Die Welt, so wie sie ist? – Mockumentarys und ihr Spiel mit der Wirklichkeit

Mockumentarys spielen mit unserem Verständnis davon, wie Dokumentarfilme und Fernsehreportagen unsere vermeintlich objektive Sicht auf die Wirklichkeit prägen.

Im Jahr 1957 gelang der BBC ein skurriler medialer Coup: Am 1. April zeigte die britische Rundfunkgesellschaft einen etwa dreiminütigen Nachrichtenbeitrag über eine angebliche Spaghetti-Ernte in der italienischen Schweiz. Im Gewand einer seriösen Reportage informierte der kurze Film die Zuschauer*innen über eine Tessiner Bauernfamilie, die meterlange Spaghetti auf Bäumen züchtet und schließlich erntet. Die bewusste Publikumstäuschung gelang – obwohl nicht wenige Zuschauer*innen durchaus einen Zusammenhang zwischen Ausstrahlungsdatum und Inhalt herzustellen vermochten, riefen auch Menschen bei der BBC an, die mehr über die vorgeblichen schweizerischen Spaghetti-Plantagen erfahren wollten.

Das Millionenspiel (c) WDR

Vergleichbare Reaktionen rief 1970 auch die Ausstrahlung der WDR-Produktion Das Millionenspiel (Regie: Tom Toelle, Drehbuch: Wolfgang Menge) hervor, eine Mediensatire über eine frei erfundene Fernsehshow, in der allmonatlich ein freiwilliger Kandidat, stets begleitet von Kameras, eine Woche lang vor drei schwerbewaffneten Auftragsmördern flüchten muss, um am Ende im besten Fall eine Million D-Mark zu gewinnen. Auch hier meldeten sich etliche Zuschauer*innen beim Fernsehsender – sei es, um sich über die brutale, menschenverachtende Show zu beschweren, oder, um sich als zukünftige Kandidaten zu bewerben.

Neben Orson Welles‘ Hörspieladaptation (1938) von H.G. Wells Roman The War of the Worlds (1898) gelten diese Werke aus heutiger Sicht als frühe Erscheinungsformen – bzw. Vorläufer – eines Formats, das sich in den Folgejahren als eigenständiges Filmgenre etablierte, angesiedelt an der feinen Schnittstelle zwischen Wirklichkeit und Fiktion, und inzwischen nicht mehr aus der Kino- und Fernsehlandschaft wegzudenken ist: Die Mockumentary, zusammengesetzt aus den englischen Begriffen to mock (täuschen) und documentary.

Mockumentarys sind Filme, die zwar den Eindruck erwecken, es handle sich um „authentische“ Dokumentarfilme oder Fernsehreportagen mit realen Vorgängen, de facto thematisieren sie aber völlig fiktionale Ereignisse. Sie imitieren dabei die Ästhetik, Stilmittel und Erzähltechniken klassischer Dokumentationen – wie bspw. eine wackelige Schulterkamera, improvisierte Beleuchtung und natürlicher Ton, die Präsenz sogenannter Talking Heads, Archivdokumente, ein allwissender Begleitkommentar sowie eine fließende Montage –, treiben sie aber gleichzeitig auf die Spitze und funktionieren sie in ihrem eigenen Sinne zu einer bewusst „falschen“, fiktionalisierten Aussage um.

Trollhunter  (c) Capital Pictures

Mockumentarys spielen mit der Wirklichkeit – bzw. mit unserem Verständnis davon, wie Dokumentarfilme und ihre Techniken, die wir nach über 120 Jahren Kinogeschichte längst verinnerlicht haben, unsere vermeintlich objektive Sicht auf die Wirklichkeit prägen. Sie entlarven damit auch, wie konstruiert unser filmisches Verständnis der Realität sein kann, und welche Macht bewegte Bilder entwickeln können, wenn man sie erzählerisch und formal in den richtigen Sinnzusammenhang setzt: Nur, weil etwas echt aussieht, muss es noch lange nicht echt sein.

