Bildung von gestern für die Bürger*innen von morgen?
Wie Lehren und Lernen sich angesichts der Klimakrise verändern sollten
Ob es sich nun schlussendlich um eine 1,5 °C, eine 2 °C oder eine 3 °C Erderwärmung handeln wird, es ist unbestreitbar, dass die Zukunft der Generationen Z und Alpha und ihrer Nachfolger*innen von den Konsequenzen der Klima- und Umweltkrise geprägt sein wird. Klimaflüchtlinge, Überflutungen, Hitzewellen, Nahrungsmittelknappheit, Massenaussterben, Waldbrände usw. werden zur alltäglichen Realität, auch wenn es unklar ist, wie stark sich dies an welchen Orten auswirken wird. Priorität muss jetzt haben, diese negativen, gut erforschten Konsequenzen so schnell wie möglich und so stark wie möglich zu minimieren und zu versuchen, die zukünftigen Generationen vor den Katastrophen der Klimakrise möglichst gut zu schützen.
Fünf Aufgaben für die Schule
Die Schule hat in Bezug auf die Klima- und Umweltkrise in meinen Augen fünf Aufgaben:
Erstens muss sie den Schüler*innen Wissen über die Klima- und Umweltkrise vermitteln. Um aktiv gegen diese Krise vorgehen zu können, muss man sich in einem ersten Schritt informieren. Diese Wissensvermittlung sollte sich aber nicht nur in einem wissenschaftlichen Rahmen abspielen, sondern auch in einem politischen, soziologischen und philosophischen. Darüber hinaus kann man das Thema „Umwelt und Natur“ in fast jedem Fach einbinden, wie zum Beispiel in der Kunst oder der Musik, Fächer, an die man in diesem Kontext eher selten denkt: Beispiele von ökologischer Kunst wären Katie Holtens Malereien, in denen sie die Beziehung zwischen organischen Systemen und von Menschen erzeugten Systemen untersucht oder Mel Chins digitale Zukunftsvisionen, in denen man New York, von steigendem Wasser überflutet, anhand eines Virtual Reality Videos sehen kann. Allison Janae Hamiltons Fotografien, in denen sie sich mit der Verbindung zwischen Klimakrise und sozio-politischen Ungleichheiten auseinandersetzt, Lina Lapelytes Oper Sun&Sea, die sich mit den Konsequenzen der Erderwärmung und der Wetterextreme befasst, oder Olafur Eliassons Kunstinstallation schmelzender Eisblöcke in London wären weitere Beispiele. Auch die Art und Weise, wie Wissen vermittelt wird, ist sehr wichtig: Bildung sollte kreativ gestaltet, kreativitätsfördernd und interaktiv sein. Um Schüler*innen wirklich für ein Thema zu begeistern, muss man ihnen den Freiraum lassen, sich selbst Fragen zu stellen, selbst zu forschen, nachzufragen, eigene Perspektiven zu beziehen und zu hinterfragen und dann auch selbst Initiative zu ergreifen.
Zweitens soll die Schule aus jungen Menschen kritisch denkende Bürger*innen machen. Obwohl sie politisch neutral sein soll (hier stellt sich natürlich die Frage, inwiefern dies überhaupt möglich ist), hat Schule zweifellos einen sehr großen Einfluss auf die Politik, weil sie die zukünftigen Wähler*innen, Politiker*innen und Weltgestalter*innen ausbildet und ihnen ihre Werte vermittelt. Sie soll junge Menschen dazu anregen, aktiv ihre Zukunft mitgestalten zu wollen und ihnen helfen, zu Bürger*innen heranzuwachsen, die sich nicht manipulieren und von ihren Werten abbringen lassen. Menschen, die die aktuelle unverantwortliche Klima- und Umweltpolitik nicht dulden würden, weil sie die Untätigkeit der Regierungen aufgrund eines einseitigen Fokus auf Profit und Geld hinterfragen würden. Menschen, die über die alltäglichen Genüsse ihres Lebens als Privilegierte aus westlichen Ländern hinausblicken könnten, um nicht nur die Klimakrise, sondern auch die soziale Krise in ihrer intersektionellen und globalen Komplexität zu verstehen und dagegen handeln zu wollen.
Drittens muss die Schule Schüler*innen auf eine ