Slavko

Auf den Spuren eines vergessenen Künstlers

„Die Offenheit des Künstlers, die Gradheit seines sehr natürlichen Wesens, die Klugheit seines Urteils auch in rein menschlichen Belangen haben die Wirkung eines kräftigenden Heilbades. Unwillkürlich hat man nun die Ueberzeugung gewonnen: ‚Der schafft’s.‘ “1 Mit dieser wohlwollenden Einschätzung endet einer von insgesamt vier Beiträgen, die das Luxemburger Wort im Laufe des Jahres 1947 der Tätigkeit des Malers Slavko widmet; die abgebildeten Porträts des Musikers Henri Pensis und seiner Gattin vermitteln einen Eindruck von der Arbeitsweise des Künstlers – gleichwie von seinem Zugang zu exponierten Vertretern der Luxemburger Bildungselite. Zu Beginn der 1950er Jahre bricht die Berichterstattung jedoch abrupt ab. Heute ist Slavko nahezu vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden: Die Quellen sind dürftig und die Erinnerungen der Zeitzeugen lückenhaft; auch das Interesse der Forschung bleibt bislang gering. Die Immersion des Künstlers in die Luxemburger Gesellschaft der Nachkriegszeit lässt indes den Versuch als lohnenswert erscheinen, sich auf seine Spuren zu begeben. Die dabei gewonnenen – zwangsläufig unvollständigen – Ergebnisse können dazu beitragen, die Geschichte der Malerei aus Luxemburg um einen originellen und produktiven Akteur zu ergänzen. Gleichzeitig erlaubt die geradezu paradigmatische Verschränkung der Biographie Slavkos mit der wechselhaften Geschichte seines Landes interessante mikrohistorische Einblicke in die europäischen Bevölkerungsbewegungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Lemberg

Slavko (eigentlich Jaroslaw) Kruszelnycky wird 1916 in Dolyna unweit der Metropole Lemberg in der heutigen Ukraine geboren. Über seine frühen Jahre ist nur wenig bekannt; die Nachricht, dass das musikalisch begabte Kind auf dem Dach des elterlichen Hauses Geige spielt,2 erinnert in so auffälliger Weise an das (Auto-)Stereotyp vom galizischen Schtetl der Jahrhundertwende,3 dass ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen werden muss. Der Erste Weltkrieg bewirkt, wie in so vielen Teilen Europas, auch in Slavkos Heimat grundlegende politische Veränderungen. Die Auflösung des Habsburgerreiches, zu dem die Westukraine seit 1772 gehört hatte, versorgt die Nationalbewegung mit neuem Impetus: Im November 1918 ruft man in Lemberg die kurzlebige Westukrainische Volksrepublik aus. Sie kann jedoch weder militärisch noch diplomatisch gegen die Interessen des wiederhergestellten polnischen Staates bestehen; nach der Niederlage im polnisch-ukrainischen Krieg (1918-1919) werden die westukrainischen Gebiete zwischen den Nachbarländern aufgeteilt.

Obwohl der polnische Staat den Ukrainern volle Gleichberechtigung garantiert, unterwirft man sie de facto, besonders im Kulturbereich, einer rigorosen Assimilationspolitik; dabei werden die ukrainischen Lehrstühle der Universität Lemberg bereits 1919 abgeschafft.4 Diesen Repressionen setzen die Ukrainer Untergrundaktivitäten, Boykott- und Sabotageakte sowie einen zunehmend undemokratischen Nationalismus entgegen. So entsteht 1920 die Ukrainische Militärische Organisation (UVO); daraus geht 1929 die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) mit dem eingestandenen Ziel hervor, die Staatsbildung mit jedweden Mitteln, auch dem terroristischen Kampf, zu erzwingen.5 Die polnische Minderheitenpolitik bleibt auch für Slavkos Lebensplanung nicht ohne Folgen: Da ihm als Ukrainer die Aufnahme eines Kunststudiums an der Universität Lemberg verwehrt bleibt, erlernt er nach Beendigung des Gymnasiums 1934 die Malerei an der privaten Novakivsky-Kunstschule, einer vom gleichnamigen postimpressionistischen Maler gegründeten Einrichtung.6