Das Spektrum filmischer Ausprägungen ist beim Genre des Mockumentarys äußerst vielseitig. Manche Mockumentarys sind in ihrer Machart nicht von traditionellen Dokumentarfilmen zu unterscheiden. Sie verarbeiten in erster Linie reale oder gefälschte Archivdokumente und lassen gelegentlich Schauspieler*innen in den Rollen fiktiver Talking Heads auftreten.

❝Nur, weil etwas echt aussieht, muss es noch lange nicht echt sein.❞

Andere Produktionen werden jedoch mit deutlichem größerem Aufwand gedreht und beworben, und ihr pseudodokumentarischer Charakter ist offensichtlicher zu erkennen – hier gibt es eine veritable Regie, Schauspielführung, Spezialeffekte, mitunter auch Improvisation und Szenen, die mittels versteckter Kamera gedreht werden. Auffallend viele Mockumentarys sind als bissige, entlarvende, mitunter provokative Parodien angelegt, andere machen sich hingegen die Mechanismen des Horrorfilms zunutze, wie etwa die Found-Footage-Ästhetik, und wollen ihr Publikum in erster Linie in Schrecken versetzen.

Im Folgenden werden fünf Mockumentarys vorgestellt, die für die Geschichte und Entwicklung dieser filmischen Gattung prägend waren.

This is Spinal Tap (Rob Reiner, 1984)

This is Spinal Trap (c) Embassy Pictures

Einen festen Platz in der Geschichte des Mockumentarys hat die schrille Showbiz-Satire This is Spinal Tap inne, in der Regisseur Rob Reiner (When Harry Met Sally, 1989) genüsslich den ikonenhaften, überlebensgroßen Status von Rockstars zerlegt – in diesem Fall: Die alternde und inzwischen weitgehend vergessene britische Heavy-Metal-Band Spinal Tap, die sich nach 17 Jahren Pause wieder auf Konzerttournee in die USA begibt. Fortan geht alles schief, was nur irgendwie schiefgehen kann: Die Plattenfirma findet das Cover der neuen LP zu sexistisch und lässt es kurzerhand schwärzen (bei den Beatles habe das ja immerhin auch funktioniert), von Stadt zu Stadt stehen immer weniger Menschen vor der Bühne, und schließlich mischt sich auch noch die Freundin des Gitarristen in die Bandgeschäfte ein, und sorgt dafür, dass der Manager das Handtuch wirft – was die Situation der Band nicht unbedingt verbessert. All dies zelebriert Reiner, der im Film in Cinéma-Vérité-Manier selbst als Dokumentarfilmer Marty diBergi auftritt, in teils absurden Interviews und Bühnenauftritten, die von den Schauspielern (u.a. Christopher Guest, Michael McKean, Harry Shearer) größtenteils improvisiert gedreht wurden; nicht weniger als drei Cutter waren später nötig, um Ordnung in die hundert Stunden Rohmaterial zu bringen. Guest, McKean und Shearer verkörpern ihre Have-Been-Rockmusiker Nigel Tufnel, David St. Hubbins und Derek Smalls als durchaus talentierte und irgendwie liebenswerte, aber auch gnadenlos prätentiöse, vulgär-infantile und letztlich unbeirrbare Kunstfiguren, und legen so die Manierismen und Attitüden des nicht minder selbstverliebten Musikgeschäftes frei.

The Blair Witch Project (Daniel Myrick und Eduardo Sánchez, 1999)

The Blair Wich Project (c) Haxan Films

Den wegweisenden Einfluss, den The Blair Witch Project auf das Horrorgenre hatte, kann man weniger an der tatsächlichen Qualität des Films ausmachen, sondern an der Art und Weise, wie die Online-Marketingkampagne, die den Film begleitete, das wild und amateurhaft zusammengefilmte Material von drei angeblichen Filmstudenten (Heather Donahue, Joshua Leonard, Michael C. Williams), die sich auf den Spuren der Hexe von Blair in den Wäldern Marylands verirrten und nie wieder gesehen wurden, in einen sinnstiftenden Kontext einbettete, der den Film Ende der Neunziger zu einem wahren Medienhype werden ließ und die Found-Footage-Thematik auf Jahre im modernen Horrorfilm etablierte. Produziert für weniger als eine Million US-Dollar auf Basis eines 35-seitigen Drehbuchs, spielte der Film mehr als das 250-fache (!) davon wieder an den Kinokassen ein.

