Hat Jean-Claude Juncker seine Sache gut gemacht?
Eine Bilanz der EU-Kommission 2014-2019
Kein anderer Brüsseler Spitzenpolitiker ist so umstritten wie Jean-Claude Juncker. Für die einen verkörpert er die arrogante EU-Bürokratie und ist Zielscheibe heftiger Attacken, bis hin zu primitiven und niederträchtigen Hassplakaten in Ungarn. Den anderen erscheint er als Europäer durch und durch, der den Laden in schwierigsten Zeiten zusammenhält und mit Preisen für seine Verdienste um die europäische Einigung überhäuft wurde. Zumindest im Lager derjenigen, die die EU nicht grundsätzlich ablehnen, dürften sich viele der Einschätzung anschließen, dass Junckers Bilanz unterm Strich besser ausfällt als die all seiner Vorgänger seit dem legendären Jacques Delors. Besser als die des glücklosen, vom EU-Parlament gedemütigten Jacques Santer, besser als die des oft etwas verpeilt wirkenden Professors Romano Prodi, und besser als die des in seinen zehn Jahren an der Spitze der Kommission stets blass gebliebenen José Manuel Barroso.
Im Spitzenkandidaten-Verfahren nach Brüssel
Sucht man nach den Gründen, warum Juncker herausragt, so muss man bei der Art und Weise anfangen, wie er in Brüssel in sein Amt kam. Juncker war der erste Kommissionspräsident, der im sogenannten Spitzenkandidaten-Verfahren angetreten war. Er setzte sich 2013 auf einem Parteitag der Europäischen Volkspartei (EVP) zunächst gegen den späteren Brexit-Unterhändler Jean-Michel Barnier als Spitzenkandidat durch. Dann holte sein christlich-sozial-konservatives Parteienbündnis bei den Europawahlen im Mai 2014 mehr Mandate im Europäischen Parlament als die von Martin Schulz geführten europäischen Sozialdemokraten und Sozialisten. Schulz war eigentlich die treibende Kraft hinter dem Spitzenkandidaten-Verfahren gewesen. Aber er war nach seiner Niederlage gegen Juncker loyal genug, um bei der Verabredung zu bleiben, dass nur EU-Kommissionpräsident werden kann, wer vorher im Europawahlkampf Spitzenkandidat war. Schulz sorgte also im Europäischen Parlament für Geschlossenheit gegenüber dem Europäischen Rat. Am Ende blieb den Staats- und Regierungschefs nichts anderes übrig, als Juncker zähneknirschend zu akzeptieren und zu ernennen.
Damit war eine Machtverschiebung zugunsten des Parlaments gelungen, verbunden mit einer gleichzeitigen Stärkung der Position des Kommissionspräsidenten. Anders als etwa sein Vorgänger Barroso trat Juncker nicht als Verkörperung des kleinsten gemeinsamen Nenners unter den Staats- und Regierungschefs an. Denen gegenüber ist sein Standing auch deshalb besser, weil er anders als Barroso nicht nach einer zweiten Amtszeit strebt.
LuxLeaks als absoluter Tiefpunkt
Der absolute Tiefpunkt in Junckers Zeit an der Spitze der Kommission kam gleich zu Beginn mit den LuxLeaks, nur wenige Wochen nach seiner Wahl. Es konnte eigentlich niemanden überraschen, dass Juncker früher oder später vor dem Hintergrund der kaum überstandenen Finanzkrise seine Vergangenheit an der Spitze eines Landes einholen würde, das er zum sicheren Hafen für Steuervermeider gemacht hat. Wäre Juncker der Kandidat der Staats- und Regierungschefs gewesen, das Europäische Parlament hätte ihn wohl ebenso in die Wüste geschickt wie seinerzeit Santer. Aber auch jetzt standen die Straßburger Abgeordneten mit Schulz als wiedergewähltem Parlamentspräsidenten an der Spitze in einer großen Koalition hinter Juncker und hielten ihm die Stange. Zwar wurden Untersuchungsausschüsse eingesetzt, aber wirklich gefährlich wurde das für Juncker nie.
