Von digitalen Purzelbäumen zur digitalen Wende in der öffentlichen Bildung

Digital(4)education war im Mai 2015 ein erster Versuch des Bildungsministeriums, die Digitalisierung in der Bildung greifbar zu machen und so zu steuern. Seither haben sich gesellschaftliche und bildungspolitische Rahmenbedingungen stark verändert, ebenso die Möglichkeiten des Digitalen.

Im Oktober 2011 publizierte die New York Times einen Artikel1, der im Bildungswesen und darüber hinaus für Aufsehen sorgte und seither immer wieder in unterschiedlichsten Kontexten und mit unterschiedlichsten Intentionen aufgegriffen wird. Die NYT berichtet darin von einer Schule im Silicon Valley, die gänzlich ohne Computer auskomme und einen großen Erfolg kenne, dies vor allem bei Kindern, deren Eltern in den großen Elektronikkonzernen, den Tempeln der Gegenwart, arbeiten. Der Artikel1 wird angeführt, wenn es darum geht, Veränderungen der Schule durch die Digitalisierung anzuprangern. Dann wird etwa darauf hingewiesen, dass Unterricht mit Kreide und Tafel effektiver sei, so wie früher halt. Unterschlagen wird, dass die berühmte Schule eine Waldorfschule ist, also per definitionem ein Alternativmodell zur öffentlichen Schule und nur wenig brauchbar für den Vergleich mit der kolportierten „guten, alten Schule“. Zudem ist besagte Schule längst keine computerfreie Zone mehr, moderne Technologien werden dort genutzt, wo sie das Lernen verbessern, und nicht etwa, um Lehrer zu ersetzen.2 Im Übrigen eine sehr vernünftige Haltung.

Es ist fahrlässig, so zu tun, als ob Schule sich nicht wandeln müsse: Die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen verändert sich, die Arbeitswelt befindet sich im Umbruch, ebenso Kultur, Presse und Demokratie, das schulische Informationsmonopol ist längst verloren gegangen. Es gibt neue Werkzeuge für das Lernen und Arbeiten, kurz: die Gesellschaft ist eine andere. Und Katalysatoren dieses Wandels sind die miteinander verknüpften Phänomene der Digitalisierung, der Automatisierung und der Vernetzung aller Daten. Sie bergen große Herausforderungen für Wirtschaft, Gesellschaft und Individuen. Allgemeinbildung, Schule und Staat stehen zur Disposition.

Wie soll institutionalisierte Bildung damit umgehen? Indem sie diese Realität ignoriert? Indem sie gegensteuert und beispielsweise mediale Schonräume deklariert? Indem gemäßigt modernisiert wird? Oder braucht es eine digitale Revolution in der Schule?

Schule muss lernen, „mit, über und trotz digitaler Medien“3 ihrem Bildungsauftrag nachzukommen. Ansonsten wird sie sich selbst abschaffen.

Werden digitale Medien Lehrer ersetzen?

Seit 2015 entwickelt der Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques (SCRIPT) des Bildungsministeriums die Lernplattform mathemaTIC.lu. Mittlerweile liegen Module für die Zyklen 3 und 4 der Grundschule sowie für die Unterstufe der Sekundarschule vor; weitere Ausbaustufen sind in Planung. In den ersten Einführungsveranstaltungen für Lehrerinnen und Lehrer stießen die Mitarbeiter des SCRIPT oft auf verunsicherte Lehrer. Vermutet wurde, dass es uns darum gehe, Lehrer zu ersetzen, denn Computer seien möglicherweise pflegeleichter. Klar ist: Sehr begabte Schüler können sich mit dieser Plattform sämtliche Kompetenzen der Mathematiklehrpläne selbstständig aneignen. Aber das können sehr begabte Schüler auch ohne mathemaTIC.lu, wenn sie nicht künstlich gebremst werden. Nein, gute Lehrer werden nicht überflüssig durch die Digitalisierung. Das zeigen sämtliche Studien. Bereits 1982 ordnete Klaus Haefner die Berufsgruppe der Lehrerinnen und Lehrer in die Kategorie der „Unberechenbaren“ ein, also zu den Berufen, deren Tätigkeit sich der reinen Berechnung entzieht und die damit voraussichtlich nicht durch Computer zu ersetzen sein werden.4

Handys in der Schule

Ähnlich emotional wird die Frage diskutiert, ob Handys draußen bleiben müssen oder nicht. Die Diskussion an sich ist aber müßig, denn niemand wird verhindern können, dass Handys in Schulen gelangen. Dass ständige Ablenkung die Konzentration stört, weiß jeder. Dass Ablenkung vor allem Auswirkungen auf schwächere Schülerinnen und Schüler hat, ist auch nur wenig überraschend. Aber Smartphoneverbote verlagern das Problem bloß, führen in eine Spirale der Konfrontation und nicht automatisch zu einem bewussten, förderlichen Umgang mit ihnen. Wie sollten sie auch? Sinnvoller ist da der Umgang mit Handys, wie er etwa in der Årstaskolan, einer Vorortschule in Stockholm, geregelt ist: Handys sind dort prinzipiell erlaubt, inner- und außerhalb des Unterrichts, es gelten aber klare Regeln und donnerstags, so hat die Schulgemeinschaft entschieden, ist handyfrei. Weder Schüler noch Lehrer bringen dann ihre Handys mit und werden sich so bewusst, dass „handyfrei“ auch was mit Freiheit zu tun hat.

