Starke und verantwortungsbewusste Schüler*innen mit „Léieren duerch Engagement“
Gesellschaften sehen sich ständig neuen Herausforderungen gegenüber. Inwiefern hat die Coronakrise die Anforderungen an unsere aktuelle Gesellschaft weiter erhöht, und welche Fragen müssen dringend beantwortet werden? Wie wollen wir leben nach der Pandemie? Wäre jetzt nicht der ideale Moment, um uns eine andere Zukunft vorzustellen – und: Wie meistern wir diese Transformationsprozesse?
Zukunft assoziiert man mit Jugend. Wie fangen wir die Heranwachsenden nach über einem Jahr Corona-Einschränkungen auf? Und wie definieren wir Bildung gerade jetzt, da sich ein Neuanfang im Sinne der Nachhaltigkeit, der Gerechtigkeit und der demokratischen Partizipation geradezu aufdrängt? Welche Bildungsziele setzen wir uns heute, damit wir die Erwachsenen von morgen zu autonomen und resilienten Bürger*innen ausbilden? Wie verwandeln wir die Schule in einen Ort der Potenzialentfaltung und der Zukunftsgestaltung?
Pure Wissensvermittlung reicht nicht mehr, man muss die Jugend von heute mit den sogenannten Kompetenzen des 21. Jahrhunderts ausstatten: mit kritischem Geist, Kreativität, Kooperationsbereitschaft und Kommunikation.
Breiter Konsens herrscht ebenfalls darüber, dass man die Jugend zu starken und verantwortungsvollen Erwachsenen heranreifen lassen will. Sie sollen ihre jetzige und zukünftige Lebenswelt nachhaltig und sozial gestalten sowie die großen Themen und Herausforderungen der Menschheit angehen: darunter die Klimakrise, die Globalisierung und die Digitalisierung. Dies soll im Sinne der Vielfalt und der ethischen Frage nach dem Gemeinwohl sowie dem Respekt vor Minderheiten und der Natur geschehen. Die jungen Menschen sollten diesen Themen gegenüber offen sein und sie kritisch reflektieren.
Doch was bedeutet dies genau für Bildungsverantwortliche? Welche konkreten Methoden sollen angewandt werden, damit die definierten Bildungsziele erreicht und die Jugendlichen in den spezifischen Kompetenzen gefördert werden? In diesem Artikel wird die Methode Léieren duerch Engagement (LdE) vorgestellt, ein integratives und demokratisches Lernsetting, das Pisten öffnet und Wege zeigt. Außerdem wird der Frage nachgegangen, ob LdE im luxemburgischen Bildungssystem eine Alternative oder Ergänzung zu bestehenden und erprobten Formaten darstellt.
Was ist LdE?
LdE ist eine Methode, die gesellschaftliches Engagement von Kindern und Jugendlichen mit dem Lernen in der Schule verbindet. Sie hat zwei Hauptziele:
die Stärkung von Demokratie und Zivilgesellschaft sowie die Veränderung von Unterricht und Lernkultur. Schüler*innen lernen, Wissen praktisch anzuwenden und erkennen den Sinn schulischen Lernens. LdE ist in allen Fächern und in allen Jahrgängen umsetzbar.
LdE ist ein Baustein der Demokratiepädagogik und basiert auf den Ideen des amerikanischen Bildungsphilosophen John Dewey (1859-1952). Die Methode wurde über Jahrzehnte hinweg im angelsächsischen Raum unter dem Namen Service-Learning erprobt und weiterentwickelt und wird seit den 2000er Jahren auch zunehmend in Europa umgesetzt.
Konkrete Beispiele der LdE-Praxis
Handyführerschein für Senior*innen
Schüler*innen beschäftigen sich in Wirtschaftslehre mit Betriebssystemen von Smartphones sowie dem Erstellen von PowerPoint-Präsentationen und Printprodukten und erklären Senior*innen in Workshops die Funktionsweise ihres Smartphones, geben praktische Tipps für den alltäglichen Einsatz und versetzen sich in die Situation älterer Menschen hinein.
Netzrevolte
Schüler*innen lernen im Deutschunterricht unterschiedliche Textformate kennen, sie lernen, Fake News zu identifizieren, Quellen zu recherchieren und geben ihr Wissen an andere weiter, indem sie ein interaktives „Wahr oder Falsch“-Spiel für Jugendeinrichtungen ihrer Gemeinde entwickeln.
