Der Antisemitismus ist nicht tot zu kriegen. Auch nach 2000 Jahren müssen jüdische Menschen als Sündenböcke herhalten, unserer Tage etwa für das Coronavirus, wie aus dem rezent veröffentlichten Bericht von Rial (Recherche et information sur l’antisemitisme au Luxembourg) hervorgeht. Die Zeiten, in denen Schulkinder in Luxemburg Zeilen sangen wie die folgenden, sind zwar vorbei: „Een zwee dräi et ass e Judd kapott, huel e mat de Been a schleef e fort / en huet kee Baart an e kritt kee Baart, en huet e Gesiicht wéi eng Äppeltaart“, aber antisemitische Haltungen und Handlungen suchen sich im Jahre 2021 einfach andere Ventile, um ordentlich Druck abzulassen. 

Als sich im Mai dieses Jahres die Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und Israel zuspitzten und im gegenseitigen Bombardement eskalierten, kam es weltweit zu zahlreichen Solidaritätsdemonstra­tionen mit den Palästinenser*innen im Gaza-Streifen – und zu einigen wenigen proisraelischen. Besonders in Deutschland, im Land der Mörder von 6 Millionen jüdischer Menschen, wurde dabei die Grenze, die Israelkritik von Antisemitismus trennt, gnadenlos überschritten. In Berlin durfte die Organisation „Samidoun Deutschland“ protestieren, die Frieden mit Israel ausschließt und Terrorakte gegen die israelische Zivilbevölkerung befürwortet. Auf Transparenten bei einer anderen Berliner Demonstration war zu lesen: „Gestern Auschwitz, heute Palästina“, ganz so, als gäbe es im Gaza-Streifen von Israelis betriebene Vernichtungslager. In Gelsenkirchen ließen es sich die Demonstrierenden nicht nehmen, vor einer Synagoge aufzumarschieren, die nun wirklich keine repräsentative Einrichtung des israelischen Staates ist. Dort skandierte man „Tod den Juden“. In einigen Presseberichten wurde diese Demo als anti-israelisch und nicht als antisemitisch bezeichnet. Wer den Antisemitismus hier nicht erkennt und meint, die Parole „Tod den Juden“ sei Ausdruck eines legitimen Protestes gegen den Staat Israel, möge sich Klarheit über seinen Begriff von Antisemitismus verschaffen.

Hilfe verspricht dabei seit fünf Jahren die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die von zahlreichen Staaten, darunter Deutschland und Luxemburg, sowie zahlreichen Organisationen, etwa der Unesco oder der Europäischen Kommission, angenommen wurde. Sie lautet so: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Im März dieses Jahres veröffentlichten 200 Wissenschaftler*innen unter dem Namen „Jerusalemer Erklärung“ eine andere Definition, die sich von der der IHRA abgrenzt: „Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).“ 

Was die Jerusalemer Erklärung fundamental von der IHRA-Definition unterscheidet: Der Aspekt der „Wahrnehmung“ ist getilgt, außerdem das Kriterium, dass Antisemitismus auch dort vorliegen kann, wo nicht-jüdische Menschen angegriffen werden. Darüber hat neulich der luxemburgische Philosoph Hubert Hausemer im Luxemburger Wort sein Unverständnis ausgedrückt: „Mais que peut bien être un antisémitisme qui prend comme cible également des non-juifs?“ Die Frage ist schnell beantwortet: Man erinnere sich an Max Frischs Stück Andorra, in dem sich der Antisemitismus gegen den nicht-jüdischen Andri richtet, ein Stück, in dem vorzüglich gezeigt wird, dass zuallerletzt der Jude es ist, der den Antisemitismus provoziert. Aus antisemitischen Motiven können Menschen angegriffen werden, die sich für die Rechte von jüdischen Menschen einsetzen oder aus dekorativen oder solidarischen oder sonst welchen Gründen einen Davidstern tragen, ohne selbst jüdisch zu sein. Der Antisemitismus braucht keine „echten“ Juden, der Antisemitismus erfindet sie sich. Den Aspekt der „Wahrnehmung“ hält Hausemer in seinem Wort-Beitrag für gefährlich, weil er „dans le domaine subjectif“ angesiedelt sei. Natürlich ist er das. Aufgrund subjektiv verankerter Intentionen gibt es Hassverbrechen jeglicher Art. Insbesondere subjektive Empfindungen, so sehr sie auch gesellschaftlich vermittelt sind, führen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Der Hass beginnt im Kopf, bevor er sich in Handlungen manifestiert. Und aus dem Kopf verschwindet er nicht so schnell. Weil jüdische Menschen auf den Straßen Berlins nach 1945 nicht mehr deportiert oder gleich erschossen wurden, bedeutete das eben nicht, dass die Deutschen nicht mehr antisemitisch waren. Man lese dazu die Studien der Frankfurter Schule. Die „Wahrnehmung“ jüdischer Menschen als jüdische Menschen ist der Ausgangspunkt jeglicher antisemitischer Aktion, und somit ist „Wahrnehmung“ ein notwendiger Bestandteil einer Antisemitismus-Definition.

