Die Wiedergeburt im kulturellen Kontext
Fast jeder vierte Einwohner Luxemburgs glaubt an die Seelenwanderung. Fortschrittsideologie, Wissenschafts- und Therapiediskurs prägen dabei den zeitgenössischen Glauben an die Wiedergeburt.
„Bringe ich auf einmal so viel weg, dass es der Mühe wiederzukommen etwa nicht lohnet“,1 schreibt Gottfried Ephraim Lessing in Erziehung des Menschengeschlechts und bringt damit neuen Elan in Debatten über Postmortalitätsvorstellungen und die Reinkarnationshypothese. Lessings Wunsch, „wiederzukommen“, um noch mehr zu erreichen, zeigt dabei ein besonderes Merkmal der europäische Reinkarnationsvorstellungen seit dem 18. Jahrhundert: Sie orientieren sich am damals vorherrschenden Fortschrittsglauben.
Reinkarnation als Fortschrittsideologie
Dieser Progressionswunsch lässt sich ebenfalls in Bezug auf theosophische und anthroposophische Konzeptionen ausmachen sowie für das spiritistische Milieu.2 So steht am Grab des wohl bekanntesten europäischen Spiritisten Allan Kardec: «Naître, mourir, renaître encore et progresser sans cesse, telle est la Loi». Die klassischen Texte des Buddhismus und Hinduismus hingegen betrachten das Leben als Enttäuschung und die Reinkarnation eher als eine Art Strafvollzug. Angestrebt wird nicht eine günstigere Reinkarnation, sondern das Nirwana bzw. das Moksha, den Austritt aus dem Samsara, dem Kreislauf der Wiedergeburten. Wenngleich, wie der Religionswissenschaftler Perry-Schmidt-Leukel betont, einige Passagen des Pali Kannons, den ersten buddhistischen Schriften, die Überzeugung enthalten, das ein gradueller, spiritueller Fortschritt hin zur Erlösung stattfinden kann, bleibt das Endziel jedoch das Samsara.3 Die zeitgenössischen Wiedergeburtsvorstellungen sind hingegen stark positiv konnotiert und werden als Selbstverwirklichungschance betrachtet.
Dabei wird die westliche Debatte um Reinkarnation jedoch nicht nur von Anthroposophen, hiesigen Buddhisten und sich selbst als generell spirituell Bezeichnenden mitgeformt, sondern auch von einem anderen Mitspieler: der Wissenschaft.
Keineswegs antagonistisch: das Verhältnis zur Wissenschaft
In der Tat popularisierte der vor genau 10 Jahren verstorbene kanadische Psychiater Ian Stevenson das Konzept der Seelenwanderung. Während einer Zeitspanne von 40 Jahren analysierte er weltweit 3000 Fälle von Kindern, die angaben, sich an ihre vorherigen Leben erinnern zu können. Um wissenschaftliche Beweiskraft zu erlangen und Reinkarnationen zu plausibilisieren, führte Stevenson Gespräche mit den Verwandten der Verstorbenen, die angeben, sich reinkarniert zu haben, und analysiert, ob die Beschreibungen des Wiedergeborenen zutreffen. In über 200 Untersuchungen versuchte er zudem seine Hypothese zu verfestigen, indem er ungewöhnliche körperliche Merkmale dokumentierte, die angeblich Reinkarnierte aufweisen. So behauptete beispielsweise ein türkischer Junge, der ohne rechtes Ohr geboren wurde, in seinem vorherigen Leben an einer Schusswunde gestorben zu sein. Er sei ein türkischer Bauer gewesen, der am Ende des Tages ein Nickerchen hielt. In der Dämmerung sei der Nachbar, der gerade auf Kaninchenjagd war, mit seiner Flinte vorbei gekommen und habe ihn versehentlich angeschossen, danach sei er ins Krankenhaus geliefert worden. Das Forscherteam um Stevenson konnte anschließend im erwähnten Krankenhaus die Akte eines am Kopf verletzten Bauern, der zehn Tage nach seiner Einlieferung starb, ausfindig machen.4
