- Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft
Von Vögeln, Bienen und Amöben
Asexualität, die (noch) unsichtbare „vierte sexuelle Orientierung“
Vögel tun es, berichtet Cole Porters Song, Bienen tun es, sogar besonders hochentwickelte Flöhe tun es. Nein, nicht sich verlieben, wie es augenzwinkernd post-viktorianisch geschönt wird: Die Rede ist von Sex. Dabei ist es nicht die Aktivität an sich, die so sehr allgegenwärtig ist, sondern das Spiel mit der sexuellen Anziehung. „Sex sells“ ja eigentlich nur deswegen, weil wir denn doch das Model auf dem Plakat attraktiv, die Liebesgeschichte in Roman und Film romantisch finden. Am Ende steht – die Erfüllung, wahlweise als Orgasmus, der Kuss im Happy End oder in Ermangelung all dessen im Kauf des beworbenen Produkts.
Doch wenn sexuelle Anziehung so allgemein existent ist, dass sie vielen als Triebfeder von Kreativität, Produktivität und sogar Lebenssinn gilt, von der Gesundheit und psychischen Reife ganz zu schweigen, wie passen dann Personen ins Bild, die keinerlei sexuelle Anziehung verspüren?
Asexuelle (Un)Sichtbarkeit
1997, als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte, erschien ein Onlineartikel, der an sich unbeachtet geblieben und früher oder später dem Datentod der ersten Internetpages anheimgefallen wäre, hätte er nicht anderweitig für Beachtung gesorgt: Zoe O’Reilly veröffentlichte auf einer Homepage einen Artikel, in dem sie über ihr „Leben als Amöbe“ schrieb,1 ein Leben, in dem Geschlechtsverkehr keine Rolle spielt, denn Zoe O’Reilly ist asexuell.
Mit O’Reilly’s Artikel begann die Geburt einer vierten sexuellen Orientierung, neben Hetero-, Homo-, und Bisexualität: Asexualität, die sexuelle Anziehung gegenüber niemandem, nicht dem eigenen, nicht einem anderen und auch nicht mehreren Geschlechtern gegenüber. Selbstverständlich war die Existenz von Menschen, die keinerlei sexuelles Interesse haben, schon lange bekannt. Begriffe wie „Asexualität“, „Non-Libidoismus“ oder „Anaphrodismus“ und andere Umschreibungen eines Desinteresses an Sex oder fehlendem sexuellen Begehren geisterten bereits seit dem späten 19. Jahrhundert durch die sexual- und populärwissenschaftliche Literatur. Mitte des 20. Jahrhunderts „entdeckte“ Alfred Kinsey in seinen berühmten Studien zur männlichen (1948) und weiblichen (1953) Sexualität die „Gruppe X“, die sich in seiner Skala sexueller Orientierungen nicht einordnen ließ – vermutlich asexuelle Menschen. Leider interessierte sich Kinsey nicht weiter für diese Gruppe, wir wissen nicht einmal um die genaue Größenordnung dieser Gruppe: In der Studie, die sich für das sexuelle Verhalten interessierte, war die „Gruppe X“ eine Restkategorie. Den ersten wissenschaftlich relevanten Anhaltspunkt darüber, wieviele asexuelle Menschen es gibt – und bis heute ist dies tatsächlich die einzige Zahl von größerer repräsentativer Relevanz – legte Anthony Bogaert 2004 mit einer Zeitschriftenveröffentlichung über die „Häufigkeit von Asexualität in einem nationalen repräsentativen Sample“ vor.2 In diesem Artikel wertete er die Daten einer Erhebung von 1994 über die Sexualpraktiken von 18000 Personen in Großbritannien erneut aus und kam zu dem Ergebnis, dass etwa 1% der Befragten angaben, „niemals sexuelle Anziehung entweder zu Männern oder zu Frauen“ empfunden zu haben. Obwohl diese Zahl im Hinblick auf ihr Alter, ihre nationale Verortung und die Definition von Asexualität mit Vorsicht genossen werden sollte, gilt sie bis heute weltweit als einzige verlässliche Angabe über die Häufigkeit von Asexualität.
