Manche Dinge verhalten sich in Kleinstaaten anders. Die Wege sind kurz, Entscheidungen werden flexibel und pragmatisch getroffen. Und das gemeinsam – so das in Luxemburg eingespielte, dem Nation branding verpflichtete Narrativ. Weniger im Rampenlicht steht jedoch der Befund, dass Querelen bei Missgunst überproportionale Auswirkungen in Kleinstaaten haben können, aus dem einfachen Grund, dass man sich hier immer wieder in die Quere kommt. Der vermeintliche Vorteil der Enge vermag so auch ins Gegenteil umzuschlagen. Um dem vorzubeugen, wird in Luxemburg ein Diskurs intensiv bemüht: der der sozialen Kohäsion.

Soziale Kohäsion, beziehungsweise gesellschaftlicher Zusammenhalt, ist ein vieldeutiges Konzept, beschäftigt sich aber im Allgemeinen mit der Frage, wie soziale Ordnung in Zeiten des hohen strukturellen Wandels erhalten oder wieder hergestellt werden kann. Bernard1 bezeichnet soziale Kohäsion als sogenanntes „Quasi-Konzept“. Einerseits wissenschaftlich legitimiert, wird es im politischen Diskurs bewusst vage gehalten und mit einer gewissen Beliebigkeit verbunden, damit es flexibel zu den jeweils politisch notwendigen Positionen eingesetzt werden kann. Es ist positiv formuliert und soll ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen.

Unklar ist, ob soziale Kohäsion ein Prozess ist, der auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist oder als Status verstanden werden sollte. Vor allem aber schreibt der Appell an den Zusammenhalt implizit oft eine Dosis von Mitgefühl und eine Rückkehr zu Werten vor, anstatt eine institutionelle Vermittlung von Interessen zu unterstützen. Auf diese Weise werden zunehmende soziale Ungleichheiten verschleiert.2

In Anlehnung an die Typologie von Bernard (welche auch von CEPS, später LISER übernommen wurde) wird im Folgenden die soziale Kohäsion in Luxemburg in ökonomischen, politischen und sozio-kulturellen Belangen beleuchtet.

Soziale Kohäsion wird in Luxemburg hauptsächlich in einem wirtschaftlichen Kontext wahrgenommen. Hier treten insbesondere die Statec-Berechnungen der Arbeitslosenquote und die sich auf das mediane Einkommen beziehende Armutsrisikoquote hervor. Da die Vermögenslage, darunter auch Immobilienbesitz, dessen Anteil am Gesamtkapital der Bevölkerung hierzulande besonders hoch ist, statistisch allerdings nicht erfasst wird, lässt die ermittelte Quote viel Spielraum für Interpretation.

Bemerkenswert ist, dass die luxemburgische Bevölkerung ihren politischen Institutionen ein im europäischen Vergleich hohes Vertrauen schenkt3 und ihr damit eine hohe Legitimität verleiht, während die gelebte politische Partizipation unterentwickelt ist. Politische Institutionen in Luxemburg, auch auf Gemeindeebene, zeigen sich dem Bürger gegenüber recht zugeknöpft. Eine inklusive Bürgerbeteiligung findet selten statt. Luxemburg hat als einziges EU-Land den Informationszugang noch nicht gesetzlich geregelt.4

Auch ist das soziale oder interpersonelle Vertrauen in Luxemburg mäßig und liegt seit vielen Jahren unterhalb des EU-Durchschnitts,5 wobei ein positiver Trend im letzten Jahrzehnt 6 gänzlich von den Immigranten getragen wurde.7 Bei bürgerschaftlichen Aktivitäten im sozio-kulturellen Bereich unterscheidet man nach der Motivation. Werden diese um ihrer selbst willen erledigt, zumeist weil man Freude daran hat, sind sie intrinsisch motiviert. Ist die Motivation jedoch exogen und das Engagement stammt nicht aus eigenem Antrieb, so ist sie extrinsisch. Mitgliedschaften in Interessenverbänden sind oft eher extrinsisch motiviert und dabei der sozialen Kohäsion nicht unbedingt förderlich.

Die eingesessene Bevölkerung kann gegenüber den Zugezogenen einen höheren ehrenamtlichen Einsatz in Vereinen verbuchen. Letztere bringen sich mehr ein, beziehungsweise haben mehr Vertrauen in staatliche und religiöse Institutionen sowie größere Unternehmen, was im Allgemeinen mit mehr extrinsisch motiviertem Vertrauen einhergeht.8 Sarracino kommt sodann auch zum Schluss, dass die Luxemburger Gesellschaft nicht inklusiv zu sein scheint und eine „Art Polarisation“ zwischen Immigranten und Eingesessenen aufweist.

