Eine Parabel rund um Identität, Inklusion und Andersartigkeit

Der Film Gräns (Border) von Ali Abbasi

Schönheit liegt im Auge des Betrachters; dieser Binsenweisheit ringt der iranisch-schwedische Regisseur und Drehbuchautor Ali Abbasi (Shelley, 2016) in seinem gleichermaßen originellen wie (im wahrsten Sinne) wilden Fantasydrama Gräns (engl. Border) einige neue, erschreckende Facetten ab – und wirbelt zugleich bestehende Genre- und Geschlechterkonventionen gehörig durcheinander.

Gräns basiert auf einer Kurzgeschichte des schwedischen Horrorautors John Ajvide Lindqvist (u.a. Let the Right One In, verfilmt 2008 bzw. 2010 als US-Remake) und gewann im Mai 2018 bei den Filmfestspielen von Cannes den Hauptpreis in der Kategorie Un Certain Regard; daneben wurde Gräns als schwedischer Beitrag in der Rubrik Foreign Language Film bei der 91. Ausgabe der Academy Awards eingereicht. Zurückbehalten wurde Abbasis wendungsreiche Mixtur aus Horror, Folklore, Romanze und Kriminaldrama zwar nicht, doch immerhin heimste der Film eine Nominierung in der Kategorie Best Makeup and Hairstyling ein. Völlig zurecht, denn allein die bemerkenswerten optischen Veränderungen, die Eva Melander (Tina) und Eero Milonoff (Vore) in ihren jeweiligen Rollen an den Tag legen – beide verbrachten täglich mehr als vier Stunden in der Maske – rechtfertigen eine Sichtung von Gräns.

Still, konzentriert und nahezu unbeweglich beobachtet die Grenzbeamtin Tina Passagiere, die die Fähren zwischen Schweden und Dänemark benutzen. Äußerlich ist die Vierzigjährige auf nahezu groteske Weise entstellt, und wirkt – ausgestattet mit einem ogerhaft deformiertem Gesicht, wirrem Haar und diversen Narben (die sie sich, wie wir später erfahren, durch einen Blitzschlag zugezogen hat) – eher abschreckend auf ihre Umwelt. Doch Tina verfügt gleichzeitig über eine für ihren Beruf überaus sinnvolle Gabe: Sie besitzt einen fast schon übernatürlichen Geruchssinn, der es ihr erlaubt, bei Menschen Emotionen wie Angst, Nervosität und Scham bzw. Schuld zu riechen, und Schmuggler bzw. Kriminelle so aus der Masse der Reisenden herauszufiltern. Als sie einen Passagier entlarvt, der kinderpornografisches Material auf seinem Smartphone mitführt, wird sie sogar von der Polizei angeheuert, um die Hintermänner und -frauen zu ermitteln.

Privat führt sie dagegen ein freudloses Leben. Sie besucht ihren demenzkranken Vater im Altersheim und haust, zusammen mit ihrem Verliererfreund Roland (Jorgen Thorsson), mit dem sie aber eine eher platonische Beziehung verbindet, in einem abgelegenen Haus im Wald. Während sich Roland tagein, tagaus mit der Zucht seiner drei Kampfhunde beschäftigt, zieht es Tina nach draußen, in die Natur: Sie streift stundenlang barfuß durch den Wald, atmet dessen Stille ein und pflegt ein auffällig inniges Verhältnis zur Tier- und Pflanzenwelt.

Als sie eines Tages dem geheimnisvollen und ähnlich deformierten Fremden Vore während einer Kontrolle begegnet, gerät ihr Leben aus den Fugen – Vore scheint nicht, wie Tina, seine eigene animalische Andersartigkeit zum Anlass zu nehmen, um sich selbst gesellschaftlich auszugrenzen, sondern macht sie sich zu eigen, lebt sie regelrecht aus. Zwischen beiden entwickelt sich eine unaufhaltsame Anziehungskraft, die sich schließlich in einer mehr als ungewöhnlichen Sexszene inmitten des Waldes entlädt, bei der so ziemlich alle Gewissheiten über die menschlichen Reproduktionsorgane über Bord geworfen werden. Dabei eröffnet Vore Tina, dass beide ein vorzeitliches Geheimnis verbindet, dessen Bloßlegung gleichermaßen eine Befreiung und eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit den Ursachen ihrer jahrzehntelangen systematischen Ausgrenzung darstellt…

Diese Chuzpe muss man auch mal haben: Regisseur Abbasi taucht in der zweiten Hälfte von Gräns tief ein in die übernatürliche Folklore Skandinaviens, unterzieht sie einer Modernisierungskur und vermengt diese Komponenten wie selbstverständlich mit Sozialkritik, Reflexionen über biologische Identität und Genderkonventionen sowie atmosphärischen Anleihen an die rauen Kriminalerzählungen skandinavischer Façon („Nordic Noir“); die visuellen filmischen Referenzen umfassen daneben aber auch unverkennbar (u.a.) Lars von Trier (Antichrist, 2009) und Guillermo del Toro (The Shape of Water, 2018).

Bis auf einige wenige (zugegebenermaßen etwas absurde) Ausnahmen gelingt es Abbasi dabei, seine intelligente Horrorparabel von Identität, Inklusion und (Angst vor) Andersartigkeit erzählerisch auf Kurs zu halten – ein Umstand, der aber auch maßgeblich an den von Melander und Milonoff hervorragend gespielten Hauptfiguren liegt. Beiden gelingt es nämlich, ihren überaus sperrigen Charakteren hinter den aufwändigen Masken eine ganze Bandbreite an Emotionen mit auf den Weg zu geben, und damit eine Aura des Unbehagens zu schaffen, die sich förmlich auf die Zuschauer*innen überträgt.

Nicht nur aufgrund seines reichen allegorischen Potentials ein überaus empfehlenswerter Film – wenn auch nicht für allzu schwache Nerven.

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