„Was wäre wenn?“

Ein Bottom-up-Prozess

In der letzten Ausgabe von forum zum Thema „Anthropozän“ haben wir festgestellt, dass die Menschheit angesichts eines möglichen systemischen Kollapses ihr wichtigstes Werkzeug weitgehend zum Erliegen gebracht hat: die menschliche Vorstellungskraft. Dabei bräuchten wir dieses Werkzeug in unserer jetzigen Situation mehr denn je. Die „Was wäre wenn?“-Frage, die Fähigkeit, Dinge so zu betrachten, als ob sie auch anders aussehen könnten, braucht aber einen Rahmen, in dem sie sich entfalten kann.1

Eine Revolution dieser Imagination setzt laut Rob Hopkins, Mitbegründer der Transition-Bewegung, vier Bedingungen voraus: Weite (spaces), Orte (places), Praktiken (practices) und verbindliche Abmachungen (pacts). Erstens zur Weite: Unsere besten Ideen haben wir, wenn wir entspannt sind: etwa im Urlaub oder in der Badewanne. Sie kommen nur selten, wenn wir unter Druck stehen, mit dem Smartphone unterwegs sind oder Mails und Facebook-Benachrichtigungen uns überhäufen. Zweitens brauchen die Menschen geeignete Orte, an denen sie über eine mögliche andere Welt nachdenken können, Orte, an denen ihre Vorstellungskraft wirklich gefördert wird. Das ist in der Regel nicht der Arbeitsplatz und auch nicht die Schule. Drittens brauchen wir neue Praktiken, durch die Menschen dazu ermutigt werden, sich die „Was wäre wenn“-Frage zu stellen. Bei uns in den Transition-Gruppen finden große „Was wäre wenn“-Events in offenen Räumen statt, bei denen Menschen ihrer Vorstellungskraft freien Lauf lassen und träumen können. Viertens können verbindliche Abmachungen, beispielswiese zwischen Gemeinden und Bürgern*innen, dazu beitragen, dass die Menschen ihre guten Ideen mit Geld, Mitarbeit und anderer Unterstützung sichern.

Damit sich die derart losgetretene Energie entfalten kann, sollte die Politik die Entwicklung solcher „bottom-up“-Projekte aus der Bevölkerung zumindest nicht behindern, sondern anerkennen, im Idealfall sogar unterstützen. Das heißt, von Seiten der Politik sollte man den Bürger*innen in den Gemeinden vertrauen, dass sie es schaffen werden, erfolgreich einen Gemeinschaftsgarten oder eine Energiegenossenschaft zu betreiben oder den leerstehenden Laden um die Ecke neu zu beleben. In seinem neuen Buch berichtet Hopkins unter anderem von zwei erstaunlichen Experimenten. In Mexico City etwa hat die Stadtverwaltung vor einigen Jahren das Laboratorio para la Ciudad (Stadt-Labor) ins Leben gerufen, das in jeder Hinsicht ein „Ministerium“ für Fantasie ist und in dem die Bürger*innen zusammenkommen können, um sich experimentell und kreativ über neue Ideen für ihre Stadt auszutauschen.2 Oder das Civic Imagination Office in Bologna, das ausgehend von der Idee einer „kollaborativen Stadt“ (was ein besserer Begriff ist als der vage Terminus Smart City) in einem Neighborhood Lab monatlich zehn öffentliche Treffen organisiert zu Themen wie öffentliche Räume, Bibliotheken, Umweltverschmutzung, Mobilität, Wohlfahrt usw.3 In Luxemburg wird die Transition Plattform und das Luxembourg Center for Architecture ebenfalls das Thema resiliente Stadt mit experimentellen Ansätzen ausloten. Zwei weitere Beispiele aus der gegenwärtigen Praxis in Luxemburg sollen an dieser Stelle illustrieren, wie die „Was wäre wenn?“-Frage konkret umgesetzt werden kann: das Klima-Bürgerforum und der angehende Ernährungsrat.

Das Klima-Bürgerforum

Am 19. Oktober 2019 fand das erste Luxemburger Klima-Bürgerforum statt. Das Hauptziel dieser Versammlung war es, Akteure aus zivilgesellschaftlichen Organisationen und Menschen zusammenzubringen, die bisher noch nicht organisiert aktiv sind. 120 Personen nahmen teil, einige kamen sogar mit ihren Familien, um gemeinsam über die Zukunft des Klimaschutzes in Luxemburg nachzudenken.