Kritiker hingegen behaupten, Stevenson räume Alternativerklärungen wie beispielsweise der Kryptomnesie (Pseudoerinnerungen) keinen Platz zu. Zudem seien die Erhebungssituationen oftmals problematisch: meistens sprachen die Verwandten an Stelle der Kinder. Und schließlich wurden die meisten Fälle in reinkarnationsaffirmativen Kulturen geäußert, in denen also eine gewisse Erwartungshaltung in Bezug auf Postmortalitätsvorstellungen besteht.5
Reinkarnationstherapie
Weil jedoch nicht nur die Wissenschaft produktiv auf religiös aufgeladene Meinungen wirkt, sondern auch der therapeutische Diskurs, gibt es seit dem 20. Jahrhundert auch einen Markt für Reinkarnationstherapie. Auf der Internetseite einer in Luxemburg arbeitenden Reinkarnationstherapeutin verflechten sich sogenannte wissenschaftliche Beweise für die Seelenwanderung, therapeutische Ansprüche und Weltbilder, die mit Weltmodellen gleichgesetzt werden. Die Verfechterin, die Rückführungen an frühere Leben anbietet, schreibt:„Es gibt Kinder, bei denen im Alter zwischen zwei und sechs Jahren Spontanerinnerungen an frühere Leben auftreten. Weltweit sind rund 3000 dieser Fälle dokumentiert. Welche Folgen mag es für die Kinder haben, wenn sie in einem familiären Umfeld aufwachsen, das schon die bloße Möglichkeit früherer Leben kategorisch ablehnt?“6
Immerhin gaben in einer Umfrage 41% der in Luxemburg Befragten an, dass sie annehmen, ein Leben nach dem Tod sei möglich, und 22% glauben an die Wiedergeburt.7 Diese spiegelkabinettartige Beeinflussung von spirituellem, wissenschaftlichem und therapeutischem Diskurs stabilisiert dabei sicherlich diesen Trend in einem Kontext, in dem es keine klar identifizierbare kulturelle Kraft gibt, die Reinkarnationsvorstellungen nachhaltig ins spirituell-religiöse Selbstverständnis verankert.
Studien belegen zum Teil, dass solche Therapieverfahren Erfolge verbuchen, wenngleich die in Rückführungen verhandelten Probleme, die aktuellen Alltagsbelastungen der Klienten mehr als nur tangieren. Die Gefühlsschau vermeintlicher früherer Leben bietet womöglich einen Raum, die eigenen Lebensnarrative und Emotionen neu zu sortieren.8 Gelegentlich wird allerdings in solchen Therapieverfahren der Rahmen des Menschenwürdigen gesprengt. Wenn etwa, wie bei Detlef K.H. Würth, postuliert wird, Vergewaltigungen seien durch Karma bedingt – also nach dem Prinzip der Selbstverschuldung.9
Seelenwanderung und Vorsokratiker
Reinkarnationsvorstellungen fanden allerdings nicht erst seit der Popularisierung asiatischer Religionen Ende des 19 Jahrhunderts Eingang in die Palette europäischer Postmortalitätsvorstellungen. Erstmals ist sie für die Vorsokratiker, also das 5./6.Jhr vor Chr. belegt. Konstitutiv für die Denktradition der Vorsokratiker ist die Annahme, dass der Mensch einen göttlichen Kern enthält und folglich einen unsterblichen Anteil. In diesem Fahrwasser philosophischer Spekulation kristallisieren sich die ersten, keineswegs einheitlichen Konzeptionen einer sich wiederverkörpernden Seele. Die Metempsyschosisvorstellungen bewegten sich zwischen Modellen, die eine Art verinnerlichte, mit dem Atem verbundene Lebenskraft annahmen, die weiter existiert, bis hin zu jenen, die von einer Art den Körper überdauernden, schattenartigem Zwilling ausgingen.10
