Am guten Willen hat es nicht gelegen: Bis zuletzt trommelten Behörden, Parteien und Verbände, um die wahlberechtigten Nicht-Luxemburger zu motivieren, sich in die Wählerlisten einzutragen und am 8. Oktober an den Kommunalwahlen teilzunehmen. Der Erfolg ist, leider, überschaubar. Weniger als ein Viertel derer, die wählen gehen könnten, wollen dies auch wirklich tun. Das sind, nach vorläufigen Zahlen, landesweit 34638 Personen. Der Nichtwähleranteil unter den wahlberechtigten Ausländern bleibt mit rund 77 Prozent erschreckend hoch1.
Über die Ursachen für das weitverbreitete Desinteresse haben wir an dieser Stelle schon leidenschaftlich spekuliert2. Dazu gehören neben der psychologisch begründeten Attitüde von Bescheidenheit, Zurückhaltung und Nichteinmischung gegenüber den „Autochthonen“ vor allem der Wahlzwang und die gesetzlich vorgesehenen Sanktionen beim Nichtwählen sowie ein schwer verständliches, in letzter Konsequenz unpolitisches Wahlsystem mit Kandidaten, die um panaschierte persönliche Vorzugsstimmen buhlen.
Hinzu kommen die historisch gewachsenen Partikularitäten der luxemburgischen Parteiensoziologie, die landesspezifischen gesellschaftlichen Bruchlinien, Freund-Feind-Schemata und Diskussionsraster, kurz: all die Dinge, die bewirken, dass jedes demokratische Regime, in welchem Staat, in welcher Region auch immer, auf seine Weise einzigartig ist.
Zur Illustration stellen Sie, lieber Leser, sich folgende Situation vor: Sie arbeiten als gutbezahlter Luxemburger Expat für eine Fondsgesellschaft in Dublin. Als vorbildlicher EU-Bürger und NeuDubliner ist es Ihnen ein Herzensanliegen, an den dortigen Kommunalwahlen teilzunehmen. Wen wählen Sie? Fine Gael oder Fianna Fáil? (Sinn Féin ist Ihnen eh nicht geheuer.) Auf den ersten Blick wirken die zwei irischen Großparteien wie Speck und Schweinefleisch, irgendwie Volksparteien, irgendwo Mitte-rechts. Doch die Rivalität zwischen FG und FF ist unerbittlich. Sie rührt aus dem Bürgerkrieg von 1922/23. Die eine Seite kämpfte für den Anglo-Irischen Vertrag und den jungen Freistaat, die andere dagegen. Damit haben Sie, der Luxemburger in Dublin, natürlich nichts am Hut. Sie orientieren sich ganz zeitgemäß an der Fraktionszugehörigkeit beider Parteien im Europaparlament. Na dann viel Glück beim Erkenntnisgewinn! Fianna Fáil nämlich gilt als die volkstümlichere, katholischere, konservativere Partei, hat sich auf EU-Ebene aber den Liberalen angeschlossen. Und Fine Gael ist, obschon deutlich bourgeoiser, städtischer und liberaler, Mitglied der christdemokratisch-konservativen Europäischen Volkspartei.
Merke: Wer Immigranten zum politischen Mitgestalten animieren will, muss ihnen, falls gewünscht, die spezifische Parteiengeographie im Wohnland mit den gesellschaftlichen und geschichtlichen Begrifflichkeiten des jeweiligen Herkunftslands erläutern (=politische Bildung). Wobei der Verweis auf die diversen europäischen Parteienfamilien, die weniger ideelle Glaubensgemeinschaften als knallharte Machtapparate im Brüsseler Postenschacher sind, nur sehr bedingt zielführend ist, weil er oft mehr Konfusion als Klarheit bringt.
CSV und Alkohol, LSAP und Religion
Andere (praxiserprobte) Beispiele gefällig: Vielen Ausländern in Luxemburg ist das „C“ im Namen der CSV völlig fremd, weil es in ihrem Land nie eine „C-Partei“ gegeben hat. Skandinavier z.B. kennen zwar die Etikette, interpretieren sie aber ganz anders, weil die christlichen Kleinparteien in Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland naturgemäß nicht in der Tradition der katholischen Soziallehre stehen, sondern überwiegend in protestantisch-evangelikalen Freikirchen verankert sind, weshalb eines ihrer dringlichsten Anliegen ist, der permissiven Gesellschaft den Genuß des Teufelszeugs Alkohol auszutreiben.
Demgegenüber kann ein in Luxemburg ansässiger religious socialist aus der britischen Labour Party nicht verstehen, weshalb sich die LSAP so penetrant antikirchlich gibt und Religion zur striktesten aller Privatsachen erklärt. Gleiches gilt für PS-Symphatisanten aus der ländlichen Bretagne. Ab den 1970er Jahren mutierte der Grand Ouest zur Hochburg der französischen Sozialisten, weil diese ihre Kader systematisch im Milieu der Katholischen Aktion (Gewerkschaften, Pfadfinder, Landvolk, Familienverbände) rekrutierten. Den militanten Laizismus einer LSAP lehnen bretonische – aber auch elsässische – Linke aus der Schule der Deuxième Gauche als jakobinisch-anachronistisch ab.