Wassertage für Tagesstättenkinder
Schüler*innen beschäftigen sich in Physik, Chemie und Biologie mit dem Themenkomplex Wasser und engagieren sich in einer Tagesstätte, indem sie an Thementagen zu Wasser teilnehmen, eine Bachwanderung durchführen oder den Bau eines Wasserspielplatzes für die Tagesstätte planen.
Gegen Schwarz-Weiß-Denken
Schüler*innen beschäftigen sich in Wirtschaft und Politik mit Rassismus, Vorurteilen und antidemokratischen Haltungen und engagieren sich für eine aufgeklärte, tolerante und offene Gesellschaft, zum Beispiel durch die Organisation einer Podiumsdiskussion, eines Flashmobs und durch die Gestaltung von Sensibilisierungsworkshops für junge Menschen.
Damit LdE-Projekte gelingen, wurden auf der Basis von jahrelangen Erfahrungen international anerkannte Standards erstellt, die bei der Entwicklung und Umsetzung der Projekte helfen sollen. Hier unterscheidet man sechs Standards:1
- Curriculare Anbindung: LdE stellt keine vom Unterricht losgelöste Aktivität der Klasse dar, sondern ist ein Bestandteil des Unterrichts;
- Realer Bedarf: LdE reagiert auf echte Herausforderungen im Umfeld der Schüler*innen (z. B. in ihrem Stadtteil);
- Schülerpartizipation: Die Schüler*innen sind an der Planung, Vorbereitung und Umsetzung des LdE-Projektes aktiv beteiligt;
- Außerschulische LdE-Partner: Das praktische Engagement findet außerhalb der Schule sowie als Zusammenarbeit zwischen den Lernenden und Partnerorganisationen statt;
- Reflexion: Die Erfahrungen der Schüler*innen werden durch den gezielten Einsatz von Reflexionsmethoden regelmäßig evaluiert;
- Abschluss und Anerkennung: Das Engagement und die Leistungen der Schüler*innen werden durch ein regelmäßig durchgeführtes Feedback während des gesamten Prozesses und bei einer abschließenden Veranstaltung gewürdigt.
Die sechs LdE-Standards zeigen, dass die Methode sowohl über klassische Projektarbeit als auch über ehrenamtliches Wirken hinausgeht: die Schüler*innenpartizipation, die Verknüpfung mit Lerninhalten, die Reflexion auf allen Ebenen und in allen Phasen des Projektes und die verbindliche Zusammenarbeit mit einem Engagementpartner machen aus LdE ein komplexes, integratives und demokratisches Lernsetting.
Im Mittelpunkt die Demokratiekompetenzen
Im Zentrum der LdE-Methode stehen Demokratiekompetenzen, Sozialkompetenzen sowie die Identität jedes Lernenden. Demokratiekompetenzen sind jene Fähigkeiten, die Bürger*innen benötigen, um wirksam an einer demokratischen Gesellschaft teilzunehmen.2 Ein Modell des Europarates benennt und erläutert diesbezüglich 20 unterschiedliche Kompetenzen aus den Bereichen „Werte“, „Einstellungen“, „Fähigkeiten“ sowie „Wissen und kritisches Denken“.3
Neben den Demokratie- und Sozialkompetenzen spielen auch die Identität und die Stärkung der Persönlichkeit Schlüsselrollen bei der LdE-Methode. Erst, wenn man weiß, was man will und wer man ist, kann man sich zu wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen und Themen positionieren und Krisen besser meistern.
LdE fördert Partizipation und wirkt sich auf die Resilienz der Jugendlichen in und nach Krisenzeiten aus. Untersuchungen aus der Katastrophenforschung haben wiederholt gezeigt, dass insbesondere die Zivilgesellschaft enorme Fähigkeiten zur Selbstorganisation besitzt und wertvolle Ressourcen zur Krisenbewältigung bereitstellen kann. Entscheidend ist dabei, dass die Bürger*innen und in diesem Fall die Jugendlichen effektiv einbezogen werden und dass frühzeitig Partizipationsstrukturen geschaffen wurden.4
Eine neue Lernkultur im Mittelpunkt
LdE stärkt und fördert Schlüsselkompetenzen und kann zu einer neuen Lehr- und Lernkultur beitragen:
Forschungsergebnisse der letzten zehn Jahren zeigen, dass ein projektorientierter Unterricht, der Selbstwirksamkeit ermöglicht und Verantwortungsbewusstsein trainiert, den Schüler*innen ein tieferes Verständnis der Lerninhalte gibt.