Zum Bild gehört aber auch, dass er seiner Wettbewerbskommissarin Margarete Vestager nicht in den Arm fallen konnte (und wohl auch nicht wollte), als diese sich dann mit den großen Konzernen anlegte. Damit wurde Vestager zum Shooting-Star in der Juncker-Kommission, und es gelang ihr, in der öffentlichen Wahrnehmung dem von Juncker als „ersten“ Vizepräsidenten favorisierten Frans Timmermans den Rang abzulaufen.
Und im März dieses Jahres wurde eine Einigung über eine EU-weite Whistleblower-Richtlinie erzielt. Sie soll Hinweisgebern sichere Wege für das Melden von Verstößen garantieren und Vergeltungsmaßnahmen gegen Whistleblower erschweren. Auch den Gesetzesvorschlag der Kommission dazu hätte es ohne LuxLeaks wahrscheinlich nicht gegeben.
Nach LuxLeaks im Herbst 2014 konnte es für Juncker politisch nur noch bergauf gehen. Und dann kamen die Krisen, die Europa in Atem hielten und halten und daher auch die Amtszeit der Juncker-Kommission prägen: die Flüchtlingskrise und der Brexit, dazu ein neuer US-Präsident, der den Europäern nicht nur mit Handelskrieg droht, sondern sich über alles zu freuen scheint, was die Europäische Union schwächt.
Unter Juncker wird die EU-Kommission wieder ernst genommen
Auch wenn die Flüchtlingskrise wohl nur vorübergehend einigermaßen bewältigt ist und das Brexit-Drama noch längst nicht ausgestanden ist, in beiden Fällen gelang es Juncker immerhin, seine Kommission politisch wahrnehmbar im Spiel zu halten. Er wurde als unverzichtbarer Akteur ernst genommen. Ein deutlicher Unterschied zur Finanz- und Griechenlandkrise, deren Bewältigung die EU-Finanzminister und die Staats- und Regierungschefs im Verein mit der Europäischen Zentralbank in die Hand genommen hatten und bei der man Barrosos EU-Kommission so wenig zutraute, dass auch noch der Internationale Währungsfonds ins Boot gebeten wurde.
Mit kaum verhohlenem Stolz präsentierte Juncker in seiner jüngsten Rede zur Lage der Union vor dem Europäischen Parlament1 die wirtschaftliche Entwicklung der Union seit 2014: Fast 12 Millionen neue Arbeitsplätze seien entstanden. Nie zuvor standen in Europa so viele Menschen – 339 Millionen Frauen und Männer – in Lohn und Brot. Die Jugendarbeitslosigkeit auf dem niedrigsten Stand seit 2000. Die Investitionen seien wieder gestiegen, und das sei nicht zuletzt seiner Idee eines Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) zu verdanken, dem sogenannten „Juncker-Fonds“. Man sei auf gutem Wege, damit fast 400 Milliarden an öffentlichen und privaten Investitionen zu mobilisieren. Nicht ganz so rosig sieht dies der Europäische Rechnungshof, der Anfang des Jahres dazu seinen Sonderbericht veröffentlichte; sein Titel: „Damit der EFSI ein Erfolg wird, muss noch einiges unternommen werden“2. Hauptkritikpunkte der Rechnungsprüfer: Die von der Kommission behauptete Hebelwirkung der eingesetzten EU-Mittel dürfte in vielen Fällen übertrieben sein, und der Löwenanteil der vom EFSI unterzeichneten Finanzierungen erfolgte in den Mitgliedstaaten, die bereits vor 2004 der EU angehörten. An erster Stelle stand Finnland und auch Luxemburg war unter den ersten fünf, die pro Kopf am meisten profitierten.
Der größte Coup: Auf Augenhöhe mit Trump
Fragt man nach Junckers größtem politischen Coup, dann gelang der nach Einschätzung der deutschen Wochenzeitung Die Zeit im Sommer 20183. Damals war Juncker als Kommissionspräsident, der im Namen aller Europäer verhandelte, nach Washington gereist und einigte sich mit dem US-Präsidenten, bis auf Weiteres den Handelskrieg zwischen den USA und der EU beizulegen. Vor seiner Reise waren zumindest die deutschen Medien voll von Spekulationen darüber gewesen, ob Juncker aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme überhaupt noch fit für ein solches Treffen sei. So kann man sich täuschen. Auch in der Rückschau will Juncker nicht ausdrücklich bestätigen, dass man sich im Lauf des sechsstündigen Gesprächs angebrüllt hat. Es sei „sportlich“ gewesen und „Wir reden laut miteinander“, so Juncker in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt vom 20. April4. Auf Augenhöhe eben, von Präsident zu Präsident, und das ist unbestreitbar ein persönlicher Triumph für Juncker, auch wenn man sein gekünsteltes und daher doppelt eitel wirkendes Understatement in solchen Interviews nicht gut finden muss.