Hervorragend bedient sind derzeit die Anhänger von Emmanuel Macron. Sie werden feststellen, dass mindestens dreieinhalb luxemburgische Parteien ihr neues Idol für sich beanspruchen. Im Gegenzug müssen sich italienische Berlusconi-, ungarische Orbán- und US-amerikanische Trump-Fans hierzulande wie politische Vollwaisen vorkommen. Ja, selbst da, wo offensichtlich alles glasklar und einfach ist, bleiben Ungereimtheiten: Niederländische und belgische Liberale z.B., die zuhause auf Mark Rutte bzw. Charles Michel schwören, verorten sich ganz selbstverständlich auf der rechten Seite im politischen Meinungsspektrum (und geringschätzen die Christdemokraten als Weder-Fisch-noch-Fleisch-Zentristen). Sie finden es rätselhaft und höchst fragwürdig, wenn sich die Bettel-DP kokett als „Linkspartei“ verkaufen will.
Man könnte die Aufzählung ad infinitum fortsetzen. Beschränken wir uns aber auf diese eine, ganz zentrale Frage: Welche Partei in Luxemburg hat bislang die nötige Expertise aufgebaut, damit sich der begehrte, oft hilflose Neuwähler aus dem nahen oder fernen Ausland wirklich verstanden, ernst genommen, gut aufgehoben… und damit (fast) wie zu Hause fühlt?
Ausländische Kandidaten: kalkuliertes Risiko
Natürlich haben es die Spätgeborenen da einfacher als die Altparteien. Für Déi Gréng und Déi Lénk als Kinder des ausgehenden 20. Jahrhunderts finden sich allenthalben in Europa leicht identifizierbare „Schwesterparteien“, die aus dem gleichen ideologischen Fundus schöpfen. Beide Gruppierungen verfolgen zudem weniger eine nationale denn eine internationalistische Agenda. Folglich gehört es für sie zum guten Ton, auf ihren Kandidatenlisten überdurchschnittlich viele Ausländer zu präsentieren. Mit einem überschaubaren, dafür recht soliden Wählerreservoir gehen sie damit auch kein rechnerisches Risiko ein. Die Besetzung der (fast) sicheren Mandate machen die paar (luxemburgischen) Platzhirsche unter sich aus. Die restlichen Kandidaten, d. h. vier Fünftel von allen, bevölkern das weite Feld der Namenlosen, bei denen es, wahlarithmetisch betrachtet, vollkommen gleichgültig ist, ob Hinz Luxemburger und Kunz Nicht-Luxemburger ist.
Letztere, die etablierten Catch-All-Parteien, sind es, die auf den unserem Wahlsystem inhärenten Honoratioreneffekt am dringendsten angewiesen sind. Weil jede einzelne Wählerstimme über einen klitzekleinen Restsitz mehr oder weniger entscheiden kann, fährt vorab die liberale DP den Kaskoversicherungskurs des panaschierten Nullrisikos. Will heißen: Sollte sich mal ein Nicht-Luxemburger auf eine DP-Kandidatenliste verirren, liegt es ganz bestimmt nicht daran, dass die Person nicht Luxemburger ist.
Christlichsoziale und Sozialisten gehen da ein Stück weit voluntaristischer zu Werke und achten, besonders in größeren Proporzgemeinden, darauf, dass auch der eine oder andere gut integrierte Ausländer auf der Liste fungiert. Da beide, CSV und LSAP, den Anspruch erheben, große Volksparteien zu sein, haben sie sogar spezielle parteiinterne Strukturen gebildet, um Einwanderern den Zugang zur Mitarbeit zu erleichtern. Doch sowohl die LSAP-Arbeitsgruppe SPIC (Socialistes pour l’intégration et la citoyenneté) als auch die Unterorganisation CSV International tun sich, bei allem guten Willen, schwer damit, als ernstzunehmendes Sprachrohr der nicht-luxemburgischen Parteimitglieder in Erscheinung zu treten. Das liegt vorrangig daran, dass es den Ausländer als homogenen Typus weder im Partei- noch im richtigen Leben gibt. Realiter gibt es, siehe oben, eine Vielzahl von Menschen mit eigener Herkunft und Kultur, Sprache und Religion, Biographie und politischer Sozialisation, wie sie unterschiedlicher teils nicht sein könnten – auch wenn diese Menschen als kleinster gemeinsamer Nenner verbindet, dass sie, vielleicht nur zufällig, Mitglied in ein und derselben politischen Partei in Luxemburg sind.
Wieso und weshalb sie diesen Schritt getan haben, was sie sich davon erwarten, was sie bereit sind, von ihrem Wissens- und Erfahrungskapital beizusteuern und, vor allem, welche Ideale und Grundwerte sie spezifisch mit dieser Partei assoziieren, interessiert die mit honorigen Berufspolitikern bestückten zentralen Führungszirkel oft nur am Rande. Dort freut man sich erstmal über jeden neuen Beitragszahler, der die Mitgliederstatistik ein bisschen aufhübscht. Das Selfie mit der Parteiprominenz beim Sommerfest gibt’s dann gratis hinzu.
1 Für die Europawahlen vom 25. Mai 2014 hatten sich 21650 wahlberechtigte EU-Bürger auf den luxemburgischen Wählerlisten registriert. Der Nichtwähleranteil betrug 87,8 Prozent (mit der Einschränkung, dass die in Luxemburg wohnhaften Unionsbürger zum Teil in ihrem jeweiligen Heimatland wählten).
2 Pierre Lorang: „Bitte, bitte, kommt doch wählen!“; in: forum Nr. 375, Juli 2017, S. 25-26.t
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