- Kino
Zukunft vs. Gegenwart vs. Zukunft: „Tenet“ von Christopher Nolan
★★★☆☆
(Yves Steichen) Für die pandemiebedingt schwer angeschlagene Kinobranche ist es ein Lichtblick: Nach langem Hin und Her startet Christopher Nolans elfte Spielfilmarbeit mit dem enigmatischen Titel Tenet nun doch in den Kinos – in Europa sogar früher als in den USA. Auf der Blockbusterproduktion (mit einem geschätzten Budget von 205 Millionen US-Dollar) lasten dabei enorme Erwartungen: Sie soll nicht nur ihre eigenen horrenden Kosten wieder einspielen, sondern auch, inmitten der Kinokrise, Scharen von Zuschauer*innen wieder in die existenzgefährdeten Lichtspielhäuser locken. Schlägt dieses Wagnis fehl, dürften weitere Filmverleiher dem Beispiel von Disneys Live-Action-Adaptation Mulan folgen, und teure Großproduktionen vorzugsweise auf Streaming-Plattformen, die unbestritten zu den großen Gewinnern der Covid-19-Krise zählen, veröffentlichen. Das extensive Marketing, das den Kinostart von Tenet begleitet, setzt derzeit jedenfalls alles daran, den Film zum unbedingten Must-See des Kinojahres 2020 hochzustilisieren.
(c) Warner Bros. Pictures
Ob ausgerechnet Nolans ambitionierte wie sperrige Genremixtur aus Spionage- und Science-Fiction-Thriller – in der ein namenloser Held, der nur „der Protagonist“ (John David Washington) genannt wird, in einen Konflikt zwischen Gegenwart und Zukunft gerät und die Welt vor dem Untergang durch Zeitmanipulation bewahren muss –, dazu in der Lage ist, wird sich in ein paar Monaten zeigen; objektiv und von jeglicher Erwartungshaltung losgelöst betrachtet, fehlt Tenet jedoch die erzählerische Stringenz und Durchschlagskraft früherer Nolan-Werke.
In der öffentlichen Wahrnehmung dürfte Christopher Nolan zu den wenigen Regisseur*innen gehören, deren Namen selbst bei gelegentlichen Kinogänger*innen Assoziationen an bestimmte Filme (bzw. Themen) erweckt – immerhin gilt der britisch-amerikanische Autor und Regisseur als Filmemacher, der spektakuläre Mainstreamunterhaltung in vergleichsweise komplexe Plotstrukturen kleidet, die dem Publikum einiges an Konzentration abverlangen. Diesen Ruf als Auteur und Handwerker (das gar nicht so abwertend gemeint ist, wie es sich möglicherweise liest) zementierte Nolan zunächst mit Filmen wie Memento (2000), später mit Inception (2010), Interstellar (2014) und Dunkirk (2017), in denen metaphysische Themen wie Träume, das Unterbewusste oder die Relativität der Zeit zwischen knalligen Actionszenen mitverhandelt wurden, oder sogar das Konzept des Films ausmachten.
(c) Warner Bros. Pictures
Auch in Tenet dreht sich wieder alles um die Zeit, um ihre Wahrnehmung und die (filmischen) Möglichkeiten ihrer Dehnbarkeit und Manipulation.
Dabei beginnt alles zunächst noch recht linear: Ein Opernhaus in Kiew wird von Terroristen überfallen. Eine russische Spezialeinheit startet einen Befreiungseinsatz, an dem sich auch der namenlose „Protagonist“, hier noch als CIA-Agent, beteiligt. Der „Protagonist“ kann zwar das gesuchte Objekt, einen (vermeintlichen) Behälter mit Plutonium, sichern, wird aber anschließend gefangengenommen, gefoltert und tötet sich mit einer (ebenfalls vermeintlichen) Giftkapsel selbst. Kurze Zeit später erwacht er zur seiner eigenen Überraschung auf einer Fähre vor der dänischen Küste und wird darüber in Kenntnis gesetzt, dass er von einer Geheimorganisation rekrutiert wurde und fortan die Welt retten soll: „All I have for you is a word: Tenet. It will open the right doors, some of the wrong ones too“, heißt es von seiner Kontaktperson. Im Visier steht der Waffenhändler und Oligarch Andrei Sator (Kenneth Branagh), der über eine Technologie aus der Zukunft verfügt, welche es ihm ermöglicht, Objekte und Personen zeitlich zu invertieren, sie also „rückwärts“ durch Raum und Zeit zu navigieren, während sich die Zeit für alle anderen, die Nicht-Invertierten, weiterhin „vorwärts“ bewegt. Der Zugang zu Sator soll über dessen entfremdete Ehefrau Kat (Elizabeth Debicki), eine Kunstexpertin, erfolgen, Hilfe erhält der „Protagonist“ dabei von seinem britischen Mitstreiter Neil (Robert Pattinson). Nach dem offensichtlichen Vorbild der 007-Filme spüren beide Sator von Mumbai über Oslo, Tallinn und Sibirien auf unterschiedlichen Kontinenten nach, und erfahren bei jeder Etappe mehr über die Inversions-Technologie und ihre Möglichkeiten, die Menschheit zu vernichten…