Die wichtigste Schwachstelle in Junckers Bilanz ist alles, was mit Umweltschutz zusammenhängt. Nicht, dass Juncker nicht auch Klimaschutz zu einer Priorität seiner Kommission erklärt hätte. Aber die Art und Weise, wie er diese Jahrhundert-Herausforderung in seiner Antrittsrede am 15. Juli 2014 vor dem Europäischen Parlament behandelte, ließ schon erkennen, dass keine besonderen Anstrengungen zu erwarten waren und dass dieses Thema nicht zu seinen wirklichen Herzensangelegenheiten gehörte.
Beim Umwelt- und Klimaschutz wenig mehr als Lippenbekenntnisse
Junckers Antrittsrede trug den Titel „Ein neuer Start für Europa: Meine Agenda für Jobs, Wachstum, Fairness und demokratischen Wandel“. Also nichts zum Thema Umwelt, nicht einmal das sonst heute allenthalben verwendete Wörtchen „nachhaltig“, wenn Wachstum angekündigt wird. In der Rede selbst forderte Juncker dann eine „robuste Energieunion mit einer zukunftsorientierten Klimaschutzpolitik“, mehr erneuerbare Energie und mehr Energieeffizienz, insbesondere für Gebäude, allerdings alles ohne konkretere Zielvorgaben.
Gerade zu Beginn ihrer Amtszeit geriet die Juncker-Kommission darüber in Konflikt mit dem Europäischen Parlament. Juncker hatte die Losung ausgegeben, vorrangig bestehende Regelungen und bereits auf dem Tisch liegende Regelungsvorschläge auf den Prüfstand zu stellen, statt an neuen Vorschlägen zu arbeiten. Seht her, meine Kommission nimmt sich zurück und mischt sich weniger ein, das sollte die Botschaft an die Mitgliedstaaten sein. Das galt für alle Bereiche der Gesetzgebung, hatte aber gerade im Bereich der Umweltgesetzgebung negative Auswirkungen. In der Praxis bedeutet diese Herangehensweise nämlich oftmals einfach nur Stillstand oder Rückschritt. Prüfen statt handeln also, lange prüfen, um nicht handeln zu müssen. Ein Beispiel dafür: das europäische Eco-Management and Audit Scheme (EMAS)5. EMAS ist ein Zertifizierungsverfahren, das dafür sorgen soll, dass Wirtschaftsunternehmen, aber auch öffentliche Einrichtungen Umweltschutz ernstnehmen, eine Art Umweltbetriebsprüfung. EMAS gibt es seit über 20 Jahren. Es hat sich bewährt und gilt als das beste System dieser Art weltweit. Seine praktische Anwendung stößt allerdings unweigerlich an Grenzen, weil sie auf Freiwilligkeit beruht. Was hätte näher gelegen, als EMAS in Zeiten eines immer bedrohlicher werdenden Klimawandels endlich per EU-Richtlinie verpflichtend einzuführen?
Statt einen solchen Vorschlag zu machen, gab es langwierige Untersuchungen im Rahmen des von Junckers Vizepräsident Frans Timmermans gesteuerten sogenannten REFIT-Programms6. Das Kürzel REFIT steht für „Programm zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung“. REFIT soll sicherstellen, „dass die EU-Rechtsvorschriften ihre Ziele für die Bürgerinnen und Bürger wirksam, effizient und kostengünstig erreichen“, heißt es seitens der Kommission. Am Ende stand dann im Falle von EMAS nach einer über zwei Jahre dauernden Prüfung im Juni 20177 das Ergebnis, dass EMAS Unternehmen, die mitmachen, dabei unterstützt ihre Umweltbilanz zu verbessern und ihre CO2-Emissionen beträchtlich zu senken. Gleichzeitig wurde die wenig überraschende Erkenntnis festgehalten, dass eine auf Freiwilligkeit beruhende Umweltbetriebsprüfung nur für einen begrenzten Kreis von Teilnehmern attraktiv ist. Während die Kommission EMAS prüfen ließ, war die ohnehin überschaubare Zahl derjenigen Unternehmen in der EU, die bei EMAS registriert sind, gesunken. Mancherorts war wohl schon das Ende von EMAS erwartet worden. Aber der Mut, EMAS einfach aufzugeben, wenn man es nicht verpflichtend machen will, der fehlt der Kommission dann auch. EMAS wird also weiter ein Schattendasein führen.
