Gott hat ein Bild, und das bist Du
Menschenrechte aus einer jüdisch-theologischen Perspektive
Beim Betreten einer Synagoge fällt sofort auf, dass es keine Abbildungen Gottes im herkömmlichen Sinne gibt. Wir suchen vergeblich nach Statuen, Bildern oder Fresken, die Gott darzustellen versuchen. Es gibt sowohl minimalistische als auch prachtvolle Synagogen, aber in keiner findet sich eine Darstellung von Gott oder Mensch. Wieso eigentlich? Warum steht die jüdische Religion den Götzen und der Idolatrie so ablehnend gegenüber? Eine weit verbreitete Erklärung dazu findet sich zum Beispiel beim mittelalterlichen Philosophen und Rabbiner Moses Maimonides (1135/1138-1204). Seiner Auffassung nach ist es verboten, Gott darzustellen, weil Gott ein nicht-materielles Wesen ist. Gott habe keinen Körper, jede physische Abbildung Gottes wäre damit eine Verzerrung. Rabbiner Abraham Joshua Heschel (1907-1972) verstand dieses Bilderverbot jedoch anders: gerade weil Gott ein Bild hat, seien Götzen verboten. Sein Schüler, ein zeitgenössischer Rabbiner Arthur Green (geb. 1941) beschreibt Heschels Lehrsatz wie folgt:
„Gott hat ein Bild, und das bist du. Du darfst das Bild Gottes nicht erschaffen, weil du das Bild Gottes bist. Das einzige Medium, auf dem du Gottes Bild erschaffen kannst, ist das Medium deines ganzen Lebens, und genau das ist es, was uns befohlen ist. Alles, was du tust, alles, was du sagst, jeder Moment und die Art und Weise, wie du ihn nutzt, sind ein Teil davon, wie du das Bild Gottes aufbaust. Etwas weniger als einen ganzen, lebendigen Menschen – wie Leinwand oder Marmor – zu nehmen und es das Bild Gottes zu nennen, wäre Gott herabzusetzen, Gottes Bild zu mindern1.“
Der Glaube an Gottes Ebenbildlichkeit des Menschen ist der Ausgangspunkt für jegliche jüdisch-theologische Diskussion über die Menschenrechte. „So groß ist die Würde des Menschen“, lehrt uns der Talmud, die Hauptquelle jüdischer Theologie, „dass sie ein Verbot der Tora aufhebt.“ Das heißt, dass in manchen Fällen, wenn die Erfüllung einer religiösen Regel der Menschenwürde widerspricht, diese Regel aufgehoben wird. Menschenwürde ist ein zentrales Anliegen der jüdischen Lehre (Tora) und der jüdischen Religionsnormen (Halacha) und wird unter anderem als starkes Argument in den heutigen Debatten für die Gleichberechtigung der Geschlechter und LGBTI-Menschen verwendet.
Die Religion, denken viele, beschäftigt sich hauptsächlich damit, die Ehre Gottes zu preisen und zu schützen, oft auf Kosten der Würde des Menschen und oft mit der Hilfe übernatürlicher Erklärungen. Man spürt die Spannung zwischen Würde Gottes und Menschenwürde. Manche religiöse Anführer haben sogar Angst davor, dass der Fokus auf die Menschenrechte dazu führe, dass Menschen ihre religiösen und gesellschaftlichen Pflichten vernachlässigen und ein egoistisches Leben führen. Die Geschichte zeigt jedoch, dass Rechte, nicht „Verpflichtungen“ oder abstrakte „Werte“, sich als wirksam erwiesen haben, um die Macht des Staates und des Marktes bis zu einem gewissen Grad zu zähmen. Die Sprache der Rechte bzw. des Rechts soll nicht alle anderen Arten von Diskursen ersetzen, ebenso wenig wie das Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass wir unsere Haushalte wie Gerichtshöfe führen sollen. Menschenrechte sind ein wirksames Instrument zum Schutz der Menschen auf rechtlicher, wirtschaftlicher und politischer Ebene. Vor allem in einer Zeit, in der ein nationalistisches und isolationistisches Verständnis der Religion häufig und laut gehört wird, ist es wichtig, das traditionelle jüdische Bekenntnis zur Würde des Menschen zum Ausdruck zu bringen.
Es wäre anachronistisch zu behaupten, dass die über zweieinhalbtausendjährige jüdische Religion eine starke und eindeutige Formulierung der Menschenrechte oder ein klares Plädoyer für die Demokratie kennt. Wir finden keinen Katalog der Menschenrechte in den klassischen jüdischen Quellen. Der Menschenrechtsdiskurs ist ein Diskurs der Moderne. Nichtdestotrotz sind die humanistischen Werte und das Menschenbild, die dem modernen Menschenrechtsdiskurs zugrunde liegen, dem Judentum nicht fremd. Die Menschenrechte sind ein Produkt säkularer Entwicklung, sie haben aber als ihre Grundlage eine transzendentale Quelle. Die Aussage „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ (Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) klingt nicht weniger religiös als der Glaube an einen Gott und die Einheit der Schöpfung.
