Die Welt ist Klang
Zur Relevanz von gut geplanten urbanen Klanglandschaften
Hören ist ein mächtiges Werkzeug. Mit unserem Hörsystem erfassen und analysieren wir Geräusche und filtern diese. Klang, Sound und Musik können unser Denken, Fühlen, Handeln und auch unser Konsumverhalten beeinflussen. Klang kann im Handumdrehen unzählige Informationen vermitteln, löst Emotionen und Reaktionen in uns aus und hilft uns dabei, unsere Aufmerksamkeit zu lenken. Das Ohr kann dabei nicht, wie beispielsweise die Augen, geschlossen werden, um bestimmte Sinneseindrücke abzuwehren. Unser Hörorgan ist immer aktiv, unsere Ohren sind immer offen. Und doch wird Klang in vielen Aspekten unseres Lebens nur eine untergeordnete Rolle zuerkannt. Wir schenken dem Visuellen viel mehr Beachtung, obwohl es wegen unseres eingeschränkten Sichtfeldes Realität begrenzter übermittelt als das Auditive.
In Architektur und Stadtplanung hat man lange Zeit – neben den funktionellen Qualitäten der Gebäude und Räume – in erster Linie dem visuellen Aspekt Bedeutung zugemessen. Das Thema Akustik und Raumklang blieb in der Geschichte der modernen Architektur weitgehend ausgeblendet. Die sinnliche Erfahrung von Architektur beschränkt sich aber nicht nur auf das Sicht- und Tastbare. Auch wenn die Augen die Dimensionen des Raumes überblicken, ist die eigentliche Raumwahrnehmung eine Angelegenheit des Hörens. Auch mit geschlossenen Augen entsteht sofort ein Raumgefühl. Während das Visuelle immer eine Begrenzung eines räumlichen Zusammenhangs impliziert, können Geräuschkulissen uns weit mehr und tiefere Informationen über einen Ort verraten: Zwischen Ohr und Gehirn gibt es dreimal so viele Nervenverbindungen wie zwischen Auge und Gehirn. Und Schallwellen können die meisten Sichtbegrenzungen überwinden. Hören kann zudem stets Geräuschquellen implizieren, die zeitgleich und aus unterschiedlichen räumlichen Positionen kommend verarbeitet werden können. Das Sehen hingegen geschieht in aufeinanderfolgenden Sequenzen: Man kann von links nach rechts schauen, von oben nach unten, man kann die Dinge wahrnehmen, die sich vor einem befinden – aber gleichzeitig alles im Blick zu haben, was vor, hinter und neben einem ist, ist nicht möglich.
Architektur ist stets gebaute Akustik, einen Raum ohne Raumakustik gibt es nicht. Die heutzutage bevorzugten Baumaterialien wie Glas, Metall und Beton wirken akustisch kalt und bieten schlechte Voraussetzungen für ein angenehmes Raumempfinden, da sie weder physisch angenehme Aufenthaltsbedingungen bieten, noch, psychologisch betrachtet, Gefühle von Geborgenheit vermitteln. Akustik und Klang werden in der Planung auch meist als etwas verstanden, das erst nachträglich verbessert oder saniert werden muss, zum Beispiel durch Dämmmaterial oder Mehrfachverglasung, wobei es meistens darum geht, Störgeräusche auszuschalten. Jeder Raum hat jedoch seinen eigenen Klang, der von einer Vielzahl von Faktoren abhängt: Größe, Materialwahl, Oberflächen, Nutzung usw. Auch die Form von Architektur hat einen Einfluss auf den Klang, dies gilt selbstverständlich für Innenräume, aber auch für Außenräume. Die akustische Qualität von Räumen steht also in direktem Zusammenhang mit ihrer Architektur.
Wie Geräusche den Menschen beeinflussen
Die Geräusche und Klanglandschaften, denen wir in Räumen begegnen, prägen unsere Stimmungen, Vorlieben und unsere persönliche und kollektive Geschichte, sie lösen Erinnerungen und (mal mehr, mal weniger) starke Emotionen aus. Klangräumliche Eigenschaften können unser Verhalten stark beeinflussen.
Geräusche haben nicht nur einen Einfluss auf unser psychisches Wohlbefinden, sie ziehen auch soziale und ökonomische Folgen nach sich. Die Tatsache, dass so viele Menschen der Geräuschkulisse der Stadt entkommen möchten, ist ein Indiz dafür. Die durch Lärm entstehenden Kosten werden in Deutschland auf 10 Milliarden Euro jährlich geschätzt.1 Dort wo es laut ist, sind die Mieten in der Regel billiger, sucht man Ruhe in der Stadt, so muss man bereit sein, sich diese zu erkaufen. Lärm schließt aus und ist somit auch ein politisches Problem, das sich auf Minderheiten auswirkt, denn anders als Trinkwasser- oder Luftqualität betrifft Lärm nicht die Gesamtbevölkerung. Lärm ist also sozial ungerecht verteilt, und Ruhe muss man sich leisten können.