Auch die Kooperation mit außerschulischen Partnern trägt zu einer Veränderung der Lernkultur bei. Der*die Schüler*in wird dazu angeleitet, den Mikrokosmos Schule und damit die Komfortzone zu verlassen. Lernen wird realitätsbezogener. Die Kommunikation und die Abstimmung mit externen Partner*innen dienen dem Kompetenzerwerb. In diesem Sinne stärken Schüler*innen ihr Selbstbewusstsein und ihre Argumentationsfähigkeit. Sie lernen nicht nur, ihre eigenen Vorstellungen vorzubringen, sondern trainieren ihre Aushandlungskompetenzen und Kompromissbereitschaft.
Auch Reflexion spielt eine zentrale Rolle bei jedem LdE-Vorhaben und ist das Bindeglied zwischen dem Engagement, dem Lernen und der Arbeit im Team. Zitieren wir hier den Pionier der Demokratiepädagogik John Dewey: „We do not learn from experience, we learn from reflecting on experience.“5 Die Schüler*innen lernen dabei, sich selbst zu regulieren. Der Zugriff zur Metaebene stärkt junge Menschen auch in ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Außerdem stärkt LdE die Fähigkeit, „in sich hineinzuhören“. Forschungsergebnisse belegen, dass intrapersönlichen Fähigkeiten eine direkte Verbindung zum Wohlbefinden und der Gesundheit junger Menschen sind.
LdE-Praxis
In Deutschland wurde LdE 2001 in verschiedenen Bundesländern eingeführt. Seitdem sind viele Projekte durchgeführt und aufschlussreiche Erfahrungen gemacht worden. Die Stiftung LdE6 unterstützt die Methode und arbeitet inspirierende Modellprojekte aus. 2020 wurde der Schulpreis LdE an eine Schulklasse vergeben, die mit ihrem Projekt Fridays for Facts in Mathematik und Biologie die Ursachen und Folgen des Klimawandels erforschten, sich in Informatik mit digitalen Tools zur Informationsdarstellung beschäftigten und schließlich ihr neu erworbenes Wissen an Grund- und Mittelschüler*innen umliegender Schulen weitergaben. Sie erstellten kleine Erklärvideos, die wichtige Fakten anschaulich zusammenfassten, reflektierten gemeinsam ihr eigenes ökologisches Handeln und erarbeiteten klimafreundliche Handlungsalternativen. Erwähnenswert ist auch das Bundesland Schleswig-Holstein, das als Vorreiter in der LdE-Methode gilt und das Lernsetting 2018 in seine Bildungsziele integrierte und somit Persönlichkeitsentwicklung als Bildungsziel vorgibt. LdE wird hier im Wahlpflichtfach Fit for Future umgesetzt. Das fachliche Lernen im Unterricht wird in Form von inhaltsbezogenen Kompetenzen entlang folgender Basiskonzepte spezifiert: naturwissenschaftliche Bildung, digitale Bildung, kulturelle Bildung, gesellschaftspolitische Bildung, demokratische Grundbildung und soziale Bildung.
Auch in Luxemburg wird LdE seit fünf Jahren an verschiedenen Schulen erprobt. Deshalb gibt es schon Beispiele, die zeigen, wie sich das außerschulische Engagement von Schüler*innen organisatorisch in die schulischen Abläufe einbinden und inhaltlich mit den Bildungsplänen verschiedener Fächer vereinbaren lässt.
LdE-Projekte in Luxemburg
- Die Neuntklässler*innen verschiedener Klassen des Enseignement préparatoire des Lënster Lycée erkundeten 2018/19 mit einem Förster die Lebensbedingungen der Tiere und Pflanzen heimischer Wälder. Sie lernten, wie Nistkästchen selbst gebaut werden, organisierten selbstständig das dafür benötigte Material und hielten die Konstruktionsanleitungen schriftlich fest. Ihre erworbenen Fähig- und Fertigkeiten vermitteln sie Grundschulkindern sowie Senior*innen aus dem Altenheim in verschiedenen Ateliers.
