Brancusi, Steichen und das „Brouhaha“
Der Wirbel um die Anerkennung der modernen Kunst
Als sich der rumänisch-französische Bildhauer Constantin Brancusi 1926 von Paris nach New York begibt, um eine Ausstellung vorzubereiten, bringt er auch eine Skulptur mit, die er kurz zuvor an seinen Freund Edward Steichen verkauft hat. Der Zoll weigert sich jedoch, die Plastik als Kunstwerk einzustufen und erhebt die für Gebrauchsgegenstände übliche Einführungsgebühr. Gegen diese Entscheidung strebt Brancusi, unterstützt von Steichen und anderen eminenten Vertretern des Kunstbetriebs, einen Prozess an, in dem sich die fundamentalen Umbrüche, die den Eintritt der Kunst in die Moderne begleiten, brennglasartig verdichten.
Eine Künstlerfreundschaft
Steichen lernt Brancusi 1907 kennen, wird jedoch erst 1913 auf die Arbeit des Bildhauers aufmerksam, als er auf der jährlichen Ausstellung des Pariser Salon des indépendants seine Vogelskulptur Maiastra entdeckt. Er beschließt sogleich, die Bronze trotz ungenügender Geldmittel zu kaufen, sucht den Künstler auf und überzeugt ihn, sie ihm gegen 500 Francs, die Hälfte der ursprünglich angesetzten Summe, zu überlassen.1 Sie findet ihren festen Platz auf einer hohen, von Brancusi eigens zu diesem Zweck angefertigten Säule inmitten üppiger Vegetation im Garten von Steichens Residenz in Voulangis. Hier ist der Bildhauer von nun an häufig zu Gast; einer Anekdote zufolge kommt es anlässlich eines dieser Besuche zu einem Disput zwischen Brancusi und Steichens damals neunjähriger Tochter Mary, die die unnatürliche Haltung des Vogelhalses moniert: Bei einem singenden Vogel sei dieser Körperteil stets nach oben gereckt und nicht, wie bei Maiastra, nach vorne gebeugt. Rückblickend wird sich Steichen fragen, ob die Veränderung bei Brancusis späteren Vogelskulpturen, die ab dem sogenannten Typus des Oiseau dʼor (um 1919) einen geraden, in die Höhe gerichteten Hals haben,2 nicht etwa auf diese Begebenheit zurückgeht.3
1926 erwirbt der Fotograf von Brancusi eine weitere Bronze, deren Entstehung er schon 1924 im Atelier des Künstlers beobachten konnte: LʼOiseau dans lʼespace. Bereits vom unfertigen Rohling tief beeindruckt, entscheidet er sich abermals spontan zum Kauf: „When I saw it first, it had just come from the foundry as a crude mass of bronze. But even in the rough state, it seemed a supreme achievement, and I told Brancusi I would like the privilege of having an option on buying it when it was finished.“4 Als der Bildhauer im September 1926 in New York eintrifft, um Vorbereitungen für die Ausstellung seiner Werke in der Brummer Gallery (17. November bis 15. Dezember) zu treffen, verweigert der Hafenzoll der Skulptur den Kunstwerkstatus und damit ihre zollfreie Einführung in die USA gemäß Paragraf 1704 des Tarif Act (1922). Stattdessen ordnet man die etwa 135 cm hohe Plastik, die die Beamten eher an das Blatt einer Flugzeugschraube als an eine Statue im herkömmlichen Sinn erinnert, nach Paragraf 399 der Kategorie ‚Küchenutensilien und medizinisches Gerät‘ zu. Auch muss Steichen, um die Bronze einlösen zu können, die vorgesehene Zollgebühr in Höhe von 40% des Erwerbspreises, in diesem Fall 240 $ hinterlegen. Als einen Monat später Marcel Duchamp, ein enger Vertrauter Brancusis, aus Paris mit weiteren Skulpturen für die Ausstellung ankommt, erhalten auch diese lediglich ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht in den USA; eine Gebühr von insgesamt 4.000 $ wird festgesetzt. Im März 1927 – der Zoll beharrt in einer offiziellen Stellungnahme weiterhin darauf, Brancusis Arbeit als „not art“ zu rubrizieren5 – reicht der Bildhauer Klage ein; das bedeutende Kunstsammlerpaar Eugene und Agnes Meyer sowie die Mäzenin und spätere Museumsgründerin Gertrude Vanderbilt Whitney stellen die eigenen Anwälte zur Verfügung. Ende Oktober beginnt vor der dritten Kammer des US Customs Court, begleitet von hitzigen medialen Debatten über die Definition und Definitionshoheit von Kunst, der Prozess Brancusi vs. USA. Steichen tritt, zusammen mit fünf weiteren prominenten Künstlern, Kunstkritikern und Kuratoren, als Zeuge der Anklage auf.6