Lärm kann auf Dauer krank machen. Wo das Ohr nicht mehr mit der Geräuschbelastung zurechtkommt, entstehen Krankheiten. Dass Geräusche, die als Lärm empfunden werden, Stress verursachen und sich auf unser Nervensystem, also auf Herz, Blutdruck und Atmung, auswirken können, hat schon der deutsche Soziologe Georg Simmel (1858-1918) in seinem berühmten Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben (1903) festgestellt. Er konstatierte eine Reizüberflutung und Steigerung der Nervenerregung des Städters. Die rasanten sozialen, technischen und wirtschaftlichen Veränderungen, denen die Städte im Zeitalter von Industrialisierung und Motorisierung ausgesetzt waren, hatten eine Vielzahl an neuen Geräuschen mit sich gebracht. Im Laufe des 20. Jahrhunderts stieg die Lärmbelastung stark an, weg von Industriegeräuschen hin zu Auto- und Flugverkehr. Ein Drittel aller Herz-Kreislauferkrankungen geht heute direkt auf Lärmbelastung zurück.2 Die Wirkung von Lärm ist jedoch nicht nur eine Frage der Intensität, sondern hängt auch vom Informationsgehalt der Geräuschquelle ab. Um den städtischen Sound und Lärm ganzheitlich zu verstehen, bedarf es quantitativer und qualitativer Messungen.
Über das Messen und Sichtbarmachen von Sound
Das Visualisieren von Sound in der Stadt über sogenannte Lärmkarten erlaubt es, sich die Bedeutung des Problems bewusst zu machen. Lärmkarten veranschaulichen Belastungen in roten, gelben und grünen Bereichen und zeigen Tages- und Nachtwerte für die untersuchten Gebiete an. Straßen-, Schienen-, Industrie- und Gewerbelärm wird unterschieden. Doch wenngleich Lärmkarten die Geräuschentwicklungen in der Stadt für alle Bürger*innen transparent machen, so schränken sie gleichzeitig die Interpretation ein. Denn Geräusch und Sound hört nicht einfach in einem rot oder gelb markierten Bereich auf, Klang kennt zwar Abstufungen, aber keine Grenzen, er ist durchlässig wie eine Membran. Daher ist es hilfreich und wichtig, auch qualitative Zugänge zu urbanem Sound zu berücksichtigen. Soundwalks und Soundrecordings machen deutlich, wie der Mensch auf subjektiver Ebene den Sound der Stadt wahrnimmt. Die Umgebung mit offenen Ohren erkunden, sich über das Gehörte austauschen, Klänge vergleichen, die Klanglandschaft analysieren und über Tonaufnahmen dokumentieren – das alles macht Sound auf der qualitativen Ebene transparent und verständlich. Das Messen von Geräuschen (Lärmkarten) mit dem Begehen, Bewerten und Hören durch Soundwalks und -recordings zu verknüpfen, ermöglicht, Klang in der Stadt übergreifend zu analysieren. Das ist allein durch Lärmkarten nicht möglich.
Klang kann – einmalig oder wiederkehrend, rituell oder profan – über Geräusche jeder Art, Rhythmus oder Melodie identitätsstiftend auf Gemeinschaften jeder Art wirken. Sozialer Zusammenhalt wird dadurch gefestigt, dass die Angehörigen einer Gruppe sich an den Klang anpassen bzw. sich in ihm wiedererkennen. Der Klang wird zu ihrem Merkmal. Das Resultat sind sogenannte Klanginseln, geformt aus gemeinschaftlichen und individuellen Handlungen mit Klang und Geräusch. Orte in einer Stadt haben eine gewisse Ähnlichkeit mit solchen Klanginseln. Die Klanginsel der eigenen Wohnung unterscheidet sich deutlich von der Klanginsel des angrenzenden Parks und der großen Kreuzung. Wir stoßen täglich auf unterschiedliche Klangsphären und -inseln, die daraus resultierenden Übergänge markieren den multidimensionalen Klangraum der postmodernen Großstadt.3
Die Vielzahl von unterschiedlichen Geräuschen, der Wechsel von einer Klanginsel zur nächsten, überfluten die Stadtbewohner*innen regelrecht, und der Schutz vor als störend empfundenen Geräuschen – und sei es das Lärmen der Kinder vom nahegelegenen Schulhof – ist zu einem wichtigen Element in unserem alltäglichen Leben geworden. Lärmschutzwände, Schallschutzfenster, lärmarme Straßenbeläge (sogenannte Flüsterbeläge), Geschwindigkeitslimits, Nachtflugverbote, aber auch individuelle Lärmfilter und Klangbarrieren wie Ohropax oder Kopfhörer, die den Stadtbewohner fast hermetisch von der Außenwelt abschirmen, sind die heutigen Maßnahmen zur aktiven und passiven Lärmbekämpfung. Architektonische und städtebauliche Maßnahmen werden demgegenüber sehr selten schon im Vorfeld zur Lösung oder Vermeidung der städtischen Lärmproblematik herangezogen.
