielleicht ist die Selektion von Reizen etwas schwieriger, z.B. wenn viele Menschen durcheinander reden. Oder die reine Merkleistung des Kurzzeitgedächtnisses ist minimal reduziert. Doch durch Erfahrungswissen (kristalline Intelligenz) kann das Gelernte schneller in einen übergeordneten Kontext gesetzt und tiefer verstanden werden. Ein wirtschaftlich relevanter Mehrwert, der nicht ausreichend beachtet wird.

Wer das Arbeitsleben verlässt, verliert oft den Anschluss an die Welt. Das ist zunächst keine Frage des Alters, doch ab Ende 50 machen immer mehr Menschen die Erfahrung, dass die Berufswelt mit einem sozialen Netzwerk verbunden ist, das schnell bröckeln kann. Daher nehmen ältere Menschen viele Angebote weniger wegen der Lerninhalte in Anspruch, sondern sie versuchen ganz diskret das eigene soziale Überleben zu sichern. Als Lernender ist man deutlich besser angesehen, als wenn man sich als einsamer Mensch „outet“, der verzweifelt nach Kontakt sucht. Außerdem kann man sich durch die Teilnahme an altersgemischten und mehrsprachigen Aktivitäten den Kontakt zu anderen Generationen und Kulturen erhalten oder aufbauen.

Will man als älterer Mensch digital überleben und nicht aus sozialen Netzwerken ausgeschlossen werden, benötigt man eine ständige Erneuerung der persönlichen Kompetenzen im Umgang mit den neuen Technologien und Medien. Gerade im Alter, denn sonst wird man sehr schnell aus der Kommunikation mit anderen ausgeschlossen und kann viele alltägliche Dinge nicht mehr selbständig erledigen (z.B. das Bedienen von Fahrscheinautomaten). Hier kann man von einem unbedingt notwendigen lebenslangen Lernen sprechen, da sich die Technologien unermüdlich verändern und menschliche Ansprechpartner zunehmend ersetzt werden. Was gestern noch eine SMS war, kann heute schon eine „WhatsApp“ sein.

Wer sich nicht umstellt, muss damit rechnen, dass die Kommunikation mit Jüngeren erschwert wird oder sogar zusammenbricht. Da inzwischen in der professionellen Altenhilfe zunehmend mehr computergestützte Hilfen und Internetseiten zur Information eingesetzt werden, wird sogar von Hoch-betagten mehr digitale Kompetenz verlangt, die diese überwiegend ganz neu erlernen müssen. Zukünftig werden sich ältere Menschen wohl auch mit Haushaltsrobotern und anderen Assistenzsystemen auseinandersetzen müssen, wenn man selbstständig überleben will. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Kursangebote und Selbsthilfegruppen zu digitalen Medien und neuen Technologien in den letzten Jahren immer mehr von älteren Teilnehmern nachgefragt werden.

Use it or lose it

Aktuell ist allerdings die Hauptmotivation, im Alter zu lernen, der Erhalt der eigenen Gesundheit. Niemand will krank werden, nicht mit 20, nicht mit 50 und auch nicht mit 100 Jahren. Dadurch ist es zu erklären, warum ein Großteil der Angebote für das 3. Alter eigentlich keine klassischen Lernangebote sind, sondern eher als (Gruppen-)Aktivitäten konzipiert werden. Das Erlernen oder Ausprobieren neuer – vielleicht an eventuelle Einschränkungen angepasste – Bewegungstechniken, Tanzformen, die Teilnahme an Gedächtnistrainings oder das ehrenamtliche Engagement für eine neue Aufgabe basieren auf der These Use it or loose it!.

Wer nichts macht, macht zwar nichts falsch, doch er oder sie verliert bestehende Kompetenzen. Für einen Teil der älteren Menschen, gerade im höheren Alter, sind daher spezialisierte Angebote nötig, weil sie aufgrund von Ängsten, Unsicherheiten und Fragilität den Weg zu allgemein zugänglichen Aktivitäten nicht mehr auf sich nehmen können. Die daraus resultierende passive Lebensführung ist fatal, weil aus der Inaktivität z.B. von Muskeln ein gravierender Muskelschwund resultiert. Dadurch können langfristig auch Alltagsaktivitäten nicht mehr autonom bewältigt werden. Durch die Unterforderung des Gehirns oder soziale Isolation gehen außerdem kognitive und soziale Kompetenzen verloren, was sogar dementielle Prozesse beschleunigen kann.

Diese Erkenntnis ist inzwischen in unserer Gesellschaft angekommen. Viele ältere Menschen sind in Luxemburg auffällig aktiver, ernähren sich gesünder und bewegen sich mehr als Senioren in anderen europäischen Ländern. Und doch darf man sich von solchen medienwirksamen Statistiken nicht blenden lassen. Auch in Luxemburg ist eine gesellschaftliche Schere zu vermuten, da eine grausame Selektion besteht: Bildungsferne Menschen nehmen zu wenig an gesundheitsfördernden Aktivitäten teil und fallen inzwischen sogar durch geringere Lebenserwartung auf. Oft fehlt es an finanziellen Mitteln, um überhaupt bis zu einer Bildungseinrichtung zu gelangen. Oder der Wert solcher Angebote wird gar nicht erkannt, weil diese Personen z.B. Ausschreibungen nicht lesen (können). Oft sind sie schlicht und einfach nicht in der Lage, sich anzumelden und regelmäßig teilzunehmen, was bei vielen Anbietern ein Ausschlusskriterium ist. Eine aufsuchende Arbeit im Umgang mit Bildung für bildungsfernere ältere Menschen ist aktuell nicht vorgesehen. Doch dies wird zukünftig wohl DIE zentrale Herausforderung für jede Bildungseinrichtung sein, die sich an das 3. Alter richtet.

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