Eine der zentralen Botschaften, für die jüdische Theologie bekannt ist, ist das Bekenntnis zur Solidarität mit dem Anderen, Fremden und Schwächeren. Dies wird nicht nur durch die direkten Anweisungen zu Schutz und Gleichbehandlung von schwächeren oder bedrohten Mitgliedern der Gesellschaft erklärt, sondern auch durch eine Referenz zu den eigenen Erfahrungen im jüdischen kollektiven Gedächtnis: ihr wart Fremde, ihr wart Sklaven in Ägypten, vergesst das nicht. Das jüdische Volk ist mit den Auswirkungen des Hasses, der Vorurteile und der Ausgrenzung bestens vertraut. Die Juden kannten die anhaltende Demütigung als Bürger zweiter Klasse ebenso wie die ständige Angst vor fremdenfeindlicher Gewalt. Dementsprechend ist es nicht überraschend, dass viele Jüdinnen und Juden seit jeher eine Vielzahl von Menschenrechtsinitiativen unterstützen, sei es die Bekämpfung der Hasskriminalität, die Gleichberechtigung der Geschlechter und der LGBTI-Menschen, Behindertenrechte oder gesetzlicher Schutz vor religiöser Diskriminierung am Arbeitsplatz. Das Judentum sieht im Menschen einen Partner Gottes in der Arbeit zur Verbesserung der Welt, gemeinsam mit Gott ist der Mensch ein Mitschöpfer dieser Realität, in der wir leben. Der starke diesseitige Charakter des Judentums und sein Fokus auf die Tat inspirieren viele religiöse Jüdinnen und Juden zum Engagement für die Menschenrechte, was als religiöse Tugend eingestuft und als „Tikkun Olam“, also „Reparatur der Welt“ verstanden wird.
Das Judentum bietet einen holistischen Lebensentwurf, der keine saubere Trennung zwischen „säkularen“ und „religiösen“ Bereichen kennt. Neben den kultischen Regelungen existieren die Leitlinien für das gesellschaftliche Leben; sie sind miteinander verbunden und haben die gleiche Quelle. Vor allem in Prophetenbüchern wird das betont: „was der Ewige von dir fordert: Nichts anderes, als Recht zu üben und Güte zu lieben und in Einsicht mit deinem Gott zu gehen“ (Micha 6:8). Das bedeutet, dass scheinbar säkulare Sachen wie zum Beispiel das Vertragsrecht eine religiöse Bedeutung haben und von einer anständigen religiösen Person nicht ignoriert werden können. Das traditionelle Prinzip „dina de-malchuta dina“, also „Das Recht des Landes ist geltendes Religionsrecht“ sieht eine direkte Anwendung des staatlichen Rechts vor, auch wenn dieses Recht nicht von Rabbinerinnen und Rabbinern mit Methoden des religionsrechtlichen Diskurses entwickelt wurde. Das staatliche Recht wird nicht nur toleriert, es hat die gleiche Gültigkeit wie das jüdische Religionsrecht, vorausgesetzt, dass es allgemein gültig ist, keine diskriminierende Benachteiligung bietet und es nicht den Grundsätzen des Judentums und dem gesunden Menschenverstand widerspricht. Man braucht keine Zitate aus den autoritativen jüdischen Quellen, um die Einzelheiten der Menschenrechte religiös zu rechtfertigen.
Betrachten wir die Menschenrechte aus einer breiteren theologischen Sicht, kommen wir zum Schluss, dass das Menschenrechtsprojekt in seinem Kern ein messianisches Projekt ist. Die Menschenrechtsbewegung hat das Ziel, eine universelle Ordnung auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen. Und diese Zielsetzung ist nicht sehr weit von der klassischen jüdischen Perspektive auf das messianische Zeitalter entfernt.
