Während der ersten drei Monate der Coronakrise, und zwar vom 11. März bis zum 15. Juni, hielt Premierminister Xavier Bettel 13 Pressekonferenzen, trat sechs Mal vor das Plenum der Abgeordnetenkammer und sprach ein Mal vor seiner Partei. Es ging bei jedem dieser Auftritte darum, die Vorschläge seiner Regierung zur Eindämmung der Pandemie und dann später den Exit aus diesen Maßnahmen vorzustellen, um sich anschließend den Fragen der Parlamentarier oder der Presse zu stellen. Von Seiten seiner Parteimitglieder gab es keine Fragen. Über den Internetauftritt der Regierung, YouTube, RTL und Radio 100,7 wurden die Auftritte vor der Presse breit angekündigt und dann integral im Internet, im Fernsehen und im Radio übertragen. Die Auftritte vor der Abgeordnetenkammer wurden ebenfalls integral direkt von ChamberTV übertragen. Die hohe Anzahl dieser Verlautbarungen in einer Zeit des extremen und nie dagewesenen Drucks auf den Premier, die Regierung, den Staatsapparat und die ganze Gesellschaft, stellt einen breiten Korpus dar, der sich in Wortlaut, Intonation und Gestik für eine spezifische Analyse des politischen Habitus und Weltbildes des Regierungschefs eignet, die daraus genauer hervorscheinen.
Das Ritual
Die Pressekonferenzen finden zu Beginn der Krise noch de visu vor den Journalisten statt. Ab dem 18. März und bis zum 4. Mai aber werden sie aus sanitären Sicherheitsgründen nur noch vor einem Vertreter im Livestream abgehalten, dem die anderen Presseorgane ihre Fragen elektronisch zukommen lassen. In anderen Worten: Die Szenerie ist a priori denkbar statisch und auf die vortragende und in die Kamera blickende Person, in dem Fall den Premier, zentriert. Da diese Pressekonferenzen direkt und integral übertragen werden, wendet sich der Premier indirekt an die Presse, aber direkt ans zuschauende Volk.
Sehr schnell geraten diese Auftritte zum Ritual. Der Premier betritt eilenden Schrittes den Raum, ist, nachdem er sich vorm Mikrophon platziert hat, bis zum 15. April in der Regel atemlos, öffnet groß die Augen, die etwas mitteilen vom Ernst der Lage, dem in der Luft liegenden Schrecken, der Sorge um die Menschen, der Anstrengung, für sie da zu sein in den Zeiten des Notstands, und in seine ersten Sätze, die sich nur langsam bilden, mischt sich noch das Ringen nach Luft und Worten. Bis er schließlich in Gang kommt.
Der Aufbau seines Vortrags folgt dann einem einfachen redundanten Schema. Zuerst kommt die Feststellung, dass die Lage ernst sei, die Gefahr groß und die Eindämmung des Virus nicht ohne das Zusammenspiel der Maßnahmen und Verordnungen und Empfehlungen der Regierung einerseits, deren Absegnung durch ein informiertes Abgeordnetenhaus und deren Befolgung durch die Bevölkerung andererseits erfolgen könne. Noch sei der Kampf nicht gewonnen, man könne die Disziplin nicht auflockern, es sei denn, man wolle alles vorher Erreichte vernichten. Dann geht der Premier dazu über, die von der Regierung beschlossenen Maßnahmen vorzustellen. Kaum hat er einen Punkt erwähnt, macht er einen Exkurs, bedankt sich bei Pflegern, Beamten, Freiwilligen und anderen Berufsgruppen oder Spitälern, die er gerade besucht hat, kommt auf die Verhaltensempfehlungen in Sachen Abstandsregeln, Mundschutz, Händewaschen, Treffen unter Menschen, Ausgang usw. zu sprechen. Geht es um diese alltäglichen Verhaltensregeln, beschleunigt sich sein Wortfluss, überschlägt sich die Stimme, und er wippt dann, als wolle er die Wichtigkeit von deren Befolgung gestisch unterstreichen, mit dem Oberkörper, hält die Hände parallel und sticht mit ihrer Kante in die Luft oder ballt sie zur Faust – und beide Fäuste schlagen immer wieder gegen die Brust, den Zuschauern andeutend, dass all diese Empfehlungen auch von Herzen kommen, für sie, deren Schützer er von Anfang an sein will. Denn schon am 11. März ist das eigene Selbstverständnis geklärt: „Ech wäert et als Regierungschef net akzeptéieren, datt een d’Bevölkerung net schützt wéinst de Suen.“
Diese Eindringlichkeit, Aufregung und steigende Lautstärke der mantrahaften Wiederholung der Verhaltensregeln bei quasi jedem Auftritt vor Parlament oder Presse, und dies mehrmals während eines Auftritts, ist eines der bemerkenswertesten Momente der Verlautbarungen des Premiers. Ebenso die Detaillastigkeit, wie man sich in der Schlange „im Cactus, Entschuldigung, in einem Supermarkt“ – diese Zurücknahme der Gratiswerbung wird mit dem ihm eigenen Grinsen quittiert – verhält, wie man das 4G-Netz durch den Rückgriff auf WLAN entlasten kann, und später, als Ende Mai neue Öffnungen angekündigt werden, wie man sich im Restaurant, im Café und sogar bei der Messe benehmen soll.