1% aller Menschen sollen also asexuell sein. Für sich genommen, klingt die Zahl nicht gerade sehr beeindruckend, immerhin bedeutet das, dass 99% aller Menschen dann doch sexuelle Anziehung verspüren – genug, um diese 99% für allgemeingültig zu halten. Setzt man diese Zahl jedoch in ein Verhältnis zu anderen Verteilungen von 1%, fragt man sich doch, warum gerade dieses 1% erst vor 20 Jahren überhaupt in Erscheinung trat und nicht schon früher so sichtbar geworden ist wie Rothaarige, so erforscht wurde wie Bipolarität oder so selbstverständlich existiert wie die türkische Sprache (womit natürlich nicht unterstellt werden soll, dass die genannten Merkmale besonders privilegierend seien). In Zahlen ausgedrückt, sind bei etwa 7 Milliarden Menschen also möglicherweise 70 Millionen Menschen asexuell, auf Luxemburg bezogen wären das immerhin etwa 5700 Menschen (Stand 2016).
Keine sexuelle Anziehung gegenüber anderen Personen
Die allgemeinste Definition von Asexualität lautet, dass keine sexuelle Anziehung gegenüber anderen Personen besteht. Diese Definition ist außerordentlich vage und fordert bislang unhinterfragte Vorstellungen, was denn sexuelle Anziehung überhaupt ist und wie man sie erforschen kann, heraus. Andrew Hinderliter, der über Asexualität forscht und schreibt, bezeichnet diese Definition, die aus der asexuellen Community selber stammt, als „PR Definition“,3 dazu bestimmt, Asexualität für Nicht-Asexuelle zu erklären. Innerhalb der Community lautet die allgemeingültige „Definition“ seit O’Reillys Artikel: „I think I’m asexual, therefore I am.“ – wer sich mit dem Konzept rund um Asexualität herum identifizieren kann, wer sich dort wiederfindet, kann sich als asexuell bezeichnen.
Diese Offenheit der Definition ist einerseits natürlich von der Vielfältigkeit von asexuellen Ausprägungen und Lebensweisen geprägt. Sie soll einer Vielzahl von Menschen ein definitorisches Obdach bieten, die „anders“ als die sexuelle Norm sind: Menschen, die keine oder nur sehr wenig sexuelle Anziehung zu anderen verspüren, Menschen, die überhaupt keine Lust verspüren, asexuelle Menschen, die romantische Beziehungen eingehen wollen, und auch solche, die aus verschiedenen Gründen sexuell aktiv sind. Längst spricht man nicht mehr von „der Asexualität“ sondern von einem „asexuellen Spektrum“, ein kontinuierlicher Bereich, der ein komplettes Fehlen sexueller Empfindungen ebenso umfasst wie den „Graubereich“, innerhalb dessen Personen unregelmäßig, nur in geringem Ausmaß oder nur unter sehr bestimmten Bedingungen sexuelle Anziehung verspüren können, und sich deswegen nicht in den „klassischen“ Orientierungen wiederfinden.
Trotz der Definition von Asexualität als Spektrum ist dieses Label keineswegs beliebig. Es gibt Lebensweisen, die bisweilen als „asexuell“ umschrieben werden, die jedoch nicht als asexuelle Orientierung gelten: Der freiwillige oder unfreiwillige Verzicht auf Sex, etwa im Rahmen religiös motivierter Abstinenz oder einer „Durststrecke“ im Singleleben hat ebenso wenig mit Asexualität zu tun wie sexuelle Unlust oder Dysfunktionen im Kontext von Erkrankungen. Asexualität ist also weder eine bewusste Entscheidung noch eine bestimmte Handlung (oder eben Nicht-Handlung), und eine psychologische oder physiologische (also etwa Erregungsschwierigkeiten oder ein Hormonmangel) Ursache konnte ebenfalls nicht als Grund für eine asexuelle Disposition bestätigt werden. Nach dem aktuellen wissenschaftlichen Stand ist Asexualität also genau das, was asexuelle Personen auch anerkannt wissen wollen: eine sexuelle Orientierung, ähnlich wie Heterosexualität, Homosexualität und Bisexualität. Selten, aber normal.