- Schüler*innen des Atert Lycée Redange setzten sich im Schuljahr 2018/19 im Unterricht mit dem Thema Arbeit und Beschäftigung in Luxemburg auseinander. Sie studierten die aktuellen Zahlen des Arbeitsmarkts, analysierten die Entwicklung des Dienstleistungssektors seit 1960 und stellten Überlegungen über die Zukunft der Arbeit an. Parallel dazu engagieren sie sich bei der Millen ASBL aus Beckerich und leisten einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung und Neugestaltung des Museums für alte Berufe und Handwerke, indem sie unterschiedliche Informationen recherchieren sowie eigene Beiträge ausarbeiten und produzieren (u. a. Filmsequenzen, Audioaufnahmen, Fotografien). Ihre Nachforschungen werden darüber hinaus in enger Zusammenarbeit mit Senior*innen aus der Region durchgeführt.
- Schüler*innen des Atert Lycée Redange analysierten im Schuljahr 2020/21 die Bedeutung der Nachhaltigkeit für die zukünftige wirtschaftliche Strukturpolitik des Landes und engagierten sich für das unmittelbar neben der Schule liegende Äerdschëff, ein Laboratorium, welches sich mit klimaneutralem und ressourcenschonendem Leben auseinandersetzt.
- Verschiedene bildungspolitische Entwicklungen könnten den Einsatz von LdE im luxemburgischen Schulsystem gelingen lassen. Die Entwicklung von individuellen Schulprofilen, der weitere Ausbau von Ganztagsschulen, welcher neue Zeitstrukturen schafft und die Nutzung von verschiedenen Lernorten erleichtert, gehören dazu. Die Integration von LdE als Lernsetting zur Förderung der Kompetenzen des 21. Jahrhunderts und als Strategie der Resilienzförderung, in einen neuen Curriculum, in dem die traditionelle Abgrenzung der verschiedenen Fachdisziplinen abgeschafft wird, könnte ebenfalls unterstützend wirken.
Trotz Pandemie und Homeschooling wurden in Luxemburg auch 2020/21 verschiedene LdE-Projekte durchgeführt. Ein Projekt konzentrierte sich auf die Auswirkungen der Coronakrise auf die Psyche und die Lernmotivation der Jugendlichen. Die Schüler*innen führten im Informatikunterricht autonom eine Studie durch und stellten anhand neu entwickelter Tools die Resultate der Öffentlichkeit vor.
Weitere sinnstiftende Ideen für die Zukunft wären die Annäherung unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen anhand intergenerationeller Projekte. Auch bei Projekten zu Themen wie Verschwörungstheorien, Digitalisierung, Grundrechte und Ungleichheiten lässt sich das LdE-Modell anwenden. Somit ist es eine Methode, mit der sich die Brücke zu Demokratie- und politischer Bildung schlagen lässt. Krisen als Neubeginn im Sinne eines bounce forward9: Hiermit wäre die Einführung von LdE ins luxemburgische Bildungssystem ein durchaus zukunftsweisender und schüler*innenstärkender Schritt.
- https://www.oecd.org/site/educeri21st/40756908.pdf (letzter Aufruf: 17. August 2021).
- Anne Seifert / Sandra Zentner / Franziska Nagy, Praxisbuch Service-Learning, Weinheim und Basel, Beltz Verlag, 20192.
- Ebd.
- Europarat (Hg.), Kompetenzen für eine demokratische Kultur. Gleichberechtigtes Zusammenleben in kulturell unterschiedlichen demokratischen Gesellschaften, Straßburg, Council of Europe Publishing, 2018.
- https://rm.coe.int/16806ccc0b (letzter Aufruf: 17. August 2021).
- Florian Roth, Bouncing forward – Wie Erkenntnisse aus der Resilienzforschung in der Corona-Krise helfen können, Frauenhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, April 2020.
- John Dewey, How We Think: A Restatement of the Relation of Reflective Thinking to the Educative Process. Boston/MA, D.C. Heath & Co Publishers, 1933.
- https://www.servicelearning.de (letzter Aufruf: 17. August 2021).
- Aufbauend auf dem Resilienzbegriff im Sinne des bounce back ist auch der bounce forward als erweiterter Resilienzbegriff interessant. Hier steht die Fähigkeit im Zentrum, langfristig zu überleben und zu prosperieren. Ziel ist entsprechend nicht notwendigerweise die Rückkehr in den Systemzustand vor einem Schockereignis, sondern eine kontinuierliche Anpassung unter sich verändernden Umweltbedingungen. Durch diese Anpassung an neue Bedingungen wird der bounce forward möglich, bei dem das System nach einer Krise leistungsfähiger und langlebiger ist als davor.
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