Deutungsansätze
Durchkämmt man alle seine Auftritte vor Parlament und Presse, so merkt man, dass dem Premier die Ankündigungen von Einschränkungen schwerfallen. Die Sprache schreibt vor, ja verschreibt den Weg zur Nichtansteckung. Der Körper aber entschuldigt sich für die Zwänge, die dem Gegenüber zugemutet werden. Der Politiker, zudem ein Liberaler, was er immer wieder unterstreicht, der seine Popularität seiner auch physischen, fast fusionellen Nähe zu gewissen Teilen der Bevölkerung verdankt, der vor der Krise kein Fest scheute und seine leutselige Vitalität in tausenden Selfies mit Fans verewigt hat, ist in eine Rolle geraten, die ihm ferner kaum liegen kann, aus der er aber nicht herauskommt: Er muss normativ tief ins Leben der Menschen eingreifen in einer Sache, wo es um Leben und Tod von sehr vielen geht. Transparenz aber ist weder seine Stärke, noch die seiner Regierung. Von der Vorsitzenden des Presserates, Ines Kurschat, muss er sich in einem Beitrag zur Juninummer dieser Zeitschrift den Vorwurf gefallen lassen, er und seine Leute hätten „ein zutiefst paternalistisches Politikverständnis, das die Mündigkeit der BürgerInnen untergräbt“.
Nachdem die Maßnahmen und Empfehlungen der Regierung gegriffen haben, und die Zahl der Toten und der Infizierungen sich in Grenzen gehalten hat, wird Bettel Mitte April wieder selbstsicherer. Dennoch, als er am 17. April vor der Chamber die ersten Lockerungsmaßnahmen ankündigt, tut er das in einem Ton, als ob er sich für alles entschuldigen müsste, was war und sein wird, und mahnt wieder in beschleunigtem Redefluss zu jeder denkbaren Vorsicht, damit die vorgeschlagenen Maßnahmen auch nicht fehlschlagen. Sein ganzes Auftreten an diesem Tag ist ein einziges Drama ohne Höhen und Tiefen, ein gestisch verstärktes eindringliches Reden, das sich zeitweise nicht an die Abgeordneten, sondern wieder direkt an die Bürger richtet, auch hier mit langen Erklärungen, wie der Mundschutz zu tragen ist, wie schwer dies sei, als säße die ganze Bevölkerung an des Hirten Tisch. Schon am 23. März hatte Christoph Bumb in einer Analyse bei reporter.lu geschrieben: „Luxemburgs Premier tritt in diesen Tagen (…) wie ein Regierungschef, Pressesprecher, Oberlehrer, Chefarzt und Seelsorger in einer Person auf.“ Er hat bis jetzt Recht behalten.