Brancusi und die USA
Die amerikanische Öffentlichkeit nimmt Brancusi zum ersten Mal 1913 bei der monumentalen Armory-Show zur Kenntnis, der bis dahin größten Ausstellung moderner europäischer und amerikanischer Kunst in den USA;7 hier gehört seine Skulptur Mlle Pogany zu den umstrittensten Stücken. Bei der Verlegung der Ausstellung von New York nach Chicago hängen konservative Studenten der dortigen School of the Art Institute, entrüstet über solch radikale Neuformulierung menschlicher Schönheit, Brancusi neben Henri Matisse und dem Kurator Walter Pach in effigie auf.8 1914 findet auf Vermittlung Steichens eine Ausstellung von Werken Brancusis in der New Yorker Galerie des Fotografen Alfred Stieglitz statt. Steichen pflegt schon seit der Jahrhundertwende ausgezeichnete Kontakte zu Mitgliedern der französischen Kunst-Avantgarde, die er an den befreundeten Stieglitz weiterempfiehlt. So werden in dessen einflussreicher Galerie 291, meist erstmalig in den Vereinigten Staaten, Werke von Matisse, Pablo Picasso, Georges Braque, Francis Picabia und den sogenannten Younger American Painters wie John Marin oder Marsden Hartley ausgestellt. Bis zu ihrer Schließung im Jahr 1917 wird die Galerie, nicht zuletzt mithilfe des hauseigenen Publikationsorgans Camera Work, eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung, Förderung und Verteidigung avancierter europäischer und amerikanischer Kunst in den USA in Echtzeit ihrer Entwicklung spielen.9
Steichen selbst agiert dabei nicht nur als Impresario, sondern ist maßgeblich an der Konzeption und Ausführung der Veranstaltungen beteiligt, für die er die Auswahl der Exponate trifft und mit zunehmender fachlicher Kompetenz auch den Aufbau besorgt.10 Den beteiligten Künstlern ermöglicht die Schau in 291 nicht selten den Durchbruch auf dem amerikanischen Kunstmarkt; auch für Brancusi ist sie ein erheblicher kritischer und finanzieller Erfolg, der ihm eine wachsende Sammlergemeinde sichert. Bei dieser Gelegenheit lernt er beispielsweise das Ehepaar Meyer kennen; von besonderem Einfluss auf seine weitere Laufbahn ist vor allem das Interesse des Rechtsanwaltes John Quinn, in dem er den bedeutendsten Sammler seiner Werke findet.
Die Ausstellung bei Stieglitz etabliert indes nicht nur Brancusis Ruf als Galionsfigur der modernen Bildhauerei, sondern konfrontiert ihn zugleich mit Sachverhalten und Problemlagen, die den Vorfall von 1926 antizipieren: Die Ausstellungsstücke werden bei ihrer Ankunft in New York vom Zoll einbehalten und erst freigegeben, als Stieglitz 1.200 $ hinterlegt und eine schriftliche Versicherung Brancusis in Aussicht stellt, dass es sich dabei um persönliche Arbeiten handle, von denen lediglich das Original und höchstens zwei Kopien existierten. Überdies verhindert das Vorkommnis den rechtzeitigen Transport der Skulpturen in die Galerie, so dass die für Februar geplante Ausstellungseröffnung auf den 12. März verlegt werden muss. Als Brancusi nach Beendigung der Schau eine marmorne Variante der Maiastra an Quinn verschickt, kommt es erneut zu Schwierigkeiten bei der Zollpassage.11
Was ist Kunst (und wer befindet darüber)?