Ebenen der zwischenmenschlichen Anziehung
Vielleicht waren es die Schwierigkeiten der Definition, insbesondere vor dem Hintergrund scheinbar eindeutigerer sexueller Orientierungen, die dazu geführt haben, dass Asexuelle vor allem in online Foren und Blogs eine eigene Form gesucht und gefunden haben, den Wirrwarr aus sexueller Orientierung, Liebesbeziehungen und emanzipatorischem Anspruch konzeptionell zu ordnen. Ein zentraler Dreh- und Angelpunkt dieser Ordnung besteht zum Beispiel in der analytischen Trennung zwischen sexueller, romantischer und anderer Formen der Anziehung (ästhetisch, platonisch, sensuell). Was meist mehr oder weniger dasselbe zu sein scheint, z.B. dass man eine Person, mit der man eine romantische Beziehung eingehen möchte, auch sexuell attraktiv und generell „schön“ findet, verliert seine Evidenz, wenn z.B. eine Ebene der Anziehung wegfällt – etwa die sexuelle. So wünschen sich viele asexuelle Menschen – längst nicht alle – eine romantische Beziehung, verlieben sich, heiraten und manche bekommen sogar Kinder. Nur sexuelle Anziehung verspüren sie dennoch nicht. Da allerdings in unserer Gesellschaft oft das eine – Liebe, Partnerschaft – nicht ohne das andere – sexuelle Anziehung und Lust – denkbar scheint, kann es für romantische Asexuelle sehr schwer sein, einen Partner oder eine Partnerin zu finden. Asexuelle, die sich verlieben können und wollen, die also, im Jargon, romantische Anziehung verspüren, machen dies oft durch einen Zusatz kenntlich: sie sind dann „hetero-asexuell“ oder „homoromantisch-asexuell“ oder eben auch bi- oder panromantisch-asexuell. Asexuelle, die neben der sexuellen Anziehung auch keine romantische Anziehung empfinden, bezeichnen sich, analog dazu, als „aromantisch-asexuell“, im Englischen verkürzt zu „aro-ace“.
Asexuelle Diskriminierung
Rechtlich gesehen, haben es asexuelle Personen traditionellerweise ganz gut, wenn man die Geschichte der Kriminalisierung und Verfolgung von Homosexualität zum Vergleich heranzieht: Nicht sexuell aktiv sein zu wollen, war, außerhalb konservativer Ehegesetze, schließlich nie strafbar. Auch laufen asexuelle Menschen nicht gerade Gefahr, angegriffen zu werden, weil sie nicht-kopulierend mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin durch die Stadt schlendern. „Corrective rapes“, also Vergewaltigungen, die damit begründet werden, man wolle eine „falsche“ sexuelle Orientierung „heilen“, sind allerdings möglicherweise eine reale Gefahr für asexuelle Menschen, ähnlich wie für homo- oder bisexuelle Menschen. Zahlen existieren dazu allerdings nicht.
Sind Asexuelle also die glückliche sexuelle Minderheit, die von Diskriminierung nicht betroffen ist? Ganz so einfach ist es nicht, denn deren „informellen Formen“ bekommen Asexuelle durchaus zu spüren. So stellte der Diskriminierungsforscher Gordon Hodson 2012 in einer Studie fest,4 dass Vorurteile und sogar diskriminierendes Verhalten gegenüber Asexuellen nicht nur weit verbreitet, sondern noch ausgeprägter ist als z.B. gegen homosexuelle Personen. Befragte gaben z.B. an, sie wünschten weniger Kontakt zu Asexuellen, wären weniger bereit, einer asexuellen Person eine Wohnung zu vermieten oder eine asexuelle Person einzustellen als eine(r) homo- oder heterosexuelle Person, und stimmten öfter entmenschlichenden Aussagen zu, wie der, Asexuelle seien „weniger menschlich“.