Hochpolitisch Unpolitisches
Eine Balance in der Ausübung seiner institutionellen Rolle als Premier hat Bettel in den ersten drei Monaten der Krise nie gefunden, wie sein stark emotionalisiertes, polymorphes und politisch archaisches, weil Grenzen zwischen Rollen verwischendes Auftreten zeigt. Das wird vom gefühlten Zusammenrücken aller gegenüber der Gefahr noch bestärkt. Am 17. März, als er vor der Chamber seinen Aufruf zum Zuhausebleiben vorträgt, bedankt er sich bei den Abgeordneten für „die konstruktiven, die unpolitischen, die Suggestionen, die gekommen sind, für den Ton, der gefunden worden ist, das beweist, dass wir die Stärke haben, in Luxemburg zusammenzuhalten.“ Am 21. März, bei der Abstimmung über das Notstandgesetz, erklärt er, dass es in der gegenwärtigen Lage keinen Platz für Parteipolitik gebe, sondern dass ein verantwortliches Zusammenhalten angesagt sei. „Es gibt keine Mehrheit, es gibt keine Opposition, es gibt eine Union nationale.“ Unbewusst ganz in der Linie, die ihm seine Berater, wenn er sie um ihren Rat gebeten hätte, hätten ausreden müssen, des legendären Spruchs von Kaiser Wilhelm II. bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche!“
Am 17. April, als das Parlament über die Strategie der Lockerungsmaßnahmen debattiert, will Bettel immer noch die Politik außen vor lassen und von allen getragen werden. Es lohnt sich, hier den Originaltext zu zitieren, weil er, wie schon oben, auch hier illustriert, dass dann, wenn er sich auf glattes Eis begibt, dem Premier, wenn schon nicht der Sinn seiner Aussage, dann doch deren Grammatik, gerne aus dem Ruder gerät. „Anticipéiere kënne mer nëmme, wa mer zesummenhalen. Mir hunn et fäerdeg bruecht bis haut, datt hei an der Chamber een dës Kris net als Opportunité politique gesinn huet, mee als Chance, all zesummen ze beweisen, datt wann et ëm d’Sécherheet vun eise Bierger geet, ëm d’Zukunft vun onsem Land geet, wann et drëm geet, Muer ze schreiwen, net op politescher Art a Weis, mais op mënschlecher Art a Weis, wéi mer kënnen zesumme schaffen hei zu Lëtzebuerg, an dat ass eng Chance, déi mer hunn, an eis Stäerkt.“
Als Bettel dann im Mai merkt, dass nicht mehr alles so unpolitisch abläuft und die Opposition nicht mehr alles so hinnimmt, wie es serviert wird, erklärt er in seiner Pressekonferenz vom 20. Mai, wo er mit Bart und einem kragenlosen Hemd ohne Krawatte ziemlich geschafft auftritt: „Es ist wichtig, den Zusammenhalt, den wir hatten, wenn auch nicht mehr diesen Konsens, aufrecht zu erhalten. Es ist hier nicht so, dass die Regierung sagt, hier ist ein Text, und wir haben 31 Stimmen, und es ist egal, was die Opposition sagt. Das ist nicht unsere Haltung. Ich werde darauf achten, dass wir einen Text haben qui aura le plus grand support possible (auf Frz. wie im Original) in der Chamber.“ Das wird ihm einen Monat später nicht gelingen.
Demütigung des katholischen Gegners
Xavier Bettel ist nämlich die ganze Krise lang derselbe geblieben, und seine Agenda auch. In vielen Fragen ist er trotz Flehen, Gefühlsduselei, Tremolos und dem Beschwören des Unpolitischen noch härter in der Sache geworden und ebenso noch härter mit seinen bockigen, aber meist peilungslosen Gegnern umgegangen, als dies vor der Krise der Fall war.