Ebenso verhält es sich mit dem Internet: Bildungssysteme geben sich der Illusion hin, sie könnten den Internetgebrauch zumindest in Prüfungssituationen unterbinden. Aber auch hier sind viele Bildungsforscher skeptisch, etwa Sugata Mitra, der es in seinen Vorträgen auf den Punkt bringt: „Use of internet should be allowed during all assessment and examination (it can’t be stopped anyway, as access becomes invisible)”5. Statt über die Durchsetzung von Verboten zu diskutieren, müssen Alternativen geschaffen werden. Smarte, wohldurchdachte Prüfungsformate braucht die Bildung. Was bringt es, Wissen abzufragen, das mit dem ersten Hit bei Google geklärt werden kann? Viel wichtiger ist es, einschätzen zu können, inwiefern dieser Klärung getraut werden kann.

Computerfreie Schulen für Sprösslinge von Internetmilliardären oder Smartphoneverbote sind zwar medienwirksame Themen, zu denen jeder eine Meinung hat, aber sie bringen die Diskussion nicht wirklich voran. Auf Systemebene bedarf es einer transparenten und nachvollziehbaren Vorgehensweise: digital(4)education – reloaded sozusagen. Folgende Bereiche, die sich im Schulalltag oft überlappen, müssen dabei berücksichtigt werden:

Mediendidaktik: Für ein besseres Lernen

Medien können das Lernen fördern. Sie bieten neue, ungeahnte Möglichkeiten der Kommunikation, der Kollaboration, der Publikation, der Differenzierung, der Veranschaulichung und der Motivierung. Der Schüler, der mit mathemaTIC.lu oder babbelbubble, einer weiteren Lernapp des SCRIPT, arbeitet, lernt in seinem eigenen Tempo und bekommt, sanktionsfrei, unmittelbare Rückmeldungen. Zudem wird künstliche Intelligenz es immer mehr erlauben, dass solche Lernwerkzeuge sich dem individuellen Lernen weiter anpassen, indem sie Lernkurven voraussehen, Lernhemmnisse erkennen und Lernwege entsprechend anpassen.

Aber wenn in der Schule das Thema „Das Leben im Wald“ behandelt wird, wird dies auch weiterhin kaum ausschließlich im virtuellen Raum geschehen: Hoffentlich wird der Lehrer oder die Lehrerin mit der Klasse in den Wald gehen, nicht nur in der Waldorfschule. Kein digitales Medium kann Naturerlebnisse und haptische Erfahrungen ersetzen. Dass der Lehrer mit seiner Klasse im Wald einem Wildschwein oder einem Reh begegnet, ist eher unwahrscheinlich; hier kann das Digitale Abhilfe schaffen. Guter Unterricht muss den Anspruch haben, die Potenziale beider Seiten zu verbinden.

Nicht zuletzt können mit digitalen Medien auch organisatorische Abläufe in der Klasse effizienter gestaltet werden: Verfügen alle Schüler und Schülerinnen über ein digitales Gerät, so haben alle stets einen Taschenrechner, eine Kamera, ein Aufnahmegerät, eine Stoppuhr, ein Wörterbuch usw. dabei. Dies ermöglicht vielleicht nur kleine Effizienzgewinne, in der Summe bleibt aber mehr Zeit für intensives Lernen.

Neue Kompetenzen im Digitalzeitalter: Computational thinking und soft skills

Digitale Kompetenz ist heute eine notwendige Kulturtechnik. Digitale Medien werden nicht einfach so verschwinden, im Gegenteil, sie werden weiter an Bedeutung zunehmen. Es ist notwendig, aufeinander aufbauende Kenntnisse, Fertig- und Fähigkeiten zu vermitteln, die zu einer effizienten und mündigen Handhabung befähigen.

Aber darüber hinaus rücken auch neue Kompetenzen in den Mittelpunkt, etwa Grundkonzepte der Wissenschaft „Informatik“. „Computational Thinking“ lautet das Ziel, das in vielen Ländern Europas und darüber hinaus Einzug in die Lehrpläne gefunden hat. Vereinfacht ausgedrückt: Wer nachvollziehen kann, wie Rechner „denken“, wie sie Informationen strukturiert und automatisch verarbeiten, indem sie komplexe Probleme auf einfache, binäre Entscheidungen reduzieren und mit Algorithmen arbeiten, der kann den Wandel mitbestimmen oder diese Strategie auch auf nicht virtuelle Probleme anwenden.

