- Politik
Die Menschenrechtslage in China
Während Überwachung und Repression zunehmen, setzen sich engagierte Bürger*innen weiterhin mutig für die Menschenrechte ein.
Wo soll man anfangen, wenn es um die Menschenrechte in China geht? In kaum einem Land werden die Menschenrechte so systematisch untergraben. Presse- und Meinungsfreiheit sind massiv eingeschränkt, und der Staat verfolgt gezielt jene, die Ungerechtigkeiten aufklären oder sich für die Rechte anderer einsetzen. Unfaire Prozesse, die Todesstrafe, Folter und andere Misshandlungen sind an der Tagesordnung. Religiöse Gruppen und ethnische Minderheiten werden brutal unterdrückt. Trotzdem engagieren sich mutige Anwält*innen, Medienschaffende und Aktivist*innen in China nach wie vor für die Menschenrechte.
Menschenrechtsanwält*innen und -aktivist*innen im Visier
Am 16. Oktober 2020 veröffentlichte der Menschenrechtsanwalt Chang Weiping ein YouTube-Video, in dem er offenlegte, dass er während seiner Haft im Januar 2020 gefoltert worden war. In der Aufnahme erzählt er in ruhigem Ton: „Während der zehn Tage Freiheitsentzug war ich an den sogenannten Tigerstuhl gefesselt, der allgemein als ein grausames Foltermittel angesehen wird.“1 Es handelt sich dabei um ein eisernes Foltergestell, bei dem Arme und Beine so fest angebunden werden, dass die Blutzufuhr eingeschränkt wird. Während der zehn Tage wurde er 16 Mal verhört. Außerdem wurde er nach seiner Freilassung unter strengste Beobachtung gestellt.2
Grund seiner Verhaftung: Im Dezember 2019 nahm Chang Weiping an einem Treffen in Xiamen teil, bei dem Menschenrechtsverteidiger*innen die Lage der Zivilgesellschaft und aktuelle Ereignisse in China besprachen. In den Wochen darauf ließ die Staatsmacht dutzende prominente Teilnehmer*innen verhaften, in einigen Fällen ohne Auskunft über ihren Aufenthaltsort.
Chang Weiping wurde sechs Tage nach der Veröffentlichung des Videos erneut festgenommen. Er wird der „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt“ verdächtigt und zurzeit unter „häuslicher Überwachung an einem dafür vorgesehenen Ort“ festgehalten. Diese Maßnahme ermöglicht es der Polizei, Personen unter bestimmten Umständen für bis zu sechs Monate außerhalb des formellen Haftsystems festzuhalten. Dies kann einer geheimen Inhaftierung ohne Kontakt zur Außenwelt gleichkommen und wird von der chinesischen Regierung benutzt, um die Aktivitäten von Menschenrechtsverteidiger*innen zu unterdrücken.
In China sind Menschenrechtsanwält*innen und -aktivist*innen – sowie deren Angehörige – systematisch Schikane, Einschüchterung, willkürlicher Festnahme und Inhaftierung ausgesetzt. Sie können dabei nicht auf faire Gerichtsverfahren hoffen, da die Strafverfolgung und das Justizwesen weitgehend unter der Kontrolle der Kommunistischen Partei Chinas stehen. Die Betroffenen werden teilweise ohne Kontakt zu ihrem Rechtsbeistand festgehalten und in Geheimanhörungen vernommen. Die Anklagen beziehen sich meist auf weit gefasste und vage formulierte Vergehen wie „Streitsucht und Unruhestiftung“, „Störung der Ordnung in der Öffentlichkeit“ oder wie im Fall von Chang Weiping „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt“.
Von der relativen Lockerung der Zensur und dem Versprechen von mehr Rechtsstaatlichkeit, welche die Staatsführung vor den Olympischen Spielen 2008 in China angekündigt hat, ist heute nichts mehr zu sehen. Damals nutzten Menschenrechtsaktivist*innen diese Öffnung sogar, um eine „Bürgerrechtscharta“ zu verfassen, in der sie das System selbst in Frage stellten. Auch die unterdrückten Tibeter*innen und Uigur*innen erhoben ihre Stimmen. Doch kurz nach den Spielen war es mit dem Aufleben der Zivilgesellschaft vorbei. Zu den prominenten Aktivist*innen, die wenig später zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, gehörte auch der Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger 2010, Liu Xiaobo, der 2017 in Haft starb. Seit dem Amtsantritt von Präsident Xi Jinping im Jahr 2013 ging es mit den Menschenrechten in China weiter bergab. Die Festnahme von mindestens 248 Rechtsanwält*innen und Aktivist*innen im Juli 2015 markierte einen traurigen Höhepunkt.