Maßgeblich fanden die Seelenwanderungsvorstellung in der Antike durch Pythagoras Verbreitung. Er ist uns aus Schulzeiten eher bekannt für seinen „Pythagoreischen Lehrsatz“. Weit weniger bekannt ist er für seine kosmologische Lehre, deren Anhänger sich damals einer bestimmten, vor allem vegetarischen Lebensweise verpflichteten. Allerdings fehlen uns wichtige Details über seine Seelenwanderungsvorstellungen und zum Teil liegen widersprüchliche Zeugnisse vor.11
Die Berichte der nachfolgenden Jahrhunderte lassen vermuten, dass Pythagoras eine hylozoistische Kosmologie vertrat, die die Natur als lebendigen Organismus betrachtet und das Leben als prinzipiell wiederkehrendes. In der Forschung wird deshalb vermutet, dass das Seelenwanderungskonzept des Pythagoras nicht unbedingt eine Läuterung vorsah, sondern womöglich als kosmische Zwangsläufigkeit erachtet wurde. Er nahm dabei an, dass die Erde, die Entfaltung des „Einen“, des Göttlichen ist und insofern die Seele zwangsläufig an das Göttliche gebunden sei. Spätere Pythagoras Schüler luden die Seelenwanderung allerdings mit einer ethischer Wertung auf. Seine Nachfolger berichten zudem, Pythagoras habe sich an seine vorherigen Leben erinnert, sowohl an jene als Tier und Pflanze als auch an jenes als Sohn des Gottes Hermes.12
Mehr als eine Seele
Warum aber sollte eigentlich jeder Mensch nur eine „Seele“ besitzen? Dass dies nicht in allen Kulturen angenommen wird, zeigt womöglich am besten ein Blick in schriftlose Ethnien. Bei den Tinglit, einem nordamerikanischem Indianervolkes der südöstlichen Küstenregion Alaskas, wird die Seele nicht im Singular gedacht. Stirbt ein Mitglied der etwa 10000 Tinglit lösen sich sozusagen die „inneren Wesenheiten“ und verschwinden. Ein „spirit“, als Geist, wird sich jedoch reinkarnieren. Dabei kann kurze Zeit nach der Zeugung ein Heranwachsender mehrere „Seelen“ von Vorfahren aufnehmen – allerdings nur von Vorfahren mütterlicherseits. D.h. die Familie eines Kindes kann in diesem die reinkarnierte Wesenheit von unterschiedlichen Vorfahren festmachen. So wirkt Reinkarnation in diesem Beziehungsnetz sozial besonders stabilisierend.13
Dabei kann sich der Vorfahre als Teilsubstanz der neuen Persönlichkeit als eigenständige Wirkmacht manifestieren. In der Ethnographie Soul Hunters über eine sibirische Ethnie beschreibt Rane Willerslev, wie ein junger Mann Einsichten von seiner „Seele“, seinem ayibii, dem ehemaligen Bruder seiner Mutter, erhält. Er versteht sich dabei zugleich als eigenständige Person und reinkarnierter Vorfahre:
„Vor zwei Wochen, machte ich eine seltsame Erfahrung. Mein Bruder und Du, [Rane Willerslev], ihr wart gerade in den Wald jagen. Ich saß mit meiner Schwester Fimka in der Küche. Plötzlich sah ich einen Haufen rohes Fleisch auf dem Tisch liegen, das aus dem Nichts kam. „Sieh all das Fleisch“, sagte ich zu meiner Schwester. Aber sie konnte es nicht sehen. Da wusste ich, dass Du und mein Bruder ein Rentier umgelegt hattet. Verstehst Du, es war er [der ayibii von meinem Onkel, die reinkarnierte Seele von dem Bruder seiner Mutter] der es mir gezeigt hat.“14
Das Verhältnis zum ayibii ist dabei keineswegs stets ein kooperatives. Der ayibii kann auch Ansprüche stellen, über die die Jukagirs oftmals in veränderten Bewusstseinszuständen verhandeln müssen.