In einer Welt, in der alles Automatisierbare automatisiert werden wird, geht es in der Schule aber vielleicht vor allem darum, sich auf das Nichtautomatisierbare zu konzentrieren. Um ein weiteres Mal Haefner zu zitieren: es gilt „Unberechenbare“, nicht „Substituierbare“ auszubilden. Es braucht menschliche Kompetenzen wie Kreativität, Teamfähigkeit, Sozialkompetenz sowie Kommunikationskompetenz. Aber auch Spontaneität, Intuition und Querdenken werden an Bedeutung zunehmen. Denn, simple Probleme löst der Computer schneller und zuverlässiger. Die ungelösten Probleme werden in dieser Konstellation allerdings komplexer.

Über kurz oder lang bedeutet all dies: Lehrpläne müssen überarbeitet werden, Inhalte – nicht Grundkompetenzen – müssen gestrichen werden. Die veränderten Anforderungen an die Allgemeinbildung gehen weit über die Bedienung digitaler Geräte hinaus.

Medienpädagogik: In Medienwelten leben lernen

Kinder und Jugendliche leben in einer Welt, in der das Virtuelle mit dem Realen verschmilzt. Persönlichkeiten und kulturelle Identitäten werden durch medial-soziale Netzwerke sowie durch virtuelle Erfahrungen geformt. Marc Prenzkys berühmter Begriff der „digital natives“ verweist nicht darauf, dass Kindern und Jugendlichen der kompetente und sinnvolle Umgang mit Medien in die Wiege gelegt wird. Im Gegenteil: Den meisten bleiben technische und ökonomische Gesetzmäßigkeiten des digitalen Kapitalismus verborgen, wenn Schule sie nicht aufgreift und thematisiert. Kritische und mündige Mediennutzung ist das Resultat einer aufwendigen und zielgerichteten Auseinandersetzung mit modernen Medien, mit Fragen der Informationsverarbeitung, der Manipulation, des Datenschutzes, des Urheberrechtsschutzes u.v.m. Nutzer müssen Funktionen von Medien und deren Auswirkungen, insbesondere auf das eigene Leben und Handeln, einschätzen lernen. Pädagogisch wertvolle Erfahrungen in formalen und nonformalen Settings sind dabei unerlässlich.

Employability: Zukunft sichern

Für Luxemburg, das sich gerne als „digital frontrunner“ sieht, ist eine positive Einstellung seiner Bürger zur Digitalisierung sowie das Vorhandensein von hochqualifizierten Fachkräften überlebenswichtig. Eine Strategie für die Bildung muss auch Antworten liefern, wie man diese und die nächsten Generationen auf eine digitalisierte akademische Welt und auf einen digitalisierten Arbeitsmarkt vorbereitet, wie man ihnen Zukunftsberufe schmackhaft macht. „Future Hubs“, Schulen, die sich rigoros den digitalen Medien widmen, gehören dazu, Makerspaces, code clubs, Informatikolympiaden usw. ebenso.

Mit, über, trotz Medien lernen

Digitalisierung ist für öffentlich organisierte Bildung eine Herausforderung, die nur ganzheitlich und im Verbund angegangen werden kann. In Lernsituationen sind digitale Medien komplementär einsetzbar zu traditionellen Medien und helfen somit Lernprozesse zu optimieren. Kinder und Jugendliche müssen darauf vorbereitet werden, die Allgegenwärtigkeit digitaler Medien im Alltag auszuhalten und ihnen in der Berufswelt gewachsen zu sein. Denn Medien bieten nicht nur Chancen, von ihnen gehen auch Gefahren aus, für Jugendliche wie für Erwachsene. Trotzdem und gerade deshalb ist die Schule in der Pflicht, sich zu öffnen und zur Aufklärung beizutragen.

SCRIPT nimmt die Herausforderung an, die digitale Wende in der Bildung weiterhin zu begleiten. Es ist ein langwieriger und komplexer Prozess, der nur gemeinsam mit den entscheidenden Akteuren gelingen kann: der Wissenschaft, den Schulen, den Lehrern, den Erziehern und nicht zuletzt den Schülern und Eltern, die ihren Teil der Verantwortung mittragen.

1 www.nytimes.com/2011/10/23/technology/at-waldorf-school-in-silicon-valley-technology-can-wait.html
2 „In the high school curriculum, Waldorf embraces technology in ways that enhance the learning process, by using it as a tool, rather than replace the role of the teacher.“ http://waldorfpeninsula.org/curriculum/media-technology-philosophy/
3 Beat D. Honegger, Es geht um mehr als analog oder digital. In: schulpraxis 2/17.
4 Klaus Haefner, Die neue Bildungskrise: Herausforderungen d. Informationstechnik an Bildung u. Ausbildung. Basel, Boston, Stuttgart, 1982, S. 172.
5  Sugata Mitra bei einem Vortrag auf der TECH2017-Konferenz in Vishakhapatnam im Dezember 2017.

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