Die Geschichte der CSV ist seit ihrer Wahlniederlage 2013 die einer historischen Krise einer Volkspartei, die dank der engen Verbindung von Partei, Gewerkschaft, katholischer Kirche und kircheneigener Presse zwischen 1919 und 2013 88 Jahre lang den Staatsminister stellte. Sie war Ausdruck eines katholischen Milieus, das mit Erfolg klassenübergreifend auf sozialen Ausgleich und Stabilität setzte, Andersdenkenden aber lange ihr normatives Weltbild aufdrängte. Die erste Niederlage der CSV von 1974 korrelierte mit dem Rückgang des normativen Einflusses der Kirche. Damals vollzogen DP und LSAP den notwendigen soziokulturellen Modernisierungsschub, den die CSV nicht hatte liefern können. Sie war weise genug, schon im Fegefeuer der Opposition zu erklären, dass sie nicht auf die gesellschaftlichen Reformen dieser Regierung zurückkommen würde. Damit bahnte sie sich glaubhaft den Weg in die Regierung zurück.
Die Nachwuchspolitiker, die sich ab den 1980ern um Jean-Claude Juncker geschart hatten, gaben sich noch offener. 2013 waren diese alle verbraucht. Die christlichen Gewerkschaften gingen eigene Wege. Einen der CSV explizit nahestehenden Zeitungsverleger gab es zu dem Zeitpunkt auch nicht mehr. Die 2009 aufgestellte CSV-LSAP-Regierung musste quasi ohne den anderswo gebrauchten Euro-Gruppenchef Juncker auskommen. Von den anderen CSV-Ministern gingen wenig Impulse aus. Es folgte wieder ein soziokultureller Modernisierungsstau. Mit der SREL-Affäre war es dann mit der Kompatibilität von CSV mit LSAP und DP vorbei, und mit den Grünen gab es eine dritte regierungsfähige Partei, die die CSV als Angelpunkt aller Koalitionen entbehrlich machte. Anders als zwischen 1974 und 1979 wirkte die CSV diesmal in der Opposition wie eine Schar erstarrter Hasen, die der Reformwalze der ersten Gambia-Regierung nicht Paroli bieten konnte. Hinter ihr stand kein katholisches Milieu mehr, das sie in Sachen Familienpolitik oder Verhältnis von Kirche und Staat hätte unterstützen können. Ohne Kompass und Ideen verlor sie 2018 wieder die Parlamentswahlen.
Der Außenseiter Frank Engel war es, der die strategische Sackgasse am besten erkannte, in die die Parteigranden die CSV hineinmanövriert hatten. Er formulierte dies 2019 schonungslos vor einem Kongress und setzte sich gegen den Wunschkandidaten der Fraktion als neuer Parteivorsitzender durch. Die Fraktion reagierte mit dem Boykott des Unerwünschten. Die Partei setzte sich selbst schachmatt. Als Engel dann im Sommer 2020 im Alleingang mit seinem Vorschlag aufwartete, eine Vermögens- und eine Erbschaftssteuer in direkter Linie ins Auge zu fassen, hatte er eine rote Linie überschritten. Eine Verschwörung zur Beseitigung von Frank Engel nahm ihren Lauf. Mehrere Fraktionsmitglieder denunzierten den Parteivorsitzenden bei der Staatsanwaltschaft wegen Veruntreuung von Parteigeldern. Dem blieb nichts anderes übrig, als sein Amt niederzulegen und die Partei zu verlassen. Der CSV-Nationalkongress vom 24. April sollte diese einzigartige Krise beenden. Er hat eine kollektive neue Führung unter der Schirmherrschaft Claude Wiselers gebilligt. Mit Engel werde sich, so Wiseler, die Justiz befassen. Engel und die Jahre 2019 bis 2021 sollten also kein Thema mehr sein. Der Kongress hatte stattgefunden, der alte Habitus von Verdrängungen und anderen Verklemmtheiten war geblieben.
Ein Papier war im Vorfeld von der neuen Führung verbreitet worden: viel Organisationsrhetorik und ein paar eilig verfasste Skizzen zu politischen Positionen. Bezeichnenderweise wurde am Tag nach dem Kongress nur weniges davon von Wiseler angesprochen. Er nannte die großen Themen – von der Klima- über die Wohnungs- bis zur Coronakrise –, aber nur ein Thema betonte er nachdrücklich: dass der Staatshaushalt wieder ins Lot gebracht werden muss und Steuererhöhungen ausgeschlossen sind. Nichts Neues, Stagnation in spe. Auffallend war, dass zwischen dem Sturz Engels und dem Kongress in den Medien niemand aus der neuen Mannschaft sich traute, auch nur eine einzige politische Position zu beziehen. Alle schienen wie gebannt von der Angst, einen Fehler zu begehen. Damit wurde offenbar, wie sehr die Krise der CSV eine historische ist. Sie stieg auf als Ausdruck des katholischen Milieus, und mit dessen Auflösung erlitt sie ihren Niedergang als Volkspartei.
Die CSV ist eine Partei wie jede andere geworden. Auch sie muss sich nun milieuunabhängiger über die eine oder andere Legislaturperiode als mehr oder weniger stabiles sozialpolitisches und erfolgreiches Aggregat behaupten. Den Grünen ist das gelungen. Auch die DP konnte über ihr traditionelles Milieu hinauswachsen als Projektionsfläche des mühelosen Erfolgs und der maßlosen Lebensweise. Die stark milieugebundene LSAP hat das nicht geschafft. Ob die CSV so etwas schafft und für andere Parteien wieder als Koalitionspartner in Frage kommt, wird einen entscheidenden Impakt auf eine politische Landschaft haben, in der sich bald die grundsätzliche Frage stellen wird: Was bedeutet im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch der Begriff „Partei“?
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