Neben Anwält*innen und Aktivist*innen geraten immer wieder Medienschaffende ins Visier der Staatsmacht. Laut der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen hält China mit rund 100 weltweit am meisten Journalist*innen gefangen. Einige erhalten drakonische Strafen: Huang Qi wurde für den Betrieb der Menschenrechtswebsite „64 Tianwang“ unter dem Vorwand der „Weitergabe von Staatsgeheimnissen“ 2019 in einem Geheimprozess zu 12 Jahren Haft verurteilt. Es war bereits das dritte Mal seit der Gründung der Website im Jahr 1998, dass Huang Qi inhaftiert wurde.
Auch vor der Verfolgung ausländischer Korrespondent*innen macht die Regierung nicht halt. Immer wieder werden ausländische Journalist*innen ausgewiesen, ihre Visa nicht verlängert oder verweigert. Im vergangenen August wurde die australische Journalistin Cheng Lei wegen des Verdachts der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ unter „Wohnüberwachung an einem bestimmten Ort“ gestellt. Zwei weitere australische Journalisten verließen das Land, nachdem sie zunächst an der Ausreise gehindert und von der Polizei verhört worden waren.
In der Rangliste der Pressefreiheit, die jährlich von Reporter ohne Grenzen veröffentlicht wird, lag die Volksrepublik 2020 erneut auf Platz 177 von 180 Staaten. Schlechter schneiden nur noch Eritrea, Turkmenistan und Nordkorea ab.3 Seitdem Xi Jinping 2013 Präsident wurde und die ohnehin schon strenge Zensur noch verschärfte, haben tausende Journalist*innen ihre Arbeit aufgegeben oder eine Kündigung erhalten. Für chinesische Staatsbürger*innen kann schon ein Gespräch mit ausländischen Journalist*innen zum Verhängnis werden, da die Weitergabe von „heiklen Informationen“ unter Strafe steht.
Der Hoffnung der Anfangsjahre des Internets, hier könne sich ein Ort für freien Meinungsaustausch in China entwickeln, hat die Regierung mit einer intensiven Online-Überwachung einen Riegel vorgeschoben. Chinesische Dienstleister sind verpflichtet, Einträge mit sensiblen Inhalten zu löschen und mit den Sicherheits- und Zensurbehörden zu kooperieren. Dies gilt selbst für chinesische Tech-Firmen, die außerhalb des Landes tätig sind. Soziale Medien wie Facebook, Twitter und die meisten Google-Dienste sind schon seit Jahren gesperrt. Andere ausländische Unternehmen unterwerfen sich den Zensurvorgaben, um vom chinesischen Markt profitieren zu können. Jüngstes Beispiel: Im Juni legte das Telekonferenzunternehmen Zoom offen, dass es die Konten von Menschenrechtsaktivist*innen außerhalb Chinas auf Anfrage der chinesischen Regierung gesperrt hatte und deutete an, dass es alle weiteren Treffen blockieren würde, die die Regierung als „illegal“ ansieht.
Zunahme der Überwachung seit der Corona-Pandemie
Die Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit wirkte sich am Anfang der Corona-Pandemie besonders verheerend aus, als die Staatsmacht versuchte, jegliche Veröffentlichung über den COVID-19-Ausbruch in Wuhan zu verhindern. Die Behörden schikanierten unabhängige Journalist*innen, Aktivist*innen und medizinisches Personal, weil sie Informationen über das Virus in den sozialen Medien geteilt und den Umgang der Regierung mit der Krise kritisiert hatten. Dazu gehörte Li Wenliang, ein chinesischer Arzt, den die Polizei in Wuhan maßregelte und mundtot machte, nachdem er versucht hatte, vor dem neuartigen Coronavirus zu warnen. Er starb im Februar selbst an den Folgen des Virus.
Zahlreiche Menschen wurden zu längerer Isolationshaft verurteilt, nur weil sie Informationen über COVID-19 in sozialen Medien geteilt hatten. Die Behörden blockierten hunderte von Stichwortkombinationen in sozialen Medien und Messaging-Apps. Online-Posts von Andersdenkenden, sensible Hashtags im Zusammenhang mit dem Ausbruch und Forderungen nach freier Meinungsäußerung wurden schnell gelöscht.