Die Einhaltung des EU-Rechts bleibt auf der Strecke
Unter Junckers Ägide verzichtet die Kommission auch in zunehmendem Maß darauf, in den Mitgliedstaaten die Einhaltung und Anwendung von EU-Recht durchzusetzen. Diese Aussage mag überraschen, denn es ist ja immer wieder von den Anstrengungen Brüssels zu lesen, in Mitgliedsländern wie Polen oder Ungarn auf die Einhaltung von rechtsstaatlichen Standards hinzuwirken. Allerdings ist dies nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite wurde zum Rückzug geblasen, wenn es um die Kernkompetenzen der Kommission zur Sicherung des gemeinsamen Binnenmarkts geht, etwa bei der Kontrolle staatlicher Beihilfen. Laut EU-Vertrag sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar. Sollen Beihilfen gewährt werden, müssen sie aus den Mitgliedstaaten bei der EU-Kommission angemeldet und von dieser geprüft werden, sofern eine Bagatellgrenze überschritten wird. Eine solche Anmeldung erfolgt längst nicht immer. Problematisch sind in dieser Hinsicht zum Beispiel größere kommunale Grundstücksgeschäfte, bei denen privaten Investoren besonders vorteilhafte Konditionen gewährt werden, ohne dass dies von offizieller Seite nach Brüssel gemeldet wird.
In der Vergangenheit galt für die EU-Kommission die ausdrückliche Verpflichtung, jede Information über vermutete rechtswidrige Beihilfen unverzüglich zu prüfen. 2015 wurde die einschlägige Verordnung geändert. Jetzt heißt es: „Die Kommission sollte von Amts wegen Informationen über rechtswidrige Beihilfen ungeachtet der Herkunft dieser Informationen prüfen können.“8 Aus einer Verpflichtung ist also eine Option geworden, die ins Ermessen der zuständigen Dienststellen der Kommission gestellt wird. Und die wiederum haben unter Juncker die Vorgabe, sich tunlichst zurückzuhalten. Juncker hat dazu den wohlklingenden Satz geprägt von einer „Europäische Union, die in großen Fragen Größe und Ehrgeiz zeigt und sich in kleinen Fragen durch Zurückhaltung und Bescheidenheit auszeichnet“. Das mag allen gefallen, die der Meinung sind, dass sich die Kommission in der Vergangenheit zu viel in zu vieles eingemischt hat. Allerdings wird auf diese Weise der Durchsetzung des EU-Rechts ein Bärendienst erwiesen. Und diejenigen, die auf Brüssel hoffen, werden an der Nase herumgeführt.
Wer auf Brüssel hofft, wird an der Nase herumgeführt
Das spürt der EU-Bürger, der sich in Brüssel darüber beschwert, dass in seiner Stadt oder Gemeinde gegen EU-Umweltrichtlinien verstoßen oder das EU-Vergaberecht nicht eingehalten wird. Offiziell sind solche Hinweise von EU-Bürgern nach wie vor sehr willkommen. „Bürger, Unternehmen und die Zivilgesellschaft tragen wesentlich zur Kontrolle durch die Kommission bei, indem sie Mängel bei der Anwendung des EU-Rechts durch die Mitgliedstaaten mitteilen,“ heißt es in der Mitteilung der Kommission „EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung“ von Anfang 20179.
