Bildung an der frischen Luft, oder: Kanner virun d’Dier

Wenn wir von gebildeten Menschen reden, haben wir oft das Bild von älteren, weisen Frauen und Männern vor uns. Doch wie steht es um gebildete Kinder?

Wann sollte der Bildungsprozess in unserem Leben beginnen? Der Priester und Pädagoge Giovanni Melchiorre Bosco sagte schon vor 150 Jahren: „Gebt mir euer Kind für die ersten drei Jahre seines Lebens, und es wird mein Kind auf ewig sein.“ Alle großen Pädagogen und Hirnforscher haben diese symbolische Aussage längst bestätigt: Die ersten Lebensjahre eines Kindes sind entscheidend für fast alle späteren Prägungen, insbesondere was Erziehung und auch Bildung anbelangt.

Wir Erwachsenen haben ein genaues Leitbild vor uns, wozu und wie wir unsere Kinder erziehen sollten. Bildung muss jedoch dem einzelnen Menschen erlauben, seinen eigenen Weg zu bestimmen und dafür geradezustehen. Wie sieht, so fragte ich mich, denn nun die Bildungssituation in Luxemburg aus? Aufschlüsse versprach ich mir im luxemburgischen Bildungsbericht 2018 zu finden, ein Bericht, der in der Regel alle drei Jahre veröffentlich wird. Gespannt blätterte ich die 250 Seiten, geschrieben von Fachkräften der Uni Luxemburg, durch, auch um zu sehen, wie man es dort mit den für mich zentralen Bereichen der Umweltbildung und der Bildung zur nachhaltigen Entwicklung sieht. Nach einigen Stunden Lektüre wurde ich langsam ungeduldig. Eine präzise Definition des Bildungskonzeptes fand ich ebenso wenig wie Passagen zur Umweltbildung. Auf Nachfrage bei einem der Verfasser gab dieser mir schriftlich gegenüber zu: „Es stimmt leider: das Thema Bildung, insbesondere Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung ist im Bildungsbericht 2018 ein blinder Fleck, den wir nicht bearbeitet haben.“

Das war der Moment, an dem ich gemeinsam mit einigen Pädagogen beschloss, dass wir selbst aktiv werden müssen. So schlossen wir uns vor Kurzem zum Kollektiv Kanner virun d’Dier zusammen. Wir haben ein Plädoyer verfasst, das von 120 Persönlichkeiten aus den Bereichen Schule, Medizin, Psychologie und Sozialpädagogik unterschrieben und dem Bildungsministerium und der Presse zugestellt wurde. Es geht uns darum, dass wir Kindern virun d’Dier bestimmte Kompetenzen besser vermitteln können als im klassischen Schulzimmer, und zwar Zusammenhangswissen, Empathie, Weltverständnis, Planungsfähigkeit, Verantwortung übernehmen, Zukunftsfähigkeit, innovatives Denken, Fähigkeit zur Kritik, Teamgeist.

Unser Kollektiv verfasste auf Basis eines langen Diskussionsprozesses ein Plädoyer, dessen Endfassung gerne angefragt werden kann unter der Adresse:
kannervirunddier@gmail.com

Das Plädoyer ist in drei Kapitel eingeteilt:

1. Feststellungen

  • pädagogischer Natur: Schwierigkeiten bei der Aneignung von Kompetenzen, Fehlen eines Bezugs zum natürlichen Umfeld, Mangel an Geduld, vermehrter Frust beim Lernen, Verlust an Kreativität u. a.
  • sozio-kultureller und sozio-ökonomischer Natur: Die Schere zwischen Kindern aus Familien mit niedrigerem und solchen aus Familien mit höherem Einkommen wird trotz aller Bemühungen größer.
  • gesundheitlicher und motorischer Natur: Laut Aussagen von Kinderärzten, Sportmedizinern, Physiotherapeuten u. a. weisen Schulkinder häufig Rückenschmerzen, motorische Mängel und auch Fettleibigkeit auf, die alle auf Bewegungsmangel zurückzuführen sind.

2. Welche Schule wäre erstrebenswert?

Wir fordern eine Schule im Leben, fürs Leben. 

  • Leben spielt sich aber größtenteils draußen ab, nicht nur in der Schulbank. Learning by doing, greifen und begreifen, lernen mit allen Sinnen sind einige Grundprinzipien allen Lernens. Wissen allein genügt nicht. Bildung erfordert die Verknüpfung mit dem wahren Leben. 
  • Bildung entsteht im Kontakt mit Freunden in der Gesellschaft, mit anderen Generationen. Weltoffenes Lernen heißt auch erleben, das kann man nur vor Ort, sei es die Erkundung unserer Geschichte, der Geografie, der Landschaftskunde usw. Doch auch Literatur und Mathematik können und sollen außerhalb des Klassensaals angewandt werden.
  • Gesundes Leben braucht Bewegung. Wir lernen besser in Bewegung. Gehirnforscher haben diesen Zusammenhang mittlerweile zur Genüge bestätigt.
  • Bildung ist kein Stillstand, Bildung ist permanentes Umdenken, sie entsteht durch neue Orientierungen, neue Verknüpfungen. Das kann der Schüler nicht in den vier Wänden der Schule erleben. 

3. Wie wollen wir unsere Ideen umsetzen?

Wir alle haben in Pandemiezeiten hinzugelernt. Digitale Lernformen sind überaus nützlich, genügen jedoch keineswegs. Wir müssen ein Umfeld schaffen, das es ermöglicht, den angestrebten Bildungsprozess draußen vor der Tür zu gestalten.

  • Aus- und Weiterbildung sollten Lust vermitteln und Sicherheit geben, um mit Kindern außerhalb der Schule zu lernen.
  • Berechtigte Bedenken müssen diskutiert werden. Best Practice-Beispiele helfen dabei, diese Bedenken abzubauen und Akzeptanz zu schaffen.
  • Schule vor der Tür muss verankert werden in den Plans d’études und dem Cadre de référence fir d’Maison relais, muss aber ausdrücklich von den Direktionen gewünscht und unterstützt werden.
  • Außerschulische Lernorte sollten vermehrt aufgebaut oder unterstützt werden u. a. durch die Einrichtung von Forscherhäusern, Technikschulen für Kinder, Ateliers, Schulgärten usw.
  • Wenn wir Bildung an unsere Kinder heran­tragen möchten, so müssen wir die Kinder in Kontakt mit dem wirklichen, unmittelbaren Leben, mit den Menschen in der Gesellschaft, mit historischen Orten und mit der Natur bringen. Wissen, ohne Bezug zur Gegenwart und zum realen Leben, ist unnütz. 

Also: Kanner virun d’Dier!  

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