Sprachliche Frühförderung, Gratis-Kinderbetreuung, Kompetenzzentren für verhaltensauffällige Schüler, Diversifizierung der Schullandschaft durch u.a. öffentliche internationale Schulen… Die aktuell viel diskutierten Reformmaßnahmen innerhalb der Bildungspolitik sind nicht nur Wahlkampfstoff, sondern demonstrieren einmal mehr die tiefgreifende gesellschaftliche Reichweite der institutionellen Beschulung, die dort präventiv eingreift, wo Negativentwicklungen drohen, regulierend reagiert, wo Brandherde entstehen und retrospektiv ausgleichend wirkt, wo Versäumnisse gemacht wurden.
Die Schule hat viele Aufgaben und die Erwartungen an sie werden immer größer. Zumindest in der Ursachenanalyse der aktuellen politischen Entwicklungen um die in ganz Europa wieder erstarkte radikale Rechte lautet das Fazit immer häufiger, dass den wieder aufkeimenden rechtspopulistischen Tendenzen durch einen gezielteren und effizienteren Unterricht (wie dieser inhaltlich aussehen mag, scheint weniger offensichtlich) hätte vorgebeugt werden können. Dafür, dass diese Erwartungshaltung durchaus berechtigt ist, bürgt nicht zuletzt Artikel 3 des Gesetzes zur Schulpflicht, der die Missionen der Schule gesetzlich definiert und festlegt. Neben dem Erwerb einer allgemeinen kulturellen Bildung und der Vorbereitung auf das Berufsleben verpflichtet sich die Schule dazu, die Schüler*innen auf die Ausübung ihrer Verantwortung als Bürger in einer demokratischen Gesellschaft vorzubereiten, sie nach ethischen, auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beruhenden Werten und dem Prinzip der Gleichheit von Mädchen und Jungen zu erziehen.1 Dass die traditionsträchtige Institution Schule diesen Gesellschaftsauftrag alleine nicht mehr erfüllen kann, liegt nicht zuletzt daran, dass die von ihr durch Buchwissen und inhaltslose Definitionsbegriffe gespeiste Vermittlung von vermeintlichen Grundwerten keine Wirkung mehr zeitigt, weil sie in der Real-
politik und Gesellschaft immer weniger Entsprechung findet.
Es ist nicht das erste Mal in der jüngeren Vergangenheit, dass die Institution Schule unter Legitimationsdruck gerät, weil ihr Einfluss und ihre Effizienz angezweifelt werden. Bereits in einer im November 2001 im Zuge der Lissabon-Strategie veröffentlichten Mitteilung der Europäischen Kommission heißt es, dass „[t]raditionelle Konzepte und Einrichtungen […] immer weniger die Aufgabe [erfüllen], den Menschen einen aktiven Umgang mit den Folgen von Globalisierung, demographischem Wandel, digitaler Technologie und Umweltschäden zu ermöglichen. Die Menschen mit ihren Kenntnissen und Kompetenzen sind aber der Schlüssel Europas.“2 – ein Befund, der einer Bankrotterklärung der traditionellen europäischen Bildungspolitik gleichkommt.
Die Gründe, die zur Schieflage des tradierten Bildungswesens führen, lesen sich wie ein Wettlauf gegen die Zeit: sinkende Geburtsraten, schleichende Vergreisung der Bevölkerung, bedeutende demografische Verlagerungen vom ländlichen Raum hin zu Ballungsräumen und nicht zuletzt dramatische Migrationsströme und die dadurch zunehmende Heterogenität der Schulbevölkerung, die das Bildungswesen vor eine der größten Herausforderungen der Zukunft stellt. Die Folge: hohe Wiederholungs- und Schulabbruchsraten als Folge von anachronistischen Bildungserwartungen und in letzter Konsequenz unzureichend qualifizierte und insgesamt zu wenig Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft. Mit dem Rücken zur Wand muss die Bildungspolitik einlenken und den nicht aufzuhaltenden Entwicklungen nicht etwa mit grundlegend neuartigen, vor allem aber zeitaufwändigen Umsetzungsmaßnahmen und Methoden, sondern mit der Mobilisierung aller verfügbaren Kompetenzen und ihrer optimierten Anwendung entgegentreten, auch wenn diese den Rahmen des tradierten Schulkurrikulums überschreiten – eine Entwicklung, die vielerorts noch als „nivellement vers le bas“ bekämpft wird, wo die prinzipielle Nicht-Flexibilisierung und Unnachgiebigkeit des Schulwesens das unmittelbare Todesurteil der traditionellen Schule besiegeln würde. So wird es die Aufgabe einer „anderen Schule“ sein, dort anzusetzen, wo die idealisierte, nunmehr aber realitätsfremde Einheitsschule keine realistische Option mehr darstellen kann. Dazu muss die Institution Schule nicht radikal verändert, sondern bestehende Konzepte weiterentwickelt und womöglich anders gedacht werden.
Denn letztlich bleibt der Rahmen der zwölfjährigen Schulpflicht, ungeachtet der unterschiedlichen Lernorte und -landschaften, der einzige Spielraum, innerhalb dessen die Weichen für eine langfristige Werte- und Wissensvermittlung gestellt werden, auf die wir auch in Zukunft eine funktionierende Gesellschaft stützen können. Die gegenwärtigen Entwicklungen bestätigen, dass wir es uns kaum leisten können, dieses Potenzial zu verspielen.
1 Loi du 6 février 2009 relative à l’obligation scolaire http://legilux.public.lu/eli/etat/leg/loi/2009/02/06/n2/jo
2 https://www.bibb.de/dokumente/pdf/foko6_neues-aus-euopa_04_raum-lll.pdf
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