Seit Jahren investiert China stark in Technologien zur Massenüberwachung – und kauft unter anderem Software zur Gesichts-, Verhaltens- und Emotionserkennung ohne jede staatliche Exportkontrolle auch von europäischen Unternehmen.4 Seit dem Beginn der Coronakrise hob die Regierung die Überwachung im Namen der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit auf ein ganz neues Niveau.
Die Regierung verwendet Handy-Apps wie Alipay oder WeChat, die fast alle Bürger*innen haben, um Kontakte nachzuvollziehen. Die Apps erstellen darüber hinaus farbbasierte QR-Codes, die Aufschluss darüber geben sollen, wie „sicher“ eine Person ist. Anhand einer Mischung aus freiwilligen persönlichen Angaben und Daten der Stadtverwaltung wird ein dreifarbiger Code generiert: Grün bedeutet „sicher“, Gelb macht eine siebentägige Quarantäne und Rot eine 14-tägige Quarantäne erforderlich. Laut einer Recherche der New York Times, sendet das Programm den Standort der betroffenen Person, den Namen der Stadt und eine identifizierende Codenummer an einen mit der Polizei verbundenen Server.5
An zahlreichen Kontrollpunkten müssen der grüne Code auf der App oder andere Daten, zum Beispiel die Bewegungsverfolgung auf dem Telefon, vorgelegt werden. In einigen Städten ist darüber hinaus die Registrierung auf einer Online-Plattform zum Beispiel für die Benutzung der U-Bahn notwendig. Je nach Provinz, Distrikt oder auch Einkaufszentrum ist oft ein anderes Programm erforderlich, wodurch noch mehr personenbezogene Daten erfasst werden. Es ist zu befürchten, dass die Regierung die Pandemie als Vorwand nutzt, um eine Reihe von Überwachungsmaßnahmen zur Normalität werden zu lassen und weiter auszubauen.
Unterdrückung religiöser Gruppen und ethnischer Minderheiten
Religiöse Gruppen werden in China systematisch drangsaliert und entweder von den Behörden verboten oder versucht zu kontrollieren. In den vergangenen Jahren wurden auf staatliche Anweisung hin bereits unzählige kulturelle und religiöse Stätten beschädigt oder zerstört. Geistliche und Gläubige kamen selbst wegen gewöhnlicher religiöser Praktiken in Haft. Ein bekanntes Beispiel ist die massive Verfolgung von Anhänger*innen der seit über 20 Jahren verbotenen spirituellen Falun-Gong-Praktik.
Besonders gravierend ist die Repression von Uigur*innen6, Kasach*innen und anderen überwiegend muslimischen Völkern in der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang. Seit 2017 wurden schätzungsweise eine Million oder mehr Menschen dieser ethnischen Minderheiten willkürlich ohne Gerichtsverfahren inhaftiert und in dafür eingerichteten Lagern politischer Indoktrination und kultureller Zwangsassimilation unterworfen. China schikaniert diese Volksgruppen auch außerhalb seiner Landesgrenzen systematisch. Exilgemeinschaften auf der ganzen Welt werden über chinesische Botschaften und Konsulate sowie durch Messaging-Apps und Drohanrufe ins Visier genommen.7
Die schweren und weitreichenden Repressionen gegen ethnische Minderheiten hielten auch in der Autonomen Region Tibet an. In der Inneren Mongolei kam es bei regionsweiten Protesten gegen eine neue Politik der „zweisprachigen Erziehung“ zu hunderten Verhaftungen.
Drakonisches neues Gesetz in Hongkong
Seit 2019 demonstrierte die Hongkonger Bevölkerung für mehr Demokratie und gegen repressive Gesetzesvorschläge, mit denen unter anderem die Auslieferung von Hongkonger Bürger*innen an das chinesische Festland ermöglichen werden sollte. Die Behörden ließen Demonstrationen auflösen oder verboten sie von vornherein, und die Polizei ging gewaltsam auf die Teilnehmenden los. Mehr als 10.000 Menschen wurden insgesamt im Zusammenhang mit den Protesten verhaftet. Zu den prominentesten Verurteilten gehört der Aktivist Joshua Wong, der eine dreizehnmonatige Gefängnisstrafe erhielt.