Diese Diskrepanzen haben zur Folge, dass es mit der äußerlichen Akzeptanz des Andersseins andersgearteter Gruppen nicht getan ist. Akzeptanz erfordert die Tolerierung von Unterschieden, während Zugehörigkeit gemeinsame Werte und die Beteiligung am Aufbau einer Gemeinschaft voraussetzt, was nicht mit Einstimmigkeit gleichzusetzen ist, sondern die Akzeptanz eines aktiven Dialogs über diese Werte meint.9 Damit tut sich die Luxemburger Gesellschaft jedoch schwer.

Sozialkapital

Sozialkapital wird von manchen10 als das Fundament des gesellschaftlichen Zusammenhalts angesehen, wobei dieses als breiter aufgestellt gilt und zugleich den Abbau von sozialer Ungleichheit zum Ziel hat. Beide Begriffe weisen ähnliche Schwächen auf: Sie sind vage gehalten, schwer messbar und somit eine ideale Spielwiese für allerlei Deutungen von Seiten der Politik. Auf Tocqueville, Dürkheim und Tönnies aufbauend, benötigt Sozialkapital starke soziale Netzwerke, gemeinschaftliche Unternehmen etwa in Vereinen, außerdem Vertrauen, um die Gesellschaft mit ihren politischen Institutionen gut funktionieren zu lassen.

Putnam11 hat diese Debatte in einer vergleichenden Studie über die ungleiche Entwicklung der Zivilgesellschaft zwischen Nord- und Süditalien aufgegriffen. Soziales Kapital ist für ihn in erster Linie ein public good auf Makroebene während es bei Bourdieu12 eine individuelle Ressource ist. Neben ökonomischem und kulturellem Kapital beruht sie laut Bourdieu auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und trägt dazu bei, dass Karrieren, Macht und Reichtum nicht nur auf individuellen Leistungen basieren, sondern auf Beziehungsnetzen, sozusagen als „akkumulierte soziale Energie“.

Als solche spielt das Element der sozialen Ungleichheit eine wichtige Rolle bei Bourdieu, während es bei Putnam weitgehend ausgeblendet wird, was ihm wiederholt vorgeworfen wurde.13 Putnam14 verfeinerte später das Konzept, indem er zwischen „brückenbildendem“ (bridging) und bindendem (bonding) Sozialkapital unterschied. Mit starken, loyalen Bindungen fördert letzteres eher Mechanismen der sozialen Schließung, die für eine erweiterte Gesellschaft mit Problemen verbunden sind während inklusives, überbrückendes Sozialkapital unterschiedliche Gruppen in offenen Netzwerken zusammenführt.

Überträgt man diese Gliederung auf Luxemburg, so hat der an einer Kultur- und Sprachgrenze gelegene „geokulturelle“ Kontext der Luxemburger Gesellschaft dazu beigetragen, den Übergang zu einer heute sehr multikulturellen Bevölkerungsstruktur bisher ohne nennenswerte soziale Konflikte zu erleichtern. Dennoch bleibt der Aufbau von brückenbildendem Kapital eine Herausforderung.

Kommunitarismus

In Luxemburg ist die französische Deutung des Begriffs des Kommunitarismus am gebräuchlichsten. Begründet in der jakobinischen Tradition der Assimilation von Zuwanderern, ist dieser negativ besetzt und zeigt die Entstehung von Parallelgesellschaften an. Darüber hinaus wird unter „Kommunitarismus“ eine Reaktion auf den vermeintlichen, von exzessivem Liberalismus geförderten Hyperindividualismus verstanden, der mit Entsolidarisierung, Werteverfall und Sinnkrise einhergeht. Ohne auf sozioökonomische Belange einzugehen, stellen Kommunitaristen – wie auch Putnam – dem mehr bürgerliches Engagement und die Stärkung der Zivilgesellschaft gegenüber. Der Weg zu einer aktiven, sich selbst regulierenden Bürgergesellschaft wurde gegen Ende des letzten Jahrhunderts mit Tony Blairs und Gerhard Schröders sozialdemokratischem Dritten Weg auch in umgekehrte Richtung eingeschlagen.15 Hier galt es von einem allumfassenden Etatismus in Wirtschaft und Gesellschaft zu einer aktiveren Zivilgesellschaft zu gelangen.