Durch ethnographische Forschungen werden diese außereuropäischen Reinkarnationsvorstellungen stets bekannter. Aber auch durch fiktive Werke. So erinnert uns ebenfalls ein etwas unerwarteter Akteur, der ehemalige Geheimdienstler André Kemmer, daran, dass in der Moderne ganz unterschiedliche Reinkarnationsvorstellungen nebeneinander bestehen sowie Elemente pythagoreischer Weltbetrachtungen heute noch aktuell sind. Er beschreibt in seinen Roman Aminas letztes Geheimnis: Eine Reise zwischen den Welten15, die Vorstellungen und Rituale der Drusen, einer Religionsgemeinschaft des Nahen Ostens, die vermeintlich durch die Reinkarnationsideen der Antike geprägt ist. Das Drusentum wird oft auch als Geheimreligion bezeichnet, weil viele Lehrsätze nur einem kleinen eingeweihten Kreis vermittelt werden. Aber Geheimreligion und Geheimdienst passen eventuell besser zusammen, als gemeinhin gedacht. u
1 Schmidt-Leukel Perry (1996): Reinkarnation und spiritueller Fortschritt im Buddhismus. In: Perry Schmidt-Leukel, Die Idee der Reinkarnation in Ost und West. Diederichs-Verlag, München. S.41
2 Zitiert in L.F. Helbig: Gottfried Ephraim Lessing. Die Erziehung des Menschengeschlechts. Historisch kritische Edition. Bern, Frank- furt am Main. S.27
3 Bischofberger , Norbert (1996): Der Reinkarnationsgedanke in der europäischen Antike und Neuzeit. In: Perry Schmidt-Leukel, Die Idee der Reinkarnation in Ost und West. Diederichs-Verlag, Mün- chen. S.86;
4 Stevenson, I. (1993). Birthmarks and birth defects correspond- ing to wounds on deceased persons. Journal of Scientific Explora- tion, 7, 403410, S.412.
5 Zander, Helmut (1999): Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. S. 596; Wilhelm Peter Mulacz: Der sogenannte wissenschaftliche Spiritismus als parapsychologisches Problem, in: Parapsychologie Hg. O Schatz, Graz u.a. 1976, S.245f .
6 vVgl. http://astrologie.lu/reinkarnation/
7 Brosenberger Monique, Dickes Paul (2011): Religions au Lux- embourg. Quelle évolution entre 1999-2008 ? Les cahiers du CEPS/ INSTEAD p.16, http://www.statistiques.public.lu/catalogue-publi- cations/cahiers-CEPS/2011/02-religions.pdf
8 Mischo, Johannes: Methodenprobleme der empirischen Rein- karnationsforschung. In: Grenzgebiete der Wissenschaft, 41/1992, S.140
9 Würt, Detlef K.H. (2016): Wir kommen alle wieder. Tredition, Hamburg (online: ohne Seitenangabe:
10 Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft, Studien zu Pythag- oras, Philolaos und Platon. Hans-Carl Verlag, Nürnberg 1962, S. 68f, S.98f; Zander, Helmut (1999): Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. S. 58f;
11 Bischofberger, Norbert (1996): Der Reinkarnationsgedanke in der europäischen Antike und Neuzeit. In: Perry Schmidt-Leukel, Die Idee der Reinkarnation in Ost und West. Diederichs-Verlag, München. S.77 ;
12 Zander, Helmut (1999): Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. S. 63f;
13 Frederica de Laguna: Under Mount Saint Elias. The History and Culture of the Yakutat Tinglit. 3 Bde. 1972 Washington, S. 777f
14 Willerslev, Rane (2007) Hunting, Animism, and Personhood among the Siberian Yukaghirs S.54-55. Eigene Übersetzung.
15 Kemmer, André (2014): Aminas letztes Geheimnis: Eine Reise zwischen den Welten. Binsfeld-Verlag, Luxemburg.
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