In der Praxis muss sich der Beschwerdeführer nicht nur darauf einstellen, dass es ein Jahr oder sogar noch länger dauern kann, bis die Kommission den von ihm gemeldeten Verstoß gegen EU-Recht geprüft hat. Selbst wenn die Prüfung gezeigt hat, dass die Beschwerde berechtigt ist, sind die Kommissionbeamten unter Juncker gehalten, den Beschwerdeführer möglichst abzuwimmeln. Der Standardsatz, um den Vorgang ohne weitere Folgen für den betroffenen Mitgliedstaat zu den Akten zu legen und diese Untätigkeit zu rechtfertigen, liest sich folgendermaßen: „Die Entscheidung, ob die Kommission aufgrund einer Beschwerde ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnet, steht im Ermessen der Kommission, die ihren Ermessensspielraum auf strategische Weise nutzen und in erster Linie die schwerwiegendsten Verstöße gegen das EU-Recht verfolgen soll.“
Gab man im April bei Google das Begriffspaar „Juncker Kritik“ ein, so standen oben auf der Ergebnisliste der Suchmaschine Artikel über Junckers „Haarewuscheln“, also seine Angewohnheit, Kollegen und Mitarbeiter(innen) als Zeichen seiner Sympathie die Frisur durcheinander zu bringen. Junckers Sprecher Margaritis Schinas wird dazu mit der Aussage zitiert: „Wir freuen uns sehr, für einen Präsidenten zu arbeiten, der uns als Freunde und Partner sieht.“10 Dass es in der Kommission nicht nur freundschaftlich zugeht, dafür sorgt allerdings Junckers rechte Hand, der als rücksichtslos verschrieene deutsche Spitzenbeamte Martin Selmayr.
Der war zunächst Junckers Kabinettschef, bevor er dann von diesem im März 2018 in einer Handstreich-Operation zum Generalsekretär der Kommission, also zu deren höchstem Beamten, befördert wurde.
Selmayrgate: Junckers eiserne rechte Hand
Noch nie in der Geschichte der Kommission ist danach über einen ihren Beamten derart viel diskutiert und geschrieben worden. Die Ernennungs-Affäre wird unter dem Stichwort „Selmayrgate“ abgehandelt. Der Wortführer unter den frankophonen Journalisten im Brüsseler Pressesaal, Jean Quatremer von Liberation, offenbar gut gebrieft aus dem Maschinenraum der Kommission, ließ kein gutes Haar an Juncker und Selmayr, bis hin zu dem Vorwurf, eine hohe Beamtin im Juristischen Dienst sei womöglich in den Selbstmord getrieben worden11. Selmayrs Ernennungsverfahren war Gegenstand eines kritischen Berichts der EU-Bürgerbeauftragten und mehrerer Resolutionen im Europäischen Parlament, die in der Forderung nach seinem Rücktritt gipfelten12. Auch die meisten von Junckers Parteifreunden aus dem Lager der EVP haben sich dem nicht entgegengestellt und sich der Stimme enthalten.
Wenn er geht, gehe ich auch – so soll Juncker laut Presseberichten die Ernennung Selmayrs gegenüber erbosten Parteifreunden verteidigt haben. Umgekehrt gilt dieser Satz allerdings wohl auch. Wenn Juncker voraussichtlich irgendwann in der zweiten Jahreshälfte ausscheidet, sind auch die Tage von Selmayr als oberster EU-Beamter gezählt. Vermutlich wird das neugewählte Parlament von einem künftigen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten verlangen, dass er sich von Selmayr trennt. Der dürfte sich innerhalb der Kommission so viele Feinde gemacht haben, dass er „placardisiert“ wird, wie es im Jargon der EU-Bürokratie so schön heißt, also auf einen hochbezahlten, aber unbedeutenden Posten abgeschoben wird.
Und am Fall Selmayr sieht man auch den Unterschied zum Kabinett eines Jaques Delors. Der Franzose, unter dessen Ägide die Kommission vor über 30 Jahren den Gipfel ihres Ansehens erreichte, hatte seinerzeit seinen Mitarbeiterstab zu einem Talentschuppen gemacht. Ehemalige Mitarbeiter Delors haben auch nach dessen Ausscheiden weiter Karriere gemacht und in Schlüsselpositionen noch über Jahre hinweg den Kurs der Kommission mitbestimmt.