Communautarisme in Luxemburg

In einer multikulturellen Gesellschaft kommt es auch bei gegenseitiger Akzeptanz zu Konflikten. Ob diese ausgetragen oder ausgesessen werden, hängt von der Streitkultur ab, die der eingesessenen Bevölkerung oft abgesprochen wird. Die Luxemburger Gesellschaft tendiert deshalb dazu, sich in Parallelgesellschaften zurückzuziehen. Man mag sich den Luxemburger Publizisten und Filmemacher Gordian Troeller in Erinnerung rufen, der mit Vorliebe dazu anregte, Debatten auch mit harten Bandagen auszutragen, wenn nur die äußeren Umstände stimmen.

Nehmen wir den Indikator der Mitgliedschaft in Vereinen. So meint Rob Thillens,16 Kommissar im Sportministerium, dass wegen veränderten Familienstrukturen die Ehrenämtler sich immer mehr zurückziehen und die soziale Rolle des lokalen Sportclubs heute fast nicht mehr existiere. Immigranten wird so der Zugang noch schwieriger gemacht, zumal sich die nach außen das Bild des Multilingualismus vermittelnden Eingesessenen in lokalem Ambiente lieber in der eigenen Muttersprache unterhalten. Solche Konflikte bedürfen einer offenen Debatte, enden jedoch meist in identitären Grabenkämpfen auf sozialen Netzwerken.

Neben dem Kommunitarismus à la française finden sich auch Elemente des identitätsstiftenden Kommunitarismus in Luxemburg wieder. Das aus der katholischen Soziallehre stammende Subsidiaritätsprinzip, eine gesellschaftliche Maxime, die Selbstbestimmung auf der jeweils unters-ten sozialen Ebene (Familie, Gruppe) anstrebt und daher einem gesamtheitlichen und mehr umfassenden Steuerungs- und Regelungssystem im Wege steht, kann durchaus dem sozialen Zusammenhalt abträglich sein. Die starke institutionelle Autonomie der teils kleinräumigen Gemeinden darf man dieser Maxime getrost zurechnen. Abschließend sei darauf verwiesen, dass soziale Kohäsion mit der Wirtschaftsleistung eines Wirtschaftsraumes korreliert. Als nach 2008 die Luxemburger Wirtschaft bei anhaltender und sogar sich verstärkender Immigration negative Wachstumsraten verzeichnete, waren prompt warnende Stimmen zu vernehmen.17 Besonders in dem durch hohe Volatilität geprägten Kleinstaat gilt es, wach zu bleiben und soziale Kohäsion nicht nur in Sonntagsreden zu beschwören, sondern Gleichheit, Partizipation und Zugehörigkeit zu leben und gegebenenfalls zu erstreiten.

 

1. Bernard, Paul (1999), Social cohesion: a dialectical critique of a quasi-concept.
2. Jenson, Jane (1998), Mapping Social Cohesion.
3. Eurostat (2015), Quality of life, Facts and views und OECD (2017), Government at a Glance.
4. Siehe z.B. Caregari, Luc (2016), „Informationszugang in Luxemburg“, forum Nr. 364.
5. Eurostat (2015), ebd.
6. European Values Study 2008.
7. Sarracino, Francesco (2013), Richer in Money, Poorer in Relationships and Unhappy? Time Series Comparisons of Social Capital and Well-Being in Luxembourg.
8. Sarracino, Francesco (2013), ebd., p 576.
9. Bernard, Paul (1999), ebd., p 20.
10. Siehe z.B. Berger-Schmitt, Regina (2000), Social Cohesion as an Aspect of the Quality of Societies: Concept and Measurement.
11. Putnam, R. D. (2000), Bowling alone. The collapse and revival of American community.
12. Bourdieu (1980), Le capital social. Notes provisoires.
13. Siehe z.B. Ferragina, Emanuele (2009), Social capital and equality: Tocqueville’s legacy.
14. (2000), auch Woolcock and Narayan (2000).
15. Vorländer, Hans (2001), Dritter Weg und Kommunitarismus.
16. Luxemburger Wort (2016), Wenn die Gesellschaft den Sport verändert, 9. November.
17. Observatoire du développement spatial, CEPS/INSTEAD (2013), La cohésion territoriale au Luxembourg : quels enjeux ?

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