Zwischen Skylla und Charybdis

Von der verwitweten Mutter indessen zu einer ökonomisch rentableren Berufstätigkeit gedrängt, beginnt Slavko 1936 ein Studium der Chemie an der Universität Posen. Hier lernt er Irene Slipyj, eine Nichte des Klerikers und späteren Erzbischofs von Lemberg Jossyf Slipyj kennen, die einem Pharmaziestudium nachgeht. Sie heiraten, bevor der deutsche Überfall auf Polen sie zur Aufgabe ihrer Studien und der Rückkehr in die Heimat zwingt.7 Etwa zum gleichen Zeitpunkt wird der östliche Teil Polens von sowjetischen Truppen besetzt; am 22. September 1939 marschieren Einheiten der Roten Armee in Lemberg ein. Die Eingliederung in die Sowjetunion trifft die polnische Elite mit besonderer Härte, wohingegen viele Ukrainer den Regimewechsel, der den offiziellen Stempel einer Befreiung von der polnischen Herrschaft trägt, als Verbesserung ihrer Situation empfinden. Tatsächlich geht mit der Sowjetisierung ein vor allem im kulturellen Leben augenfälliger Ukrainisierungsprozess einher. Die neue Politik spiegelt sich mit besonderer Deutlichkeit in der ethnischen Zusammensetzung der Studentenschaft wider: Der Prozentsatz ukrainischer und jüdischer Studenten an der Universität Lemberg wächst von 12,9% Ende 1939 auf 77,61 Anfang 1941.8 Im Zuge dieser Entwicklung werden auch Slavko und seine Ehefrau zum Studium der Pharmazie zugelassen.

Die Kollektivierung der Landwirtschaft, aufeinanderfolgende Wellen von Verhaftungen und Deportationen national gesinnter Ukrainer und die Zwangsrekrutierung in die Reihen der Roten Armee sorgen jedoch rasch für Ernüchterung sowie eine zunehmend antisowjetische Haltung. Im Bereich von Kunst und Kultur zielen normative Vorgaben und Zensurmaßnahmen auf die völlige Gleichschaltung ab; Slavko, dessen üppiger Farbduktus der stalinistischen Kunstauffassung zuwiderläuft, muss 1941 ein Selbstbildnis aus einer Gruppenausstellung an der Universität Lemberg unversehens entfernen.9 Mit fortschreitender Radikalisierung des Regimes knüpfen viele Ukrainer ihre Hoffnungen an die im Untergrund bzw. dem ausländischen Exil operierende OUN. Um die Gründung eines unabhängigen Staates voranzutreiben, verfolgt diese seit 1933 eine immer stärker an das Dritte Reich ausgerichtete Bündnispolitik. Zudem spaltet sich die Organisation 1940 in zwei rivalisierende, von Andrij Melnyk bzw. Stepan Bandera angeführte Gruppen. Am 30. Juni 1941, als die Wehrmacht in Lemberg einmarschiert, rufen Bandera und seine Anhänger einen unabhängigen ukrainischen Staat aus, werden jedoch von den deutschen Behörden verhaftet und im KZ Sachsenhausen interniert. Es wird deutlich, dass die Besatzungsmacht, auch wenn sie den Ukrainern weitgehende Freiheiten zugesteht, um sie so gegen Polen und Juden zu mobilisieren, keinerlei Interesse an der Errichtung eines souveränen Staatswesens hat; stattdessen sieht der Generalplan Ost die systematische Ausbeutung des Landes zugunsten der deutschen Kriegsziele vor.10

Paris

Bei der sowjetischen Rückeroberung der Ukraine 1943-1944 begrüßen Teile der Bevölkerung, vom nationalsozialistischen Deutschland enttäuscht, die Rote Armee als Befreier; zahlreiche Mitglieder der antikommunistischen galizischen Intelligenz verlassen jedoch fluchtartig das Land, unter ihnen auch Slavko und seine Familie. Sie begeben sich zunächst nach Prag und von dort aus nach Wien, wo sie sich jedoch im sowjetischen Besatzungssektor der Stadt wiederfinden. Während Slavko auf die Weiterreise nach Paris drängt, beschließt seine Ehefrau, mit der Mutter, der kleinen Tochter und dem neugeborenen Kind in die Heimat zurückzukehren; die Familie trennt sich und wird nicht wieder zusammen kommen.11 Die Anfänge in der französischen Hauptstadt, wohin der Künstler Mitte 1945 gelangt, erweisen sich erwartungsgemäß als schwierig. Zunächst stellt Slavko Werbeplakate und Bühnenbilder für ein Wandertheater her.12 Um 1946 lässt er sich am Montmartre nieder; Werke wie „La Chambre à Montmartre“ oder „Les Escaliers à Montmartre la nuit“ dokumentieren seine Sicht auf dieses legendäre, damals allerdings bereits im Niedergang befindliche Künstlerviertel. Um seine Existenz zu sichern, malt er jedoch vermehrt Porträts.