Beim Blick in die Zukunft der Europäischen Union im Allgemeinen und der EU-Kommission im Besonderen scheint am Ende der Ära Juncker (zu) vieles offen. Das hat mit dem nun aufgeschobenen Brexit zu tun. Und natürlich auch mit dem gescheiterten deutsch-französischen Rendez-Vous nach der Wahl Macrons zum französischen Präsidenten.
Kein großer Wurf zur EU-Reform, nur ein halbherziges Weißbuch
Aber Juncker hat auch nie einen großen Wurf geliefert, sondern im März 2017 lediglich ein halbherziges Weißbuch zur Zukunft der Europäischen Union vorgelegt. In diesem Weißbuch hat die Kommission Festlegungen vermieden und versucht, eine Diskussion anzustoßen, indem fünf Szenarien beschrieben wurden („Weiter so wie bisher“, „Schwerpunkt Binnenmarkt“, „Wer mehr will, tut mehr“, „Weniger, aber effizienter“, „Viel mehr gemeinsames Handeln“). Das ist gründlich danebengegangen. Eine Kommission, die den Mitgliedstaaten sagt, überlegt euch doch mal, was ihr eigentlich wollt, wir wissen auch nicht so genau, wo es hingehen soll, die verliert ihre Rolle als Reformmotor der Europäischen Union.
Zum Ende seiner Amtszeit hin versucht Juncker nun vor allem zu erreichen, dass die Staats- und Regierungschefs mehr Entscheidungsfindung per Mehrheitsbeschluss möglich machen, zum Beispiel in Fragen der Sozialpolitik, aber auch in Fragen der Steuerpolitik13. Dass nun ausgerechnet ein ehemaliger Premierminister aus Luxemburg die Abkehr von der Einstimmigkeit in Steuerfragen auf den Weg bringen will, dürfte bei vielen Verwunderung auslösen. Soll das ein Witz sein? Macht der Juncker das, weil er genau weiß, dass doch nichts daraus wird? Also nur, um besser dazustehen, wenn er seine Memoiren diktiert, frei nach dem Motto „Ich habe es ja versucht, aber leider…“?
Das mag wohl sein. Es könnte aber auch sein, dass Juncker es wirklich ernst meint und dass dies ein geschickter Schachzug mit Blick auf seinen wahrscheinlichsten Nachfolger an der Spitze der Kommission ist, den CSU-Mann Manfred Weber, der als EVP-Spitzenkandidat bei den Europawahlen antritt. Denn der größte Widerstand gegen die Abschaffung der Einstimmigkeit in Steuerfragen kommt aus Berlin. Wenn überhaupt, dann könnte wohl nur ein Deutscher an der Spitze der EU-Kommission diesen Widerstand überwinden. Und in der Tat liest sich die Mitteilung, die Juncker Mitte Januar dazu hat vorlegen lassen, ein bisschen wie ein Fahrplan für den nächsten Kommissionspräsidenten. Wenn der den Vorschlag aufgreift (oder aufgreifen muss, um im Europäischen Parlament die nötige Mehrheit zu bekommen), dann hätte Juncker zum Ende seiner Amtszeit noch eine wichtige Weiche für die Zukunft der Europäischen Union gestellt.
- https://ec.europa.eu/commission/priorities/state-union-speeches/state-union-2018_de, alle Links zuletzt aufgerufen am 23. April 2019
- https://www.eca.europa.eu/de/Pages/DocItem.aspx?did=49051
- https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-09/europaeische-union-jean-claude-juncker-rede-nationalismus-grenzschutz
- https://www.abendblatt.de/top-themen/article216993217/Juncker-EU-Merkel-fuer-europaeisches-Amt-Interview-zu-Brexit-Klima-Trump.html
- https://www.emas.de/home
- https://ec.europa.eu/info/law/law-making-process/evaluating-and-improving-existing-laws/refit-making-eu-law-simpler-and-less-costly_de
- Bericht der Kommission vom 30. Juni 2017, COM (2017) 355 final
- Erwägungsgrund 23 der Verordnung (EU) 2015/1589.