Die Kriterien zur Unterscheidung des Kunstwerks vom industriell bzw. handwerklich gefertigten Gebrauchsgegenstand, die zum damaligen Zeitpunkt der amerikanischen Gesetzgebung vorliegen, gründen auf den Kategorien der Originalität, Singularität und Nicht-Funktionalität sowie einer professionellen Herstellungsweise. Dementsprechend muss Brancusi im November 1927 vor dem US-Konsulat in Paris eine Erklärung abgeben, in der er u.a. ausführlich seinen akademischen Werdegang schildert und dadurch den Nachweis seiner Professionalität als Bildhauer erbringt. Das Aufkommen des Readymade in den 1910er Jahren, vertreten vor allem durch Duchamps Fahrrad-Rad (1913), Flaschentrockner (1914) und die berühmt-berüchtigte Fontäne (1917), hat jedoch die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Kunstwerk und Gebrauchsgegenstand und damit die Unhaltbarkeit des überkommenen Kunstbegriffs bereits augenfällig gemacht. Eine weitere grundlegende Rekalibrierung der bisherigen Kunstauffassung materialisiert sich in der fehlenden Ähnlichkeit von Brancusis Vogel mit seinem natürlichen Referenzobjekt; tatsächlich ist dies ein von den Anwälten und Zeugen der Verteidigung bevorzugt vorgebrachtes Argument für die vermeintliche künstlerische Ungültigkeit der Skulptur. Die aus den Umwälzungen des beginnenden Jahrhunderts hervorgegangene Krise der Repräsentation in allen Kulturbereichen, durch den Ersten Weltkrieg um ein Vielfaches verschärft, hat indes das Konzept einer mimetischen Kunst diskreditiert und an die Stelle der getreuen Nachbildung der Wirklichkeit ihre subjektive Aneignung durch den Künstler gesetzt. Brancusi hat sich spätestens 1910 von der naturalistischen Darstellungsweise distanziert und ein eigenes Formenvokabular entwickelt;12 die Bestrebungen, das Wesen seiner Objekte zu erfassen anstatt anatomisch-anthropometrisch korrekte Details auszuarbeiten, stellt der Dichter Ezra Pound, ein enthusiastischer Bewunderer Brancusis, in einer 1921 veröffentlichten Studie fest: „The research for the aerial has produced his bird.“13 Der Bildhauer selbst erläutert sein künstlerisches Anliegen anhand eines dem Vogel vergleichbaren Werks, des 1922 entstandenen Poisson: „Quand vous voyez un poisson, vous ne pensez pas à ses écailles, vous pensez à la rapidité de son mouvement, à son corps étincelant et flottant, vu à travers lʼeau. Si jʼavais rendu ses nageoires, ses yeux, ses écailles, jʼaurais eu un échantillon de la réalité. Moi jʼai voulu saisir lʼétincelle de son esprit.“14 Im Lichte dieser Ausführungen betrachtet ist der Vogel die konsequente Weiterentwicklung der noch zoomorphen Maiastra.
Offenkundig verweist nur noch der Titel auf den naturhaften Vogel, und die Bemühungen der Verteidigung, die Titelgebung für inadäquat zu erklären und dadurch die Skulptur selbst zu devalidieren, lassen keinen Zweifel daran, in welch virulenter Weise diese Benennung an den eigentlichen Kern der Debatte rührt.15 Die Publikation von Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale (1916), worin die Willkürlichkeit der Beziehung zwischen einem Sachverhalt und seiner Bezeichnung und damit die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens unter Beweis gestellt wird, hat deutlich gemacht, dass mit der Krise der Repräsentation eine der Denomination einhergeht. In Übereinstimmung mit dieser Erkenntnis hebt der Kunstkritiker und Herausgeber Forbes Watson, einer der übrigen Zeugen Brancusis, in seiner Aussage folgerichtig die Unmaßgeblichkeit des Titels im Hinblick auf die formale Gestaltung der Plastik hervor. 