Die Plenarsitzung der Kammer am 7. Mai dürfte der Moment sein, an dem der politische Waffenstillstand ausläuft. In dieser Sitzung werden die ersten Auflockerungen in den Bereichen Gesellschaft, Sport und Kultur angekündigt. In der darauffolgenden Diskussion reagiert Bettel zuerst gereizt auf die Vorwürfe der Opposition, es gäbe nicht genug Dialog über das Pandemiegesetz, das nach dem Auslaufen des Notstands in Kraft treten soll. Er versucht auszuweichen und spricht mit viel Pathos von dem Engagement und der Empathie der Belegschaft des gemeindeeigenen Escher Klinikums CHEM, die er gerade erst gesehen hat. Als die Fraktionschefin der CSV, Martine Hansen, u. a. von ihm erfahren will, wann die Kirchen aufgehen, weil davon in seinem Vortrag nicht die Rede gewesen sei, ruft er von seinem Platz: „Wie konnte ich das nur vergessen?!“ Der schnippische Unterton ist nicht zu verkennen. Er antwortet dann, dass er sich schon „mit einer Kultusgemeinschaft“ getroffen habe und auf die Vorschläge der anderen warte. Zum Schluss lässt er es sich nicht nehmen, darauf hinzuweisen, dass es eine Kultusgemeinschaft in Mulhouse gewesen sei, die zu einem Infektionsbeschleuniger für ganz Frankreich geworden sei. Marc Spautz von der CSV ruft sarkastisch dazwischen, dass er nicht gewusst habe, dass Ischgl eine Religionsgemeinschaft sei. Bettel ruft postwendend dem Ex-Minister zurück, er habe mehr Respekt für die Kultusgemeinschaften als dieser. „Sie haben Sie abgeschafft!“, hallt es polemisch zurück. Und dann fällt Bettels Definition der Kultusgemeinschaften: „Dat sinn Etablissementer, déi Public empfänken!“. Atmosphère, atmosphère !
Das ist, was an nicht nur monatelang unterdrücktem Groll bei einer aus den Entscheidungen ausgeschlossenen, zudem kraft- und konzeptlosen, schlecht aufgestellten und daher in belanglose Scharmützel verwickelten CSV-Opposition bis an die Oberfläche gestiegen ist. Bald erfährt die an dieser verfassungstechnisch heiklen Sache doch recht desinteressierte Öffentlichkeit, dass das Staatsministerium für die katholische Kirche, die gerade virtuell die Oktave „feiert“, in Sachen Lockerungs- und Sicherheitsmaßnahmen nicht erreichbar sei, um über ihre vor allem an den deutschen Bistümern sich anlehnenden Vorschläge zu diskutieren. Man warte eben auch auf die Vorschläge der anderen Gemeinschaften, heißt es, die, kleiner und organisatorisch ziemlich überfordert, nicht so schnell liefern könnten. Aber dieses Antichambrieren-lassen hat auch etwas Demütigendes, das Bettel, nicht nur im Überrumpeln der Katholiken schon sehr geübt, voll ausnutzt, um dem früheren historischen Erzfeind seines politischen Lagers, der längst am Boden liegt, noch einmal seinen Status der offenbar gewordenen gesellschaftlichen Irrelevanz spüren zu lassen. Die Klage des Kardinals, die Kirche sei der Regierung „egal“, und seine Brandpredigt zum Abschluss der Oktave verhallen, einige Medien ausgenommen, in einem Meer von Gleichgültigkeit.
Am 20. Mai sind die Kultusgemeinschaften dann wieder der „letzte Punkt“, den Bettel bei einer Pressekonferenz behandelt. Er wehrt sich gegen den Vorwurf, der Regierung seien die Cultes egal. „Wenn sie (die Cultes, d. Verf.) ihr egal gewesen wären, dann hätte sie (die Regierung, d. Verf.) nichts gesagt, und macht alles ruhig weiter“, erklärt er fahrig, ein wenig kindisch, als ob eine Regierung überhaupt solch rechtsfreie Räume nach eigenem Gutdünken dulden könnte. Inzwischen sind alle Vorschläge der Kultusgemeinschaften in Sachen Lockerungsmaßnahmen eingetroffen, informiert er, und räumt ein, die Regierung wisse, „wéi schwéier et ass, wann een am Fong d’liberté religieuse an d’liberté d’exercer sa religion limitéiert.“ Diese Aussage wird aber sofort vom Premier relativiert: „Awer ech wëll drun erënneren, datt mer d’liberté de manifestation och limitéiert hunn. Am Fong ee vun deene Rechter, di et am schwéiersten ass ze akzeptéieren, am Fong limitéieren, nämlech deen ween een dierf gesinn.“ Und schon hat er sich mit dieser empathisch klingenden Tartüfferie aufs Glatteis begeben, und wieder entgleitet ihm die Grammatik, und er erfindet – er ist immerhin der Regierungschef und müsste sich hier umsichtig und juristisch verbindlich ausdrücken – flugs ein neues Menschenrecht, nämlich die Menschen zu sehen, die man sehen will.