Die Filmhandlung, die die Kinobesucher 1999 in The Blair Witch Project zu sehen bekamen, bestand im Wesentlichen aus dem Found- bzw. Recovered-Footage-Material aus den Kameras der drei Filmstudenten, das lose hintereinander geschnitten war, und das Trio dabei zeigte, wie es zunächst die Orientierung und schließlich die Nerven in den Wäldern Marylands verlor, und am Ende (in einer tatsächlich eindrucksvoll gefilmten Sequenz) in einem verlassenen Haus angegriffen wurde. Der eigentliche Horror sollte sich dabei vor allem in der Vorstellungskraft der Zuschauer*innen abspielen – und das Kunststück der Marketingkampagne war es, den angeblich dokumentarischen Charakter nicht nur der Filmaufnahmen, sondern der ebenfalls frei erfundenen Blair-Witch-Legende sowie den Berichten über den Verbleib des Studententrios bereits vor dem Kinostart in den Köpfen des Publikums zu zementieren. Dafür nutzten die Verantwortlichen in erster Linie das Internet, das Ende der neunziger Jahre noch über eine Minimalaura an Glaubwürdigkeit verfügte. Auf der offiziellen Webseite des Films waren Vermisstenposter und gefälschte Polizei- und Nachrichtenmeldungen zu sehen, in der Internet Movie Database waren die drei Schauspieler*innen als vermisst gelistet. Auch auf Festivals, bei denen The Blair Witch Project vorgestellt wurde, verbreiteten die Macher munter weiter die Mär von den angeblich verschwundenen Studenten – Film und Wirklichkeit wurden konsequent miteinander vermischt und verhalfen der handwerklich bescheidenen Produktion vor ihrem Kinostart zu einer beispiellosen Erwartungshaltung.

Auch wenn diese Blase spätestens nach der Kinoveröffentlichung platzte und die Zuschauerreaktionen auf den Film sehr gemischt ausfielen, popularisierte The Blair Witch Project dennoch die Found-Footage-Prämisse im Horrorgenre, und fand von [REC] (Jaume Balagueró und Paco Plaza, 2007) über Paranormal Activity (Oren Peli, 2007), Cloverfield (Matt Reeves, 2008) und sogar Trolljegeren (André Øvredal, 2010) unzählige Nachahmer.

Deutlich humorvoller verband 2014 der neuseeländische Regisseur Taika Waiti Horror- und Mockumentary-Film: In der überaus lustigen Vampirkomödie What We Do in the Shadows dokumentiert er im Reality-Soap-Stil den Alltag einer vierköpfigen Vampir-WG in Wellington.

Opération Lune (William Karel, 2002)

Opération Lune

Nicht selten präsentieren sich Mockumentarys im Gewand historischer Dokumentarfilme – sei es, um einen anderen, uchronischen (was wäre, wenn?), Blick auf die Geschichte zu werfen und diese neu zu schreiben, um existierende Mythen und Verschwörungstheorien aufzugreifen oder um neue zu schaffen.

In Opération Lune (2002) verarbeitet der französische Regisseur William Karel die in Verschwörungskreisen beliebte Annahme, dass die Filmaufnahmen der US-amerikanischen Mondlandung (1969) im Filmstudio – hier von niemand Geringeren als 2001-Regisseur Stanley Kubrick! – nachgedreht wurden, weil Präsident Nixon das echte Material nicht fernsehtauglich genug erschien. Doch nach und nach verschwanden immer mehr Menschen, die in das geheime Projekt eingeweiht waren…

Virtuos montierte Karel in Opération Lune reale Interviews mit früheren Mitarbeiter*innen der Nixon-Regierung, wie Henry Kissinger und Donald Rumsfeld, zusammen mit gestellten Interviews von Schauspieler*innen, die wie Stichwortgeber durch die wendungsreiche „Handlung“ führen – die filmische Illusion geriet täuschend echt und wurde erst im Abspann aufgelöst.