Zu dieser Zeit ist Slavko fest in einen Zirkel in Paris tätiger Luxemburger integriert, zu dem u.a. der Tänzer Léo Lauer und die Schauspielerin Berthe Tissen gehören. Auch bekennt er sich zu den Bewunderern des einige Jahre zuvor verstorbenen Malers Joseph Kutter, dem er eine so vollkommene Beherrschung der Farbharmonie bescheinigt, „daß er sich ihrer unbewußt, und das in meisterhafter Weise, bedienen konnte.“13 Bereits dieser Passus lässt das Interesse des Künstlers an Fragen der Psychologie und ihrer Verbindung zur Malerei erahnen; später wird er seine Kenntnisse auf diesem Gebiet durch die intensive Beschäftigung mit den Schriften C.G. Jungs vertiefen und diesem zwei Fotografien seiner Gemälde zukommen lassen, von denen der Schweizer Psychi­ater eins in seine Studie Der Mensch und seine Symbole (posthum erschienen 1968) aufnimmt.14 Nach einer Debütausstellung in Paris 1946 stellt Slavko im Sommer des darauffolgenden Jahres mehrere Zeichnungen, Porträts und Landschaften zum ersten Mal auch in Luxemburg aus.15

Luxemburg

1956 beschließt der Künstler, Frankreich bzw. Europa, das er infolge von zwei Weltkriegen für wirtschaftlich sowie kulturell erschöpft hält und darü­ber hinaus als Opfer kommunistischer Infiltration betrachtet, zu verlassen und in die USA auszuwandern.16 Es ist unklar, weshalb er dieses Vorhaben letztlich nicht realisiert; fest steht hingegen, dass er sich um 1957 dauerhaft im Großherzogtum niederlässt. Seinen Lebensunterhalt verdient Slavko weiterhin mit der Anfertigung von Porträts – ein dem Landschaftsmaler eigentlich unliebsames Genre. Nichtsdestotrotz hinterlässt er gerade mit diesen Auftragsarbeiten, zu denen die Porträts der bereits genannten Léo Lauer und Berthe Tissen sowie der Tänzerin Stenia Zapalowska, des Schauspielers  Florent Antony, des Grafikers Raymon Mehlen, des Publizisten Arthur Diderrich oder der Mediziner Auguste Colbach und Will Bastian zählen, das historisch wertvolle ‚Gruppenbild‘ einer ganzen Generation von Luxemburger Künstlern und Intellektuellen. Parallel malt er zahlreiche Stadtansichten, etwa „Luxembourg, Place de Strasbourg, nocturne“, oder typisch Luxemburger Landschaften wie „Paysage de Luxembourg, Petrusthal“ oder „Automne tardif, Petrusse“. In den Jahren 1952, 1953, 1956 und 1958 finden weitere Ausstellungen in der hauptstädtischen Galerie Wierschem statt. Ab etwa 1955 bereist Slavko regelmäßig die Schweiz; auch hier entstehen zahlreiche Werke, z.B. „Cascade à Adelboden“, „Dans les Alpes“ oder „Scuol la nuit“.

1947 von einem Mitarbeiter des Luxemburger Wort nach seinen Eindrücken vom Großherzogtum gefragt, greift Slavko auf die gängige Metapher vom „kleinen Paradies“ zurück. Ähnlich unverbindlich bleiben die Erörterungen zu seinem hiesigen Umgang: „Die Menschen? Wie überall. Man lebt in einem kleinen Kreis erprobter Freunde.“17 Wie so viele Aspekte seiner Biographie lässt sich auch die Beschaffenheit von Slavkos Umfeld nicht vollständig ermitteln. In diesem Zusammenhang ist jedoch die Tatsache erwähnenswert, dass sich ab 1945-1946 auch der ukrainische Nationalistenführer Andrij Melnyk in Luxemburg aufhält; selbst wenn darüber keine gesicherten Informationen vorliegen, erscheint es plausibel, dass Slavko, der seine ukrainische Identität nachdrücklich betont, davon Kenntnis besitzt und mit Melnyk auch in (losem) Kontakt steht. Besondere Erwähnung verdient seine langjährige freundschaftliche Verbindung mit der seit 1944 ebenfalls in Luxemburg lebenden polnischen Tänzerin Stenia Zapalowska, die politisch-ethnisch verfestigte Wahrnehmungsmuster beiderseits zugunsten der „rein menschlichen Belange“18 zurücktreten lässt. Das traditionell ohnehin belas­tete Verhältnis zwischen Polen und Ukrainern in Galizien hatte sich im November 1918 dramatisch verschärft, als Einheiten der frisch proklamierten Westukrainischen Volksrepublik und die polnische Zivilbevölkerung, unterstützt von demobilisierten Fronttruppen, in Lemberg um die Kontrolle über die Stadt kämpften. Seitdem nimmt dieses Ereignis, von den zwei Völkern mit divergenten ideologischen Inhalten gespeist, eine zentrale Stelle im nationalen Gedächtnis der Polen genauso wie der Ukrainer ein.19 Zum sog. ‚Novembermythos‘ kommt später der von polnischer Seite immer wieder gegen die Ukrainer erhobene Vorwurf der Kollaboration mit der deutschen Besatzung hinzu. Angehörige konkurrierender Erinnerungskulturen und vom Kriegsgeschehen gleichermaßen traumatisiert, bleiben Slavko und Zapalowska dennoch bis zum vorzeitigem Tod des Künstlers befreundet. Sie bietet sich beispielsweise an, für die Schulden des Malers aufzukommen, indem sie bei seinen Schuldengebern auf das ihr zustehende Honorar für Tanzunterricht zu seinen Gunsten verzichtet. Zwischen 1947-1956 wird sie zweimal von ihm porträtiert.