Erst anlässlich der Pressekonferenz vom 25. Mai steigt der „weiße Rauch“ auf, den Bettel am 20. Mai, ironisch und klar auf die Katholiken bezogen, in Aussicht gestellt hatte. Er gibt nun die kultusbezogenen Lockerungen bekannt, aber wickelt sie so ein, dass das Ganze „unter ferner liefen“ erwähnt wird, wenn auch unter der an sich durchaus vernünftigen Regel, dass Ereignisse in Binnenräumen mit mehr als 20 Teilnehmern nur dann stattfinden werden, wenn dies mit zwei Metern Abstand gewährleistet werden könnte. Und dann spricht er einen Satz aus, der das Konzentrat seines Weltbildes ist: „Dat kënne Manifestatioune sinn am Kader vun der Kultur, dat kënne Kongresser sinn, dat kënnen och d’Culte sinn, de Sport sinn, dat kann de Kino sinn.“
Alles ist gleich gültig
„Tout se vaut“ in Bettels ultraliberalem Bild einer Gesellschaft, in der zivilstandneutrale und eigenschaftslose Individuen sich, wenn sie nur wieder dürfen, auf Handlungen einlassen sollen, die dem Staat in ihrer Wertigkeit vollkommen gleich gültig sind, und Verbindungen eingehen sollen, die nur noch in der Aussicht auf ihre Lösbarkeit konzipiert sind. Bettels ideale Welt vor und nach Corona ist eine, in der auf sich gestellte Individuen, also nicht Bürger, in der Scheinfreiheit des Unverbindlichen auf den schwachen Wellen immer neu sich bietender Gelegenheiten putzmunter und lächelnd durch ihre Lebenszeit surfen. Diese Welt unterliegt nur einer Art von Verbindlichkeiten: den gesetzlich abgesicherten wirtschaftlichen, deren Zwänge soweit wie möglich kein explizites Thema sein sollen.
Die vom Premier immer wieder hochgepriesene Solidarität war aus dieser zeitlichen Perspektive her gesehen ein Zwischenspiel. Eine Überlegung, von wo sie historisch kommt, wie sich dieses zivile Kapital in Einrichtungen und Verbänden über einen sehr langen Zeitraum aufbauen konnte, wurde nie angestellt, und wenn, dann so, als ob sie der Luxemburger Gesellschaft und ihren kleinen Verhältnissen quasi wesenhaft sei. Bettels ultraliberales Weltbild erklärt zum Teil auch die viszerale Ablehnung einer Corona-Warn-App durch den Premier, der, Stand Anfang Juli bestenfalls bereit ist, einem möglichen europäischen Druck nachzugeben, wenn das Fehlen einer solchen App die Bewohner Luxemburgs am Reisen jenseits der Grenzen behindern würde oder das analoge Tracing materiell nicht mehr zu leisten wäre, weil die Neuinfizierungen zu rasch gestiegen wären.
Nichts Neues unter Xaviers Sonne
Hart ist Bettel auch geblieben in Sachen Steuerpolitik. Die Nichtbesteuerung der für einen Luxemburger Arbeitgeber geleisteten Telearbeit durch Grenzgänger vom Territorium ihres Wohnsitzlandes aus, und dies inzwischen bis Ende August 2020, ist eine bedeutsame Konzession von Luxemburgs Nachbarn, die darin unter den Umständen der Pandemie eine Win-Win-Lösung sehen. Dennoch steht die Frage steuerlicher Rückführungen im Raum, optimal im Rahmen einer grenzübergreifenden regionalen Entwicklungspolitik. Neue Akteure wie der Präsident des Département Meurthe-et-Moselle, seit dem 28. Juni frisch gewählter Bürgermeister von Nancy, Mathieu Klein, der Ende Mai im Le Quotidien von der Notwendigkeit einer „relation adulte“ mit Luxemburg im Rahmen eines „territoire commun“ sprach, versuchen die Problematik auf ein angemessenes Niveau zu hissen und ihr eine wahre Dauerhaftigkeit zu verleihen.