Entscheidend ist ein weiterer Unterschied zwischen den beiden hier diskutierten Definitionen: Ihnen sind Beispiele für Antisemitismus beigegeben, der „Jerusalemer Erklärung“ zudem explizit auch Beispiele, was nicht Antisemitismus sein soll. Ihr zufolge wäre etwa eine Parole wie „From the River To the Sea, Palestine Will Be Free“ nicht antisemitisch, weil sie ein legitimes, so der Text eines der nicht als antisemitisch zu wertenden Beispiele der Jerusalemer Erklärung, „Eintreten für diverse verfassungsrechtliche Lösungen für Juden und Palästinenser in dem Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer“ darstelle. Diverse verfassungsrechtliche Lösungen – von Einstaaten- über Zweistaaten- bis zu föderalen Lösungen – sind selbstverständlich nicht per se antisemitisch. Aber die oben genannte Parole, die ein Palästina zwischen Jordan und Mittelmeer aufruft und die am 13. Mai dieses Jahres auf einem Transparent bei der „Free Palestine“-Demonstration am Luxemburger Hamilius zu sehen war, lässt aus einem einfachen Grund aufhorchen: Zwischen Fluss und Meer, da befindet sich der Staat Israel. Wenn die feuchten Träume solcher Plakatträger wahr würden, dann gäbe es kein Israel mehr. Das ist keine Israel-­Kritik, das ist der Wunsch nach Auslöschung des jüdischen Staates und dem jüdischen Teil seiner Bevölkerung.

Die Jerusalemer Erklärung ist der Versuch, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Das ist jedoch gar nicht notwendig, weil auch unter Berücksichtigung der IHRA-Definition – auch wenn ihre Kritiker*innen dies bestreiten – Israel-Kritik möglich ist. „Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden“, heißt es im Text der IHRA. Demnach ist Kritik zum Beispiel an der israelischen Siedlungspolitik nicht als antisemitisch zu werten und legitim, ganz genauso, wie wir Putin für seine Ukraine- oder Merkel für ihre Russlandpolitik kritisieren können, ohne als russo- oder germanophob zu gelten. Die Grenzen des Sagbaren zu verschieben, ist aber nicht nur nicht notwendig, es ist brandgefährlich.

