Dieses Jahr sollte eigentlich alles anders werden. Um der EU-Verordnung zum Erreichen der Klimaziele gerecht zu werden, die seit dem 1. Januar 2020 Strafzahlungen in Milliardenhöhe für Autos mit erhöhtem CO2-Ausstoß vorsieht, haben zahlreiche Hersteller – auch solche, deren Fahrzeuge im mittleren und nicht ausschließlich im Luxussegment positioniert sind – viel Kapital in die Entwicklung neuer Produktionsstätten und (teil-)elektrifizierter Modelle investiert, um die CO2-Werte der Fahrzeugflotte zu senken oder ihren hochmotorisierten Emissionssündern zumindest ein paar umweltschonendere Varianten entgegenzustellen. Von einem drohenden Schicksalsjahr für die Automobilbranche und den -handel war Ende 2019 die Rede, im Mittelpunkt stand dabei vor allem die Frage: Verbrenner oder Elektroauto? Die neu entwickelten Hybrid- oder E-Autos sollten ihre Entwicklungskosten wieder einfahren, ohne jene Modelle mit traditionellem Verbrennungsantrieb zu kannibalisieren oder gar völlig überflüssig zu machen. Dazu kam die Tatsache, dass der US-amerikanische Luxushersteller von Elektroautos Tesla auf ebendiesem Feld seit Jahren die gesamte Konkurrenz vor sich hertrieb – kurzum: Die Branche stand in vielerlei Hinsicht vor einer Herkulesaufgabe.
Auto und Corona
Dann kam die Coronakrise und bescherte der sich ohnehin in einer Sinnkrise befindenden Automobilindustrie gänzlich neue Herausforderungen: Monatelang stillgelegte Werke und geschlossene Autohäuser, verunsicherte Kund*innen, schwindende Kaufkraft. Seitdem die Welt nach dem ersten, wirtschaftlich verheerenden Lockdown mehr oder weniger gelernt hat, mit dem SARS-CoV-2-Virus zu leben, nahmen die Autokäufe auch in Luxemburg langsam, aber sicher wieder zu. Die Fédération des distributeurs automobiles et de la mobilité (FEDAMO) nutzte die Gunst der Stunde etwa, um in Zeiten von Kontaktbeschränkungen und Distanzregeln in einer Werbeanzeige auf die Vorzüge des Autos als individuelle, private, geschlossene und damit sichere Sphäre hinzuweisen – und so dem arg angeschlagenen Image des Autos im gleichen Atemzug eine Generalüberholung zu verpassen: „Das Sprichwort Mein Auto, meine Freiheit hat nach der COVID-19-Pandemie eine neue Bedeutung erhalten. Vor allem für diejenigen, die sich vor dem Virus schützen wollten, indem sie die soziale Distanzierung drastisch respektierten. […] Autofahren ist ein Vergnügen, das egoistisch oder geteilt sein kann. Allein oder mit Ihrer Familie, Freiheit und Ausbruch aus dem Alltag warten nur auf Ihr neues Auto.“1
Obschon die hiesigen Autovertretungen und -händler die wirtschaftlichen Nachwehen der Coronakrise wegen der hohen Kaufkraft ihrer Landsleute zweifelsfrei weniger drastisch zu spüren bekamen als andere Länder der EU, sind die Verunsicherungen größer als man zugibt. In welche Antriebe lohnt es sich gerade, 30.000 EUR und (viel) mehr zu investieren? Welche Autos – und welche Form der Mobilität – wollen die Kund*innen überhaupt im Jahr 2020? Wie lange verkraften Straßeninfrastruktur, Natur, Luft und die kollektive Gesundheit noch die Anwesenheit hunderttausender Personenkraftwagen, die täglich um jeden freien Millimeter auf den Straßen des Großherzogtums kämpfen?
Das Auto am Scheideweg
Auch in Luxemburg, das unbestritten als ein Land der Autofahrer*innen und -besitzer*innen gelten darf, ist das Verhältnis zum Automobil gestörter, als es den Anschein hat. Wie man etwa im forum 411 (November 2020) nachlesen kann, war 2019 bei 21,5 % der Gefängnisinsassen ein Verkehrsdelikt der Hauptgrund ihrer Verurteilung.2
Abgesehen davon gibt es noch genügend weitere dringliche Problemfelder rund um das Auto und den Individualverkehr, die zunehmend am Elfenbeinturm der Autobranche kratzen: Eine jährlich konstant hohe Zahl an Verkehrsunfällen, anhaltende Umweltbelastungen, kollabierende Verkehrsinfrastrukturen, Folgen für die mentale Gesundheit aller durch Lärm und Stress sowie Kämpfe um die Deutungshoheit über die Straßen, die immer vehementer zwischen Autofahrer*innen, Radfahrer*innen und Fußgänger*innen ausgetragen werden. All diese Probleme bedingen, dass wir uns, was das Auto als Spaß- und Selbstverwirklichungsmaschine schlechthin anbelangt, inzwischen an einem Scheideweg befinden.
Alle wissen, dass es nicht so weitergehen kann – nur weiß niemand so recht, wie die Zukunft des Automobils und sein Stellenwert für Individuum, Gesellschaft, Industrie und Wirtschaft aussehen sollen. Um bei motorisierten Metaphern zu bleiben: Es müssen dringend Weichen gestellt werden für einen Zug, der mit voller Fahrt unterwegs ist – nur, welche?