Forgotten Silver (Peter Jackson, 1995)

Forgotten Silver (c) WingNut Films

Einen ähnlichen Weg beschritten 1995 die beiden neuseeländischen Regisseure Peter Jackson (The Lord of the Rings, 2001-2003) und Costa Botes in ihrer Scheindoku Forgotten Silver, in der sie das liebevoll-ironische Porträt des ebenfalls neuseeländischen Filmpioniers Colin MacKenzie zeichneten. Dieser heute weitgehend vergessene Filmemacher habe nämlich, so ihre Nachforschungen, nahezu alle wegweisenden Neuerungen der Filmgeschichte, von der Kamerafahrt über die Nahaufnahme bis zum Ton- und Farbfilm, quasi in Eigenregie erfunden – und das jeweils mehrere Jahre vor ihrer tatsächlich überlieferten Entdeckung.

Die Filmgeschichte müsse daher quasi von Grund auf neu geschrieben werden, so die selbstbewusst-ironische These des Films, die sich die Regisseure von Filmhistorikern, Archivisten und Schauspielern wie Sam Neill bestätigen lassen – dabei war die neuseeländische Filmindustrie bis Mitte der achtziger Jahre auf der Weltkarte des Kinos in etwa so prominent vertreten wie die luxemburgische. Mit viel Hingabe, und in Anlehnung an die Filmtechniken des frühen 20. Jhds., stellen Jackson/Botes schließlich sogar MacKenzies verschollen geglaubtes Meisterwerk, das Bibelepos (!) Salome, nach, das dieser seinerzeit angeblich in den Wäldern Neuseelands drehte.

C’est arrivé près de chez vous (Rémy Belvaux, André Bonzel, Benoît Poelvoorde, 1992)

C’est arrivé pres de chez vous (c) Les Artistes Anonymes

Obwohl Autoreflexivität ohnehin bei einem Großteil der Mockumentarys in der DNA verankert ist, und mal mehr, mal weniger deutlich zutage tritt, gibt es doch auch solche Produktionen, die dezidiert die Mechanismen des Filmemachens (bspw. Zak Penn und Werner Herzog in Incident at Loch Ness, 2004) und der medialen Berichterstattung in den Mittelpunkt rücken.

Die derb-provokative belgische Satire C’est arrivé près de chez vous dürfte bis heute einer der radikalsten und kompromisslosesten Filme über die Medienwelt, über journalistische Sensationslust, Voyeurismus und ethischen Kontrollverlust sein, die die Kinogeschichte hervorgebracht hat. Mit pseudodokumentarischen Mitteln geben die drei Macher, die auch im Film selbst auftreten, Einblicke in das Leben das Serienmörders Ben (gespielt von Benoît Poelvoorde) und halten diese in groben 16mm-Schwarzweißbildern fest. Während das Drehteam anfangs noch eine gewisse Distanz zu dem mal zynisch-brutal, mal eloquent und jovial auftretenden Ben hat, verschwindet diese nach und nach – aus Neugierde und unterlassener Hilfeleistung wird schließlich direkte Mittäterschaft, denn mit zunehmender Produktionsdauer braucht die Crew das Geld, das Ben bei seinen mörderischen Raubüberfällen erbeutet, um ihren eigenen Film zu finanzieren.

In C’est arrivé près de chez vous nehmen Belvaux, Bonzel und Poelvoorde ganz bewusst alle erdenklichen Grausamkeiten und Tabubrüche in Kauf, um Medien wie Filmpublikum gleichermaßen mit ihren (Seh-)Gewohnheiten zu konfrontieren, und um letzteres selbst, durch die Augen – bzw. die Kamera – der Filmcrew, die der Faszination von Bens Gewalttaten erliegt, in die Rolle des Voyeurs zu zwingen. Eine zentrale Frage des dokumentarischen Filmemachens erscheint dabei mit fortschreitender Dauer immer unbeantwortbarer zu werden: Bilden Dokumentarfilme die Welt ab, so wie sie ist – oder nehmen sie selbst Einfluss auf die (hier: gewalttätigen) Bilder, die sie produzieren und zeigen?

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