Antworten
Einige Interventionsmöglichkeiten gibt es jedoch: Insbesondere die Begrünung von Fassaden, die konsequente Anpflanzung von Bäumen im Straßenraum und die Öffnung versiegelter Böden haben großen Einfluss auf das Klangklima im Außenbereich. Geräusche werden im Blätterwerk gedämpft, anders als asphaltierter Boden reflektieren Vegetation und Erde die Geräusche weniger stark. Die in der Luft gehaltene Feuchtigkeit tut ein Übriges zur Minderung der Schallwellen. Sichtachsen zu brechen, die Schall und Wind eine ungehinderte Verbreitung erlauben, ist eine weitere Maßgabe. Die Verwinkelung der Architektur und die Kleinteiligkeit der Baukörper (bis zur Schaffung von Innenhöfen und Passagen) liefern weitere Antworten. Eine ganz andere Piste ist die seit Jahrhunderten erprobte Gestaltung zusätzlicher, angenehm empfundener Klangelemente, etwa Fontänen, Glockenspiele oder Rückzugsorte für Vögel mitten in der Stadt, die durch ihr Zirpen dem Ohr Informationen vermitteln, die beruhigend und ausgleichend wirken. Im Innenbereich hat u.a. das Verbauen von Holz und weniger glatter Oberflächen (etwa Lehmputz) eine günstige Wirkung (übrigens ebenfalls immer in Verbindung mit dem höheren Feuchtigkeitsgehalt der Luft). Teppiche und Teppichbeläge sind zwar aus der Mode gekommen, haben jedoch günstige Eigenschaften für das Wohlbefinden in Innenräumen.
Geräusche und Lärm können umgekehrt auch Signale für Urbanität, Gemeinschaft und Kultur sein, und teilweise wird argumentiert, dass das gegenwärtige urbane Problem nicht die Geräuschbelastung per se sei, sondern das Schwinden von Ruhezonen und Ruheorten. Anstatt eine Lösung für die Lärmproblematik zu suchen, könnte sich die Stadtplanung auch für den Erhalt und die Förderung von ruhigen urbanen Plätzen einsetzen. Der Grazer Künstler Winfried Ritsch sagt hierzu: „Bei der Planung künftiger akustischer Identitäten wird es nicht ausreichend sein, nur auf Lärmminderung zu achten. Das Gestalten einer akustischen Identität bedarf einer bewussten Gestaltung unserer klanglichen Umwelt. Dabei bedarf es einer besonderen Berücksichtigung der jeweiligen Umgebung, von der die Akzeptanz oder Ablehnung von Klängen entscheidend abhängt.“4
Zum Weiterlesen:
Joel Beckerman, The Sonic Boom. How Sound Transforms the Way We Think, Feel and Buy, New York, Mariner Books, 2015.
Juhani Pallasmaa, The Eyes of the Skin, Architecture and the Senses. Cornwall, Wiley, 2012.
Matthew Gandy/BJ Nilsen (Hg.), The Acoustic City, Berlin, Jovis, 2014.
R. Murray Schafer, The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester/Vt., Destiny Books, 1977.
- Vgl. Florian Sedmak/Peter Androsch, Hörstadt. Reiseführer durch die Welt des Hörens, Wien, Christian Brandstätter Verlag, 2009, S. 139.
- Ebd., S. 8.
- Vgl. Heiner Stahl, „Klanginseln – Hintergrundrauschen – Selbstmischungen. Der Sound der postmodernen Großstadt“, in: Gerhard Paul/Ralph Schock (Hg.), Sound der Zeit: Geräusche, Töne, Stimmen – 1889 bis heute, Göttingen, Wallstein, 2014, S. 559-563, hier S. 560f.
- Zit. nach Sedmak/Androsch, Hörstadt, a.a.O., S. 157.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
