Nora Wageners multiperspektivischer Roman Alle meine Freunde verbindet unterschiedliche Erzählstränge, die, wenn man so will, auf den Satz „Ich bin dann mal weg“ folgen können. Wovon entfernt und wem entzieht man sich, wenn man als vergessliche respektive vehement verdrängende luxemburgische Rentnerin, als gleichsam wenig motivierter und talentierter Musiker oder als künstlerisch ambitionierte, aber in schlechten Arbeitsverhältnissen gefangene Osteuropäerin (halbwegs) freiwillig das Deck eines Kreuzfahrtschiffes betritt? Und vor allem: Wo will man eigentlich hin? Die junge Autorin begleitet ihre Charaktere auf der Suche nach Antworten und dreht gemeinsam mit ihnen zahlreiche Runden auf dem Gedankenkarussell.
Wer Foren zum Jakobsweg durchstöbert, stößt nicht selten auf Vorwürfe, Hape Kerkelings Reisebericht sei schuld daran, dass diese Route mittlerweile total überlaufen und ein zuvor gut gehütetes Geheimnis gelüftet sei. Die Paischtcroisière, die als Vorlage für die teils bedrohliche, teils aber auch gezielt schnöde Kulisse dieser Geschichte diente, stellt weder einen Geheimtipp dar, noch ist damit zu rechnen, dass Wagener mit ihrem Werk tatsächlich Anreize geschaffen hat, sich Tickets für diesen Zirkus zu sichern. Denn so unterschiedlich die Lebensgeschichten der beschriebenen Personen auch sein mögen, eint sie, dass sie sich ihrer Probleme auch fernab des heimischen alltäglichen Wahnsinns nicht entledigen können. Eskapismus gone wrong eben.
Einige luxemburgische Literaturkritiker:innen werden nicht müde, Parallelen zwischen Alle meine Freunde und Schrecklich amüsant – aber in Zukunft bitte ohne mich von David Foster Wallace zu betonen. Deren Existenz soll hier keineswegs verneint werden, jedoch drängt sich noch ein weiterer Vergleich auf: Bei der Lektüre muss man etwas unverhofft an Susan Sontags Das Leiden anderer betrachten denken. In diesem Essay geht es nicht etwa ums Reisen, sondern um Kriegsfotografie. Sontag geht hier unter anderem auf die Distanz zwischen Betrachter und Betrachtetem ein. Außerdem diskutiert sie die Kunst, menschliches Leid in Bilder zu fassen. Überträgt man diese Diskussion von der Bilder- in die Sprachwelt, lässt einen Wageners 272 Seiten starkes Werk etwas unentschlossen zurück, wenn es um die Frage geht, inwiefern es ihr gelungen ist, die Leser:innenschaft mit ihrer künstlerischen Leistung in den Bann zu ziehen. Die Schriftstellerin, die selbst zu Recherchezwecken an einer Kreuzfahrt teilnahm und somit gewissermaßen zur Kriegsberichterstatterin wurde, versteht es als Schreibende durchaus, die reine Betrachter:innen-Perspektive zu verlassen und nuancenreiche Einzel-Porträts zu zeichnen. Wirken viele Ansätze zu Anfang noch vielversprechend, so sieht man sich vor allem im mittleren Teil des Romans streckenweise Passagen gegenüber, bei denen nicht wirklich ersichtlich wird, ob hier gezielt eine gewisse postmoderne Beliebigkeit abgebildet wird oder die Autorin sich schlicht und ergreifend innerhalb überlanger Beschreibungen und beispielsweise der Intention, sprachliches Chaos im Tourismussektor mit Humor wiederzugeben, verrannt hat. Man erahnt eine erzählerische Experimentierfreude, kommt aber nicht umhin, die raffinierte Verspieltheit vorheriger Texte aus der Feder von Wagener an manchen Stellen schmerzlich zu vermissen.
Nichtsdestotrotz wird Durchhaltevermögen bei der Lektüre belohnt. Auf den letzten 65 Seiten entladen sich innere wie zwischenmenschliche Konflikte. In manchen Fällen kommt es zu Eskalationen, in anderen bleiben sie vollständig aus. Gerade dann schafft es Nora Wagener, einen fast unerträglichen Druck aufzubauen und gewährt auf ebenso zynische wie intelligente Art im weiteren Verlauf keine Entlastung. In diese stille Verzweiflung und das entstandene Vakuum schreibt die Servaispreisträgerin gekonnt hinein. Ihre Wortwahl hat nichts Erlösendes und ist an Trockenheit kaum zu überbieten. An einer Stelle beschreibt sie zum Beispiel die Situation, die in einem Reisebus vorherrscht, nachdem die Gäst:innen unbefriedigt von einem Ausflug an Land zurückgekehrt sind: „Die Klimaanlage hält den Schweißgeruch am Zirkulieren. Es ist allen schnuppe. Ein junges Paar stiert aus dem Fenster, eng aneinandergeschmiegt. Das muss Liebe sein. Wenn man sich an Pfingsten nach ein paar gemeinsamen, hässlichen Stunden in K.P. City dreckig und müde in einem Reisebus aneinander festhält. Liebe und Vergebung. Aber machen wir uns nichts vor, das Internet ist voll mit Berichten über ähnliche Erfahrungen. Der einzige Grund, weshalb man denkt, man könne andere Leute, die vielleicht etwas zartbesaitet sind oder schlichtweg übertreiben, Lügen strafen, es so schlimm gar nicht sein kann, der einzige Grund dafür ist, dass es den meisten Leuten an den richtigen Worten gefehlt hat, einen wirklich, wirklich davon abzuhalten, nach K.P. City zu fahren.“ Es wirkt letztlich so, als hätten die Protagonist:innen die Reise angetreten, um genau dort ihr eigenes, vorheriges Narrativ zu durchbrechen und sich zu befreien. Im Endeffekt schreibt sich ihre beängstigend banale Geschichte aber genauso weiter, wie sie es davor getan hat.
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