1929, lediglich ein Jahr nach der Verkündung des Urteils im Brancusi-Prozess, wird René Magritte mit seinem bekannten Bild La Trahison des Images, auf dem sich unter der Abbildung einer Pfeife der scheinbar paradoxe Schriftzug „Ceci nʼest pas une pipe“ befindet, die Unzuverlässigkeit der Beziehung zwischen Objekt, Repräsentation und Denomination in umgekehrter Stoßrichtung vorführen. Diesem Befund fügt Steichen die dahingegen enge Verbindung von Werktitel und künstlerischer Intention hinzu, in der die neu erworbene Souveränität des Künstlers auch in verbaler Hinsicht zum Ausdruck gelangt.16 Diese verunsichernden, jedoch irreversiblen Umbrüche machen letztlich auch in den Augen des Gerichts eine Neudefinition der Kunst unumgänglich, so dass es in seinem Urteil vom 26. November 1928 den Vogel zweifelsfrei als Kunstwerk anerkennt. Dadurch, dass es zuvor die Aufgabe der Fakten- und Evidenzfindung an Fachleute delegiert hat, begründet es darüber hinaus die Autorität der Expertise auch auf ästhetischem Gebiet. Dahingehend kann Steichen einen Tag später Brancusi mit Befriedigung mitteilen, „that it wasnʼt in the province of Uncle Sam to act as an authority in defining a work of art, but that the United States would have to accept the opinion of competent, recognized art authorities.“17
Postskriptum
Jahrzehnte später wird der Fotograf acht Studien des Vogels zu zwei Serien assemblieren und diese in Anlehnung an den von Brancusi zur Bezeichnung des Prozesses verwendeten Ausdruck „Brouhaha“ Brancusiʼs Bird Brouhaha (1957-1958) nennen. Bei der Retrospektive-Ausstellung Steichen the Photographer, die das New Yorker MoMa 1961 anlässlich des 82. Geburtstags des Künstlers konzipiert, werden diese Aufnahmen an zentraler Stelle im Hauptraum der Schau gezeigt und markieren so die Bedeutung dieser Episode auch in Steichens Biographie. Dass das „Brouhaha“ heute noch die kulturelle (und kulturideologische) Produktion anregt, lässt die im Dezember 2018 unter der Schirmherrschaft der rumänischen Botschaft in Luxemburg-Stadt organisierte Ausstellung Edward Steichen & Constantin Brancusi erkennen, die die Rolle des Fotografen nicht nur als konstitutiv für die Laufbahn des Bildhauers, sondern auch zu einem Gründungsmoment der luxemburgisch-rumänischen Freundschaft erklärt.18
- Zu Maiastra s. Sanda Miller, „In illo tempore. Maïastra. Oiseaux d’or et contes de fées“, in: Marielle Tabart (Ltg.): L’oiseau dans l’espace. La série et l’œuvre unique, Paris, Adagp, 2001, S. 12-18.
- S. dazu Athena Tacha Spear, „Les Oiseaux de Brancusi“, in: Tabart (Ltg.): L’oiseau dans l’espace, a.a.O., S. 20-42, hier S. 26-27.
- Edward Steichen, A Life in Photography, New York, Doubleday & Co, 1963, o. S. Steichen datiert den Kauf irrtümlich auf 1909/1910.
- Ebd.
- Veröffentlicht in der New-York Evening Post vom 23. Februar 1927 unter der Überschrift „Brancusi’s art is not art“.
- Zur Chronologie des Vorfalls s. z. B. Celine Delavaux/Marie-Hélène Vignes, Les procès de l’art. Petites histoires de l’art et grandes affaires de droit, Paris, Palette, 2013, S. 13-18.
- Charles Brock, „The Armory Show, 1913. A Diabolical Test“, in: Sarah Greenough (Hg.), Modern Art and America. Alfred Stieglitz and His New York Galleries, Washington, National Gallery of Art [et al.], 2001, S. 127-137.
- Bernard Edelman, L’Adieu aux arts, Paris, L’Herne, 2011, S. 11.
- Sarah Greenough, „Alfred Stieglitz, Rebellious Midwife to a Thousand Ideas“, in: Dies. [Hg.], Modern Art and America, a.a.O., S. 23-53.
- Anne McCauley, „Edward Steichen, Artist, Impresario, Friend“, in: Greenough (Hg.), Modern Art and America, a.a.O., S. 55-69.
- Ann Temkin, „Constantin Brancusi, 1914. Startling Lucidity“, in: Greenough (Hg.), Modern Art and America, a.a.O., S. 155-163.
- Spear, „Les Oiseaux de Brancusi“, a.a.O., S. 29.
- Ezra Pound, „Brancusi“, in: The Little Review. Quarterly Journal of Arts and Letters, 8:1 (Autumn 1921), S. 3-7, hier S. 6.
- Zit. nach Radu Varia, Brancusi, Paris, Gallimard, 1989, S. 206-207.
- Zur Bedeutung der Titelgebung s. z. B. Thierry de Duve, „Bird, Fish or Flying Tiger. What’s In a Name?“, in: Daniel McClean (Hg.), The Trials of Art, London, Ridinghouse, 2007, S. 89-101.
- Zum Wortlaut der Zeugenaussagen s. die stenographischen Prozessberichte in: Brancusi contre États-Unis. Un procès historique, Paris, Adam Biro, 1995, S. 11-73.
- Steichen, A Life in Photography, a.a.O., o. S.
- https://romlux.org/edward-steichen-constantin-brancusi-vernisage/(letzter Zugriff: 14. Mai 2019).
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