- https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/ALL/?uri=uriserv:OJ.C_.2017.018.01.0010.01.DEU
- https://www.tagesspiegel.de/politik/eu-kommissionspraesident-britische-ministerin-tadelt-juncker-fuer-grauenhaften-umgang-mit-frauen/23795198.html
- http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-19-1715_fr.htm
- http://www.europarl.europa.eu/thinktank/de/document.html?reference=IPOL_STU(2019)621805
- Auf dem Weg zu einer effizienteren und demokratischeren Beschlussfassung in der EU-Steuerpolitik, https://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/file/15_01_2019_communication_towards_a_more_efficient_democratic_decision_making_eu_tax_policy_de.pdf
Spitzenkandidaten als Gesichter Europas
Wahlen sind zuallererst Entscheidungen darüber, wer an der Spitze stehen soll. Das Interesse an den Europawahlen war in der Vergangenheit deshalb so vergleichsweise gering, weil gegen diesen Grundsatz verstoßen wurde. Die Entscheidung über den künftigen Kommissionspräsidenten fiel nicht an der Wahlurne, sondern traditionell hinter den verschlossenen Türen des Europäischen Rates, also im Kreis der EU-Staats- und Regierungschefs. Um die Wahlen interessanter und die Europäische Union demokratischer zu machen, sollten stattdessen die Wählerinnen und Wähler entscheiden. Das ist die Grundidee hinter dem Spitzenkandidaten-Modell.
20 Jahre schlummerte die Idee in den Schubladen des Straßburger Parlaments, bevor sie der damalige Präsident des Parlaments, der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz, bei den Europawahlen 2014 in die Tat umsetzte. Schulz ließ sich zum Spitzenkandidaten seiner sozialdemokratischen Parteienfamilie küren und setzte damit alle unter Zugzwang. Die meisten anderen politischen Familien im Europäischen Parlament traten dann ebenfalls mit europäischen Spitzenkandidaten an, manche auch mit Doppelspitze.
Trotz aller damaligen Unkenrufe ging die Rechnung weitgehend auf. Der Trend ständig sinkender Wahlbeteiligung seit den ersten Direktwahlen 1979 konnte nicht umgekehrt, aber immerhin gestoppt werden. Schulz wurde mit seiner Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) hinter der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) zwar nur Zweiter und bekam als Trostpreis eine weitere Amtszeit an der Spitze des Europäischen Parlaments. Aber die Staats- und Regierungschefs mussten sich geschlagen geben und mit dem EVP-Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker jemanden an der Kommissionsspitze akzeptieren, der in ihrem Kreis keineswegs auf ungeteilte Sympathien stieß.
Nun gibt es also im Mai 2019 zum zweiten Mal Europawahlen nach dem Spitzenkandidaten-Modell. Auch jetzt sind wieder viele skeptische Stimmen zu hören. Auch diesmal ist die treibende Kraft ein deutscher Politiker aus dem Europäischen Parlament: Manfred Weber, gegenwärtig Fraktionsvorsitzender der EVP. Er hat sich in seiner Partei gegen den ehemaligen finnischen Regierungschef Alexander Stubb als Europa-Spitzenkandidat durchgesetzt. Der CSU-Mann Weber habe keinerlei Regierungserfahrung, so lautet die Kritik. Und das neue Parlament werde angesichts einer erstarkenden europaskeptischen Rechten womöglich unberechenbar.
In der Tat wird die Sache anders als 2014 diesmal wohl nicht allein zwischen EVP und SPE ausgemacht. Da für beide großen europäischen Parteifamilien Verluste prognostiziert werden, kommt es im künftigen Parlament mehr denn je auf Koalitionsbildung an. Das kann spannend und kompliziert werden. Und falls die frisch gewählten Europaparlamentarier sich nicht schnell zusammenraufen, wird ihnen der Europäische Rat nur zu gerne das Heft des Handelns wieder aus der Hand nehmen, das die Abgeordneten 2014 an sich gerissen haben.
In den EU-Verträgen ist das Spitzenkandidatenverfahren nämlich nicht vorgesehen. Es war und ist ein politischer Schachzug, mit dem sich die Europapolitiker in Straßburg gegenüber den nationalen Hauptstädten einen größeren Einfluss auf Personalentscheidungen für Brüssel gesichert haben. Die EU-Abgeordneten stützen sich dabei auf eine nicht ganz unumstrittene Interpretation von Artikel 17 (7) des EU-Vertrages, der das Ernennungsverfahren für den Kommissionspräsidenten, den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und die übrigen Mitglieder der Kommission regelt.
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