Nach der Mobilisierung zahlreicher Bürger*innen im September 2019 während der Climate Action Week war die Klimaversammlung ein Moment der Reflexion und ein Ort, an dem Nichtregierungs­organisationen, Jugendliche, Gewerkschaften und Bürger*innen gemeinsam über das richtige Vorgehen für eine ehrgeizige und faire Klimapolitik diskutierten. Die Einladung wurde von Nichtregierungsorganisationen (Votum Klima), Gewerkschaften (LCGB, FNCTTFEL-Landesverband und OGBL) und Jugendlichen (Youth for Climate) sowie anderen aufstrebenden Bewegungen (wie Extinction Rebellion, Rise for Climate, Green New Deal) gemeinsam unterzeichnet. Dies allein war bereits ein wichtiger Fortschritt, auch wenn die gemeinsame Organisation nicht unbedingt bedeutet, dass alle die gleichen Positionen teilen. Es ging also darum, sich Zeit zu nehmen, um sich über Sicht- und Handlungsweisen und Erfahrungen auszutauschen. Es kamen Menschen mit ganz unterschiedlichen Kenntnissen: Fachleute, Aktivist*innen, Neugierige und Quereinsteiger*innen, Jung und Alt, Gewerkschafter*innen und Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen, Mitarbeiter*innen­ lokaler, nationaler und europäischer Institutionen, Lehrer*innen, Forscher*innen, Heimwerker*innen … Allround-Bürger*innen.

Das Klima-Bürgerforum wurde als Open Space gehalten, eine einfache, aber dynamische Methode, um in einer Gruppe zu arbeiten, in der die Leadership geteilt wird, um Begeisterung, Kreativität, Zusammenarbeit und persönliches Engagement auf den Weg zu bringen. Die Agenda wurde von den Teilnehmenden erstellt. Alle waren eingeladen, die folgende Frage zu beantworten: „Welche Ideen und Aktivitäten möchte ich vorschlagen, um gemeinsam im Sinne eines gerechten und einheitlichen ökologischen Wandels zu handeln?“

Sie erstellten ihre eigene Tagesordnung und eröffneten Diskussionskreise, um ihre Standpunkte auszutauschen. Zu den behandelten Themen gehörten natürlich die Frage der Klimagerechtigkeit sowie der Aspekt der Wirk- und Widerstandsweisen. In diesem Zusammenhang wurden ziviler Ungehorsam, Kreativität im Aktivismus und die Frage, wie systemische Veränderungen erreicht werden können, angesprochen. Wir haben uns auch mit Postwachstum und Postkonsum befasst sowie mit der Überwindung der beabsichtigten Verkürzung der Lebensdauer von Produkten. Darüber hinaus wurde über Landwirtschaft, Tierschutz, Ernährung, Energie, Investitionen, Mobilität und Bildung debattiert.

Die Nachmittagssitzung widmete sich der Entwicklung von Handlungsideen (individuell und kollektiv) und der Schaffung konkreter Pisten, die nach der Klimaversammlung bearbeitet werden sollten. Die vorgeschlagenen Maßnahmen betrafen die Bereiche sanfte Mobilität, Konsum und das Konzept des Buen Vivir (das Gute Leben).4 Ferner ging es um Bewusstseinsbildung bei Kindern durch positive Handlungen, den Schutz des Lebens sowie um die Themen CO2-Steuersysteme, Kampf gegen klimaschädliche Freihandelsabkommen, Sichtbarkeit der (Klima)Bewegung, Governance und Demokratie.

Die Qualität der Debatten und des bürgerschaftlichen Austauschs sowie das Niveau der erarbeiteten Vorschläge gaben Vertrauen in ein Format, in dem Bürger*innen zu Akteuren des Wandels werden, einem Wandel, den sie gemeinsam aufbauen. Proaktiv sein, testen, verbessern, vorankommen und der Klimakrise begegnen, Erfolge feiern, Misserfolge erkennen, sich austauschen und gemeinsam vorankommen – das alles konnten wir an diesem Tag erleben. Das Modell des Bürgerforums soll in Zukunft wiederholt werden. Dabei wollen wir noch intensiver einladen, damit noch mehr Mitglieder unserer Gesellschaft erreicht, angesprochen und zur Mitarbeit bewegt werden können.

Ernährungsdemokratie jetzt!

Im deutschsprachigen Raum werden Ernährungsräte zunehmend als innovatives Werkzeug für eine Ernährungs- und Agrarwende erkannt. Ernährungsräte gibt es inzwischen aber auch in vielen anderen Ländern. Vorreiter in Deutschland waren Köln und Berlin, es folgten weitere Städte – darunter Dresden, Frankfurt/Main, Hamburg, Kiel, München usw. In einer ganzen Reihe von – auch kleineren – Städten sind engagierte Menschen und Institutionen damit beschäftigt, sich zu organisieren und die Idee eines Ernährungsrats voranzubringen, um Ernährungssouveränität in ihrer Stadt zu „leben“. Viel ist in Bewegung gekommen – bis zu 40 Initiativen sind im deutschsprachigen Raum aktiv und treiben ihre eigenen Gründungen voran.