(c) Warner Bros. Pictures
Tenet ist in vielerlei Hinsicht ein Schaulaufen typischer Nolan-Trademarks, den positiven wie negativen. Da wären auf der einen Seite die mit großem technischen Aufwand, visueller Raffinesse (Kamera: Hoyte van Hoytema) und in echten Sets gefilmten Actionszenen, denen, auch dank des donnernden Scores von Ludwig Göransson, eine beispiellose Energie und Kinetik innewohnt – der abstrakten Thematik zum Trotz fühlt sich Tenet in den Actionszenen „echter“ an als das Gros konkurrierender Materialschlachten. Positiv hervorzuheben ist auch das multikulturelle Schauspielensemble aus Nolan-Veteranen und neuen Gesichtern. Überhaupt macht der Film kein Aufheben um ethnische Herkunft und Identität seiner Figuren – diese klischeebefreite Selbstverständlichkeit und Akzeptanz täte auch anderen Mainstreamfilmen gut. Zu bemängeln gibt es aber auch in Tenet wieder ellenlange Exposition-Szenen, in denen Figuren wortreich den Plot bzw. die Regeln des filmischen Universums erklären, eine ermüdende Fülle an MacGuffins, die mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten, sowie schablonenhafte, emotional losgelöste Charaktere ohne psychologische Ambiguität, die ihr seelisches Innenleben zwar betont gerne verbalisieren, das Publikum aber nichtsdestotrotz eher kaltlassen.
(c) Warner Bros. Pictures
In Tenet stellt Christopher Nolan erneut unser Verständnis von Zeit als Einheit, die in der Regel „nach vorne“ strömt, in Frage – dadurch, dass „die Zukunft“ aus sich heraus „die Gegenwart“ angreift, und diese sich wehrt, fließt die Zeit in Tenet in wechselseitigen Bewegungen vorwärts und rückwärts gleichzeitig, manchmal sogar innerhalb ein- und derselben Einstellung. Die Deutungshoheit über die Zeit wird zur Deutungshoheit über die gesamte Menschheit.
So faszinierend sich dieses Grundkonzept in der Theorie anhört, so enttäuschend ist die erzählerische Umsetzung davon im Film selbst. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen gelingt es Nolan (bis auf wenige Momente) dieses Mal nicht, das Publikum emotionell in das Geschehen zu involvieren – die gewollt komplizierten Finessen und Regeln des Tenet-Universums haben sich auch nach zweieinhalb Stunden noch nicht erschlossen. Mit zunehmender Filmdauer muten sie eher wie ein Gimmick, ein MacGuffin per se, an, das zwar für etliche spektakuläre, technische brillante Bilder sorgt, die Zuschauer*innen ob ihrer Komplexität aber immer weniger in die Aktion einbindet. Wer oder was gerade invertiert ist (oder nicht), und wie sich das auf das Leinwandgeschehen auswirkt, wird immer diffuser. Man schaut angetan, aber seltsam unbeteiligt – Nolans überbordendes Interesse für Zukunftstechnologien, das stets jenes für seine Charaktere überragt, erweist sich in Tenet als Stolperstein. Denkt man diese Experimente mit der im Film erzählten Zeit für einen kurzen Moment gar gänzlich weg, zerfällt Tenet in einen konventionellen Action-/Spionagethriller mit generischen Konfliktsituationen, Figuren ohne erkennbaren Grauzonen, die stets genau das tun, was man von ihnen erwartet, sowie einigen dezenten, aber kaum durchschlagenden Botschaften: Ein bisschen Umweltschutz, ein bisschen Kalter-Kriegs-Nostalgie, ein bisschen Abhandlung über Moralität.
(c) Warner Bros. Pictures
Ob man Tenet abschließend als visuell überwältigendes Mainstreamkino mit einem Hauch Intellekt rezipiert, oder doch als (wenngleich teures) Experimentalkino, als filmisches Gedankenspiel, das jegliche Vorstellungen von Zeit zerstört und den Ausbruch aus den Zwängen konventioneller und linear „vorwärts“ ausgerichteter Erzählmodi innerhalb des Action-/Spionagegenres wagt, ist jedem selbst überlassen. Einen Blick wert ist Tenet auf jeden Fall.
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