Aber als am 20. März schon die Wochenzeitung woxx wissen will, ob die Luxemburger Regierung Frankreich oder Deutschland angeboten hätte, ihnen in Sachen grenzübergreifender Fiskalität entgegenzukommen, um zu garantieren, dass das medizinische Personal weiter nach Luxemburg kommen könne, war die Antwort Bettels unmissverständlich negativ, wenn auch nicht ganz klar in der Ausführung: „Es ist jetzt nicht der Moment zu sagen, dass wenn wir euch mit einer gewissen Flexibilität entgegenkommen, wir erwarten, dass alles in puncto Fiskalität über den Haufen geschmissen werden sollte. Wir sind noch immer bereit, mit ihnen verschiedene Projekte in der Großregion durchzuziehen. Das wissen sie auch, und das ist, was wichtig ist, dass wir das weiter als Linie haben, und das haben wir mit den verantwortlichen Politikern, unseren Gesprächspartnern, festgehalten.“ Es bleibt also bei den Almosen, die 2018 beim Staatsbesuch in Frankreich festgehalten wurden, wenn es 2020 darum geht, die Loyalität der Grenzgänger und das Verständnis der Nachbarländer in bare gemeinsame Regionalentwicklung umzusetzen. Klein(lich), gierig, unersättlich, so gestaltet sich unter Bettels Regie das Image des Landes in einer Großregion, auf die es angewiesen ist.
Am 20. Juni lässt Xavier Bettel bei RTL auch die Katze aus dem Sack in Sachen Steuerreform, die die jetzige Regierung unter dem Motto der Steuererleichterungen, der Individualisierung und des Kampfes gegen Steuermissbrauch („Abus“ im Text) durchziehen will. Trotz der Krise sei diese Reform „nicht abgesagt“. Aber sie werde ein wenig anders verlaufen als vorgesehen. „Bei Erleichterungen wird’s schwer werden“, meint der Premier, denn „nach der Staatsanleihe geht diese Rechnung nicht auf“. Sie würden „geringer ausfallen als ohne die Krise“. Es werde keine Steuererhöhungen geben, aber die Individualisierung treibe man voran. Was im Klartext heißt, dass die Alleinerziehenden und -lebenden kaum was merken werden, wo doch ihre Situation zu verbessern der erste Vorwand und ein Zweck der Übung sein sollte. Die Verheirateten aber und die eingetragenen Partnerschaften, also die Leute, die einen höheren Grad an gegenseitigen rechtlichen Verbindlichkeiten für sich und ihre Ab- und Nachkommenschaft eingegangen sind, und hier besonders die, deren Kinder schon aus dem Haus sind, müssen mit massiven Steuererhöhungen rechnen. Irgendeiner muss ja die Rechnung bezahlen, solange es nicht der Finanzplatz ist, der schon das Monopol der Staatsanleihe bekommen hat und sich auch auf dem Privatwohnungsmarkt des Landes wegen der konkurrenzlosen Steuervorteile auf Kosten der wohnungssuchenden Bürger mehr denn je bedient, oder die durch die Krise zweifellos schwer angeschlagenen anderen Betriebe, die niemand schwächen will.
Nur wird es so nicht gesagt. Es sollen, so der Premier väterlich wohlmeinend, die Partner, wenn einer wegfällt, „nicht bestraft“ werden. Das sei „moderner“. Ganz im Sinne seines Bildes einer Welt der Unverbindlichkeiten oder der auf ihre Auflösung ausgerichteten Verbindlichkeiten, in der alles gleich gültig ist, ein wenig so wie die Dramatik ohne Höhen und Tiefen in seinem langen, inflationären Redefluss, der jedes Wort abwertet, das in seinen Sog gerät, nur nicht die zu erbringende Leistung.
Wie fordernd bis autoritär aber sein ureigenes Weltbild sein kann, zeigt Bettels sehr ichbezogener, voluntaristischer, vor allem aber metaphorisch durchaus elaborierter, grammatikalisch sauber aufgebauter Spruch beim Digitalkongress seiner Partei am 15. Juni, den Radio 100,7 am nächsten Morgen übertrug: „Ech wëll net de Premierminister si vun engem Land, wou mer de Leit eng Matt ginn a hinne soen: hei leet iech drop a pennt. Ech wëll de Premierminister si vun engem Land, wou mer de Leit soen: hei ass en Trampolin, an elo spréngs de nees, an elo spréngs de méi héich!“ In die redundante Welt vom Trampolin-Mann passen am besten jene, die nach seiner Pfeife springen und dabei gut gelaunt sind.
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