Trotz der Massenproteste verabschiedete Chinas höchstes gesetzgebendes Gremium am 30. Juni 2020 das Gesetz zum Schutz der Nationalen Sicherheit für die Sonderverwaltungszone Hongkong, das noch am gleichen Tag in Kraft trat. Es sieht lebenslange Haft bei „Abspaltung“, „Subversion“, „Terrorismus“ und „Zusammenarbeit mit ausländischen Mächten“ vor. Die Definitionen dieser Verbrechen sind so weit gefasst, dass sie in sehr vielen Situationen für eine politisch motivierte Strafverfolgung mit hohen Strafen herangezogen werden können. Die Konsequenzen für die Zivilgesellschaft sind verheerend. Von Anfang an nutzten die Behörden das Gesetz, um legitime und friedliche Meinungsäußerungen zu unterdrücken. Bereits der Besitz von Fahnen, Aufklebern und Bannern mit politischen Parolen kann eine Verhaftung nach sich ziehen. Zudem verschärft sich die Kontrolle von Medienschaffenden im Bildungsbereich und in den sozialen Medien.
Die Ermittlungsbehörden dürfen jetzt auch ohne Gerichtsbeschluss Durchsuchungen vornehmen, die Reisefreiheit einschränken oder unterbinden, Vermögenswerte einfrieren oder beschlagnahmen, Online-Inhalte zensieren und verdeckt überwachen. Das Gesetz gewährt den Sicherheitsbehörden und ihren Beschäftigten vollkommene Immunität. Durch das Gesetz zur nationalen Sicherheit können Verdächtige nach Festlandchina gebracht, unter dem dortigen Strafjustizsystem verfolgt und gerichtlich verurteilt werden. Zudem beansprucht das Gesetz eine weltweite Geltung, sodass auch regierungskritische Äußerungen oder Aktivitäten im Ausland sowie solche von nicht-chinesischen Staatsbürger*innen erfasst werden.
Es ist wenig überraschend, dass dieses drakonische Gesetz sofort eine einschüchternde Wirkung auf die Bevölkerung Hongkongs hatte. Politische Gruppierungen lösten sich auf. Öffentliche Bibliotheken sortierten Bücher aus, die der chinesischen Zentralregierung ein Dorn im Auge sind. Viele schlossen ihre Social-Media-Konten, weil sie Nachrichten über die Proteste geteilt hatten.
Die Befürchtungen bestätigten sich in den vergangenen Monaten, als immer mehr Kritiker*innen der Regierung unter dem Verweis auf das neue Gesetz verhaftet wurden. Darunter war Jimmy Lai, Eigentümer der pro-demokratischen Zeitung Apple Daily, in dessen Büros gleichzeitig eine Razzia stattfand. Im Januar dieses Jahres kam es zum vorläufigen Höhepunkt der Verfolgung von kritischen Stimmen im Namen des nationalen Sicherheitsgesetzes, als die Polizei etwa 50 Oppositionelle verhaftete.
Solidarität mit Menschenrechtsverteidiger*innen
Es ist nicht schönzureden, die Lage der Menschenrechte in China ist dramatisch. Dabei ist an dieser Stelle noch nicht einmal Platz, um auf Themen wie die rechtswidrigen Zwangsräumungen, die Diskriminierung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Personen oder den mangelhaften Schutz von Arbeitnehmer*innen einzugehen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass in keinem Land so viele Menschen hingerichtet werden wie in China. Angesichts der damit verbundenen Risiken ist es bewundernswert, dass nach wie vor viele Bürger*innen mutig für ihre grundlegenden Rechte und Freiheiten einstehen. Wer darauf hofft, dass China in Zukunft die Menschenrechte stärker respektiert, sollte heute an der Seite dieser Menschen stehen.
- https://www.youtube.com/watch?v=1dvDjbHr85k (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 7. Januar 2021 aufgerufen).
- https://www.amnesty.org/en/documents/asa17/3333/2020/en/
- https://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/rangliste-2020
- https://www.amnesty.org/download/Documents/EUR0125562020ENGLISH.PDF
- https://www.nytimes.com/2020/03/01/business/china-coronavirus-surveillance.html
- Siehe dazu auch den Beitrag von Mareile Aldinger in diesem Dossier.
- https://www.amnesty.org/en/latest/research/2020/02/china-uyghurs-abroad-living-in-fear/
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