Dass es keineswegs leicht ist, einer sehr kleinen Gruppe anzugehören, die das scheinbar „allgemein-menschliche“ Gefühl sexueller Anziehung nicht verspürt, wissen die allermeisten Asexuellen jedoch auch ohne wissenschaftliche Studien seit ihrer Jugend. Viele berichten von Leiden darunter, „anders“ zu sein, nicht zur Gesellschaft zu gehören, ja, „defekt“ zu sein, bevor sie zum ersten Mal überhaupt dem Begriff „Asexualität“ begegnen. Aufgrund dieses oder anderer Leiden suchen einige Asexuelle psychotherapeutische Hilfe, machen dort jedoch bisweilen die Erfahrung, dass das Fehlen sexueller Anziehung oder Gefühle auch hier als pathologisches Symptom für Depressionen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Persönlichkeits- oder Entwicklungsstörungen gedeutet wird, eben ganz im Sinne einer Norm, die Sexualität zur vitalen Kraft schlechthin erhebt.
Auf dem Weg zu einer Community
Unter dem Artikel O’Reillys mehrten sich in den folgenden Monaten und Jahren die Kommentare, viele von Asexuellen, die ihre Dankbarkeit zum Ausdruck brachten, lesen zu können, dass sie nicht „die einzigen sind, die so fühlen“. Manche veröffentlichten verzweifelte Hilferufe, versehen mit Kontaktdaten und dem Wunsch, aus ihrer Isolation treten zu können. Andere beschrieben Erlebnisse der Offenbarung beim Lesen des Wortes „asexuell“. Durch das Internet hatte diese Minderheit endlich das Medium entdeckt, zu sich selbst und zueinander zu finden.
Im Jahr 2000 wurde die erste asexuelle Onlinecommunity, die Yahoo!-Gruppe Haven for the human amoeba, geschaffen, und ein Jahr darauf begründete der damalige College-Student David Jay mit dem Asexuality Visibility and Education Network (AVEN)5 die bis heute wichtigste Plattform für Asexualität. Die Möglichkeit, mit einfachen Tools selbst Internetinhalte zu veröffentlichen, in sozialen Medien wie LiveJournal oder Tumblr, förderte die asexuelle Sichtbarkeit, aber auch die Bereitstellung von Wissen weiter, und auch die Wissenschaft, allen voran die Psychologie, begann, sich des Themas anzunehmen.
Die Geschichte ist damit noch nicht an einem Ende angekommen: Noch ist es selten, dass neben Hetero-, Homo- und Bisexualität auch die Asexualität überhaupt erwähnt wird. Während asexuelle Personen im Internet relativ leicht Kontakte knüpfen und sich informieren können, sind Offline-Treffen noch sehr rar, und auch queere Netzwerke oder sexualgesundheitliche Beratungsstellen decken Asexualität noch kaum ab. In erster Linie fehlt es an Aufklärung, die meisten Menschen können nach wie vor mit dem Begriff nichts anfangen oder verfügen lediglich über ein Halbwissen. Dass ein erfülltes Leben auch ohne sexuelle Anziehung möglich oder sogar interessant sein soll, erscheint vielen Menschen schwer vorstellbar. Nun ja, vielleicht brauchen wir für’s Erste auch einfach eine offenere Popkultur.
1 O’Reilly, Zoe: „My life as an amoeba“, auf: Starnet Dispatches, 20. Mai 1997. Abrufbar: http://web.archive.org/ web/20020601161040/http://dispatches.azstarnet.com/zoe/ amoeba.htm
2 Bogaert, Anthony: „Asexuality: Prevalence and associated factors in a national probability sample“, in: Journal of Sex Research 41 (3), 2004, S. 279-287.
3 Hinderliter, Andrew C.: „Asexuality: The History of a Definition“, auf: Asexual Explorations, 2009. Abrufbar: http://www.asexualexplorations.net/home/history_of_definition.html.
4 Siehe Hodson, Gordon. 2012. „Prejudice Against “Group X” (Asexuals). Disliking those with no sexual attraction to others“. Auf: Psychology Today, 1. September 2012. Abrufbar: https:// www.psychologytoday.com/blog/without-prejudice/201209/ prejudice-against-group-x-asexuals
5 http://www.asexuality.org/
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