Der große jüdische Denker Maimonides schrieb:
Glaubt nicht, dass Messias Zeichen und Wunder wirken, neue Dinge erschaffen, Tote auferstehen lässt oder andere Dinge, die Narren sagen; das ist es nicht! (Gesetze der Könige 11:3). Der einzige Unterschied zwischen unseren Tagen und den messianischen Zeiten besteht in der [heutigen] Existenz politischer Unterdrückung. (eben da 12:1-2)
Maimonides verwandelte das übernatürliche Ideal in eine weltliche, diesseitige Vision einer Gesellschaft, in der Freiheit und Gerechtigkeit herrschen. Er stellte sich eine ideale Welt vor, in der Menschen all ihre Ressourcen in die Realisierung ihres Potenzials als Abbilder Gottes stecken:
Die Weisen und Propheten sehnten sich nicht nach den Tagen des Messias, damit sie Herrschaft über die Welt ausüben oder über die Völker herrschen oder von den Nationen gepriesen werden, oder damit sie essen, trinken und sich freuen können. Ihre Sehnsucht war es, frei zu sein, sich der Tora und ihrer Weisheit zu widmen, ohne dass jemand sie unterdrücken oder stören würde… In dieser Zeit wird es weder Hungersnot noch Krieg, weder Eifersucht noch Streit geben. Der Segen wird reichlich vorhanden sein… Die einzige Aufgabe der ganzen Welt wird es sein, Gott zu erkennen. (Gesetze der Richter 12:4-5).
Eine Utopie? Vielleicht. Um dieser idealen Welt ein Stückchen näher zu kommen, braucht es eine gemeinsame Sprache, die im Kern für die ganze Menschheit offen ist. Menschenrechte bieten sich als eine solche Sprache und ein gemeinsames Referenzsystem an. Theologisch gesprochen beinhaltet Monotheismus nicht bloß den Glauben an einen Gott, sondern eine Verpflichtung zum Bewusstsein der Einheit der Menschheit und der Schöpfung insgesamt. Diese Einheit wird nicht durch Bekehrung zu einer „wahren“ Religion wirksam, im Gegenteil, das Judentum akzeptiert verschiedene Wege zu Gott als legitim und strebt nicht danach, alle Menschen zum Judentum zu bekehren. Dieses Bewusstsein der Einheit wird durch die Kooperation mit anderen Menschen möglich. Gott ist unser Vorbild eines geduldigen und empathischen Partners, der uns hin zu einer Vision der Solidarität und Gerechtigkeit begleitet. Gott tritt mit dem Menschen in eine Beziehung ein, er zwingt ihm nicht seinen Willen auf wie ein Tyrann, sondern bietet uns eine Partnerschaft an.
Menschenrechte haben eine tiefe religiöse Bedeutung. Obwohl sie aus der säkularen Welt kommen, helfen sie uns als religiösen Menschen, die menschliche Ebene unserer Identität zu stärken. Unsere Identität besteht, wie eine Zwiebel, aus vielen Schichten. Die Art und Weise, wie wir uns selbst und die Welt sehen, wird durch die Geschichten konstruiert, die wir über uns selbst, uns und unsere Familie, uns und unsere Gemeinschaft, uns und unsere Nation/Religion/Volk und schließlich uns als Teil der Menschenfamilie erzählen. Der Identitätsring, der uns am nächsten ist, betrifft die Menschen, die wir persönlich kennen und die wir vermutlich lieben. Unsere gemeinsamen Geschichten ermöglichen es uns, in der Gemeinschaft zu leben, Teil einer Nation zu sein usw. Je weiter wir von uns selbst entfernt sind, desto abstrakter werden unsere Beziehungen zu anderen, desto lockerer werden die Verbindungen. Gespräche über Menschenrechte helfen uns, uns der menschlichen Ebene unserer Identität bewusst zu werden: Wer sind wir als Menschen? Und hier kann die Religion ein wichtiger Verbündeter sein. Durch das Erzählen von Geschichten machen wir unsere Erfahrung greifbar. Die Religion ist am erfolgreichsten bei der Schaffung von Geschichten. Wir befinden uns an einem Punkt in der Evolution der menschlichen Zivilisation, der es uns erlaubt, ein größeres Bild zu sehen. Unsere Identitätsgeschichten, um die Metapher von Jean Gebser zu verwenden, werden „transparent“: wir beginnen, unsere Identitätsgeschichten zu „durchschauen“, wir beginnen, die Menschlichkeit bei Menschen zu erkennen, die wir zuvor abgelehnt haben; weil sie keine Mitglieder unserer Gruppe waren, oder nicht weiß, oder nicht europäisch, oder nicht männlich, oder nicht heterosexuell oder was auch immer.
Zwischen dem 3. und dem 10. Dezember 2018 feiern wir Juden Chanuka, das Lichterfest. Während wir mit jedem Tag mehr Kerzen anzünden und das Licht vergrößern, möchte ich, dass wir darüber nachdenken, wie die Menschenrechte eine Quelle des Lichts in der Welt sein können, die dazu beiträgt, die menschliche Zivilisation zu einem sinnvolleren, gerechteren und liebevolleren Dasein zu führen.
1 Arthur Green, Radical Judaism: Rethinking God & Tradition, New Haven & London, Yale University Press, 2010, S. 121-122.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