Der Künstler verstirbt überraschend 1973 an den Folgen eines Zeckenbisses, den er sich beim Malen im Petrustal zuzieht. Die meisten seiner zahl­reichen Werke befinden sich heute in Luxemburger, Schweizer und ukrainischem Privatbesitz, einige jedoch auch im Luxemburger Nationalmuseum und dem Ukrainian Museum New York – neben denjenigen seines prominenten Landsmannes Alexander Archipenko.

Dieser Beitrag wäre nicht ohne die Hilfe von Zeitzeugen und ihren Angehörigen, Forschern, Einrichtungen und Behörden entstanden, die bereit waren, ihr Wissen über Slavko mit mir zu teilen. Ihnen allen sei herzlich gedankt; mein besonderer Dank gilt der Ukrainischen Freien Universität München.

1 AZ, „Slavko in Luxemburg“, in: Luxemburger Wort, 15.07.1947, S. 2.
2 Überliefert bei Cristina I. Kyshakevych Katchaluba, The Expressionist Art of Slavko Krushelnytsky, Ukrainian Free University, Munich, 2005, S. 44. Die unveröffentlichte Dissertation verfolgt die Verortung Slavkos im Horizont der expressionistischen Malerei und enthält nur knappe biographische Informationen.
3 Markus Kahn, American Jewry and the Re-Invention of the East European Jewish Past, Berlin, De Gruyter Oldenbourg, 2018 (New Perspectives on Modern Jewish History, 9), bes. S. 212-240 über den Einfluss des Musicals Fiddler on the Roof (1964).
4 Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, München, Beck, 22010, S. 174-209; Christoph Mick, Lemberg, Lwów, L’viv, 1914-1947. Violence and Ethnicity in a Contested City, West Lafayette, Purdue UP, 2016 (Central European Studies), S. 209-219.
5 Franziska Bruder, „Den ukrainischen Staat erkämpfen oder sterben!“ Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) 1929-1948, Berlin, Metropol, 2007 (Dokumente, Texte, Materialien/Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, 64), bes. S. 32-52; Kappeler, Kleine Geschichte, S. 210-212.
6 Katchaluba, Slavko Krushelnytsky, S. 44.
7 Ebd., S. 45.
8 Kappeler, Kleine Geschichte, S. 215-216; Mick, Lemberg, S. 260-267.
9 Katchaluba, Slavko Krushelnytsky, S. 45.
10 Kappeler, Kleine Geschichte, S. 216-228; Bruder, „Den ukrainischen Staat“, S. 118-145.
11 Katchaluba, Slavko Krushelnytsky, S. 48f.
12 Ebd., S. 49.
13 AZ, „Seitensprung ins Atelier eines erfolgreichen Malers in Paris“, in: Luxemburger Wort, 11.04.1947, S. 2.
14 C.G. Jung [et al.], Der Mensch und seine Symbole, Zürich/Düsseldorf, Walter, 1968, S. 187.
15 AZ, „Slavko in Luxemburg“, S. 2.
16 Schreiben an Nicky und Camille [Familienname nicht bekannt] vom 25.04.1956, CNL L-345.II.3 Bestand Stenia Zapalowska.
17 AZ, „Slavko in Luxemburg“, S. 2.
18 S. oben Anm. 1.
19 Mick, Lemberg, S. 220-230.

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code