Im Lëtzebuerger Land durfte Jacques Drescher am 21. Mai, einen Tag nachdem Israel und Hamas sich auf einen Waffenstillstand geeinigt hatten, ein Gedicht publizieren, ein Schreiber, der sowieso nicht für subtile Lyrik bekannt ist, ein Gedicht, in dem behauptet wird, dass die Palästinenser in den Augen der Israelis kein Existenzrecht hätten, die Weltgemeinschaft der Kolonialmacht Israel Waffen liefere, damit diese mit Kanonen auf Spatzen schießen könne, und Israel über den Gesetzen stehe. Und bei alledem, so der Titel des Poems: „D’Welt kuckt no“. Tatsächlich aber ist es doch so: Die Hamas spricht durch ihr machtpolitisches Kalkül der eigenen Bevölkerung in Gaza das Existenzrecht ab, Hamas ist kein Spatz, sondern eine Terrororganisation, deren Charta zum Widerlichsten gehört, was der internationale Antisemitismus bis dato hervorgebracht hat, und tatsächlich ist die Weltgemeinschaft diejenige, die in zahlreichen UN-Resolutionen immer wieder Israel sanktioniert, so häufig wie kein anderes Land, zum Beispiel und rezent, was die Verletzung der Rechte palästinensischer Frauen angeht. Nicht die Türkei, die dieser Tage die Istanbul-Konvention aufkündigt, nicht der Iran, wo Frauen ohne Einwilligung des Mannes ihr Land nicht verlassen dürfen, wurden sanktioniert, sondern Israel. Eingebracht wurde die Resolution u. a. von Saudi-Arabien und dem Iran. Was ein souveräner Staat tun solle, der bombardiert wird: Die Frage beantwortet Drescher nicht, er stellt sie nicht einmal. Zuschauen? Oder sich gleich selbst auflösen? Genau das ist das Gefährliche an den Verschiebungen der Grenzen des Sagbaren, an denen auch der Land-Lyriker werkelt. Und wenn die sich weiter verschieben, und wenn sich die Wahrnehmung radikalisiert, und wenn der Antisemitismus sich bei noch mehr Menschen festsetzt, dann sind brennende Synagogen, wie zuletzt in Ulm, oder eine Jüdin, die gefoltert und aus dem Fenster geworfen wird, wie die 65-jährige Sarah Halimi 2017 in Paris, irgendwann keine Einzelfälle mehr.

Die IHRA-Definition ist ein hilfreiches Werkzeug, um das Gift zu erkennen, das sich zunehmend in unseren Gesellschaften ausbreitet. Aus dem soeben erschienenen Bericht des RIAL für das Jahr 2020 lernen wir, dass die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Luxemburg von 26 (2018) auf 47 (2019) auf 64 im Jahr 2020 gestiegen ist. Es sind bei uns im Land überwiegend noch Worte, hier brennt es nicht, und kein Jude wurde ermordet, aber die Worte, vor allem in den sozialen Medien, bedrohen jüdisches Leben auch in Luxemburg. Dabei galt nach 1945 doch die Maxime: Nie wieder.

Aber selbst die Singularität des Holocaust, aus der sich das „Nie wieder!“ speist, wird angekratzt. Ende Mai dieses Jahres veröffentlichte der australische Genozidforscher A. Dirk Moses auf dem Blog geschichtedergegenwart.ch einen viel beachteten und diskutierten Beitrag, in dem das früher von der extremen Rechten benutzte Schlagwort des „Schuldkultes“ der Deutschen aufgegriffen wird und in dem der Autor einen „Katechismus der Deutschen“ zu identifizieren meint, der nun endgültig abzuschaffen sei. Panisch, so Moses, klammerten sich die Deutschen an die Singularität des Holocaust und würden dabei übersehen, dass die „Eliminierung ganzer Gruppen in paranoiden und rachsüchtigen Kämpfen gegen ,Erbfeinde‘ keineswegs einzigartig und in der Weltgeschichte ein verbreitetes Muster ist.“ Diese Äußerung hätte bis vor einem Jahr niemand, der bei Sinnen ist und das Ausmaß der Shoah kennt, von sich gegeben: Im Jahr 2021 ist dies eine ernstgenommene Position, bei der die besondere Verantwortung der Deutschen gegenüber den Juden als religiöser Wahn gekennzeichnet wird, den man ihnen nun, wie bei einem Exorzismus, austreiben müsse. Auch hier verschiebt sich eine Grenze des Sagbaren, die in ihren Auswirkungen nicht dramatisch genug einzuschätzen ist. 

Fakt ist, dass die Befürchtung von Moses, den Unterzeichner*innen der Jerusalemer Erklärung oder von Hubert Hausemer, man dürfte beizeiten die Politik des Staates Israel nicht mehr kritisieren, eine absolute Pappfigur ist. Sie dürfen das. Aber wer ernsthaft an einem gerechten Frieden in Nahost interessiert ist, sollte es dabei tunlichst vermeiden, Antisemitismus als Kritik auszugeben. Eine simple Tatsache müsste doch überzeugen: Das Gegenteil von Antisemitismus ist nicht ein romantisierender Philosemitismus oder Israel­begeisterung, das Gegenteil von Antisemitismus ist die reine Überzeugung, dass man es für richtig hält, dass jüdische Menschen sich nicht fürchten müssen. 

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