Übersicht
Mobile Freiheit, Flexibilität und Unabhängigkeit haben ihren Preis. Welche Folgen die Vorliebe der Luxemburger*innen für leistungsstarke und schwere Fahrzeuge auf unsere natürliche Umwelt, Gesundheit und Wohlbefinden haben kann, verdeutlicht Maud Lorang in ihrem Beitrag. Ein trauriger Rekord: Alljährlich verteidigt das autofreundliche Großherzogtum den Titel der höchsten pro-Kopf-Anzahl an Autos in der EU. Dies sei allerdings weniger Ausdruck der persönlichen Vorliebe seiner Bewohner*innen, so Joël Adami, sondern schlicht und ergreifend das Resultat einer verkehrten Landes- und Raumplanung, die dem automobilen Individualverkehr uneingeschränkten Vorrang eingeräumt und das Auto so zu einem unentbehrlichen Gefährten gemacht hat – eine Mentalität, die sich selbst ad absurdum führt, wenn der Coronatest oder kulturelle Angebote in Pandemiezeiten nur Autobesitzer*innen vorbehalten bleiben.
Für die Sicherheit im Straßenverkehr trägt die Sécurité routière Sorge. Im Dienste der Verkehrssicherheitserziehung entwickelt sie Sensibilisierungskampagnen, die für mehr Verantwortungsbewusstsein im Straßenverkehr sorgen sollen. Die Strategien zwischen Prävention und Repression scheinen ihr Recht zu geben: In den letzten 40 Jahren konnte die Zahl der Verkehrstoten und Schwerverletzten auf Luxemburger Straßen erheblich reduziert werden. Ben Manet hat die Hauptanliegen der Sécurité routière zusammengefasst. Manet stellte für das Dossier außerdem „3 Fragen“ an den Autohausbesitzer Yves Binsfeld, der das Familienunternehmen in zweiter Generation leitet. Binsfeld verrät, wie sich kleinere Unternehmen auf dem Markt schlagen, inwiefern sie sich gegen Importeure und Händler großer Automarken behaupten können und wie sich das Geschäft mit Autos im Laufe der Zeit verändert hat.
Verbindet die Luxemburger eigentlich eine besonders große Liebe zum Auto? Um diese Frage zu beantworten, wagen Robert A.P. Reuter und David Everard einen Rückblick auf die Geschichte des Automobils, das nicht immer auf so viel Gegenliebe gestoßen ist wie heute. Und dennoch scheinen weder Umweltschäden, Manipulationsskandale noch Verkehrswenden seiner Beliebtheit Abbruch zu tun. Doch was, wenn sich hinter der vermeintlichen Liebe gezielte Lobby und -werbearbeit einer wirkmächtigen Industrie und hinter dem suggerierten Angewiesensein doch nur ein künstlich erzeugtes Bedürfnis verbirgt? Die Liebe eines Luxemburgers zum Auto gedeiht schon in der Maternité und oszilliert sodann irgendwo zwischen Leidenschaft und Fetisch, zumindest wenn man dem Text von Guy Rewenig folgt. Welcher Titel hätte da besser gepasst als „Autoerotik“? Doch auch in der erzählten Welt ist nichts mehr so wie es einst war. Das Coronavirus droht auch hier der Lust einen Riegel vor’s Zündschloss zu schieben.
Während sich für den Nahen Osten mit der Produktion von kostengünstigem Wasserstoff eine einmalige Entwicklungschance auftut, setzt man in Europa dezidiert auf batterieelektrischen Antrieb. Dennoch könnte ein verändertes Mobilitätsverhalten der Nutzer*innen mehr noch als ausgetüftelte Technologien darüber entscheiden, wie zukunftsträchtig das Auto als Fortbewegungsmittel sein wird, schreibt Michel Cames. Der sogenannte „Dieselgate“-Skandal erschütterte 2015 die Autoindustrie und das Vertrauen von Millionen von Kunden weltweit. Im Zuge dessen geriet auch die Société nationale de certification et d’homologation (SNCH) in Erklärungsnot. Die luxemburgische Zulassungsstelle, die mit der Genehmigung von Kraftfahrzeugausrüstungen und -teilen betraut ist, hat 2015 in Luxemburg insgesamt 34.218 Fahrzeuge zugelassen, die allesamt mit dem manipulierten Dieselmotor EA 189 ausgestattet waren. Rückendeckung erhielt die SNCH von der Regierung, die die Schuld auf den Hersteller schob und Anzeige gegen Unbekannt einleitete. Wie die nationalen Behörden den Skandal meisterten und versuchten, für Schadensbegrenzung zu sorgen, erklärt Jacques Hillion.
Zum Abschluss des Dossiers wagt sich Pit Panther an keinen geringeren Text als Michel Lentz’ Feierwon. So wird aus dem feierlichen Lied zur Jungfernfahrt des ersten Zuges in Luxemburg ein Hohngesang auf ein eher rezentes Luxemburger Spezifikum: den stockenden Feierabendverkehr.
- https://www.wort.lu/de/sponsored/erneute-freude-am-fahren-5eece048da2cc1784e36001f (letzter Zugriff: 29. November 2020).
- https://www.forum.lu/article/freiheitsentzug-unumgaenglich-oder-obsolet/ (letzter Zugriff: 29. November 2020).
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