Aber was genau ist ein Ernährungsrat? Die Idee stammt aus Nordamerika, nennt sich dort food policy council und existiert auf breiter Ebene seit Anfang der 1990er Jahre in nahezu jedem Ballungsraum. Das Konzept wurde in den letzten Jahren auch in Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden übernommen. Nachdem nicht wenige Städte 2015 den Milan Urban Food Policy Pact unterschrieben und sich damit zu einer nachhaltigeren Ernährung in den Städten verpflichtet hatten, kam der Gründung von Ernährungsräten eine noch größere Bedeutung zu. Viele Verbraucher*innen, aber auch Profis aus dem Ernährungssektor wünschen sich eine Wende in der Landwirtschaft und der Ernährung. Der Druck auf die Kommunen steigt, und Ernährungsräte können durch die Bündelung und Vernetzung der Initiativen, NGOs und anderer relevanter Akteure in ihren Städten einen Beitrag leisten. In den meisten Ernährungsräten arbeitet die Verwaltung mit Organisationen aus der Zivilgesellschaft zusammen. Die Zusammensetzung und Rechtsform ist aber unterschiedlich, in einigen Kommunen nimmt solch ein Rat die Form eines Gremiums der Stadtverwaltung mit klaren Aufgaben und Kompetenzen an, die ihm vom Stadtparlament verliehen werden, in anderen ist er unabhängig und wirkt eher beratend. Im Gegensatz zur gängigen Ernährungspolitik auf Landes-, Staats- oder EU-Ebene, die in die Bereiche Landwirtschaft, Wirtschaft, Gesundheit, Erziehung und Umwelt aufgeteilt ist, möchten Ernährungsräte eine integrierte, übergreifende „Ernährungspolitik“ auf regionaler und kommunaler Ebene umsetzen. Sie ermöglichen also einen aktiven Dialog zwischen Politik, Verwaltung, Erzeuger*innen, Vertrieben und Verbraucher*innen, aber auch mit der Forschung und der Zivilgesellschaft, um auf diese Art und Weise langfristig und nachhaltig die Strukturen einer regionalen Lebensmittelversorgung zu stärken.5

In Köln zum Beispiel, wo 2016 der erste deutsche Ernährungsrat gegründet wurde, besteht das Ziel in der Ausarbeitung einer langfristigen Ernährungsstrategie, die einer messbaren Zielsetzung folgt. Diese messbaren Ziele sollen innerhalb der Ausschüsse themenspezifisch ausgearbeitet und festgelegt werden. Der Rat setzt sich dort aus ca. 30 Mitgliedern zusammen, von denen ein Drittel aus der Verwaltung, ein Drittel aus der Wirtschaft (Landwirtschaft, Handel, Gastronomie etc.) sowie ein Drittel aus der Zivilgesellschaft kommt. Ferner gibt es themenspezifische Arbeitsgruppen resp. Ausschüsse, deren Mitglieder Landwirt*innen, Erzeuger*innen, Lebensmittelverarbeiter*innen oder -vertriebler*innen, Gastronom*innen, Mitglieder von Initiativen, Verwaltungsangestellte, Politiker*innen oder engagierte Privatpersonen sind.

Im Herbst 2019 haben CELL und die Universität Luxemburg fast 60 Vertreter*innen aus Zivilgesellschaft, Verwaltung und Politik sowie der Privatwirtschaft eingeladen, sich ein Bild des Kölner Projektes zu machen. So kamen vor Ort in Köln etliche Gespräche zwischen Akteuren zustande, die sich normalerweise nicht über den Weg laufen würden. Die Idee eines luxemburgischen Ernährungsrats wurde 2018 schließlich anläss­lich der Transition Days in die Runde geworfen – und als Konzept im aktuellen Regierungsprogramm 2018-2023 verankert (S. 196). Hier dürfen wir uns auf eine neue Dynamik freuen, die hoffentlich alle Akteure der Ernährungskette zusammenbringen wird – mit den lokalen Akteuren aus Politik und Verwaltung, Bildung, Forschung, Zivilgesellschaft, Produktion, Verarbeitung, Catering und Konsum.

  1. Rob Hopkins, From What Is to What If: Unleashing the Power of Imagination to Create the Future We Want, White River Junction/London, Chelsea Green Publishing, 2019.
  2. https://www.robhopkins.net/2018/10/03/gabriella-gomez-mont-imagination-is-not-a-luxury (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 17. Dezember 2019 aufgerufen).
  3. https://www.robhopkins.net/2019/03/04/michele-dalena-on-bologna-the-city-with-a-civic-imagination-office
  4. Das Konzept des Buen Vivir (das Gute Leben) beruft sich auf Wertvorstellungen und die Philosophie der indigenen Kulturen der Andenländer. Es versteht sich als alternatives Entwicklungskonzept, welches die westlich geprägten Vorstellungen von Fortschritt und Wohlstand sowie die vorherrschenden Entwicklungsmodelle in Frage stellt.
  5. Siehe http://www.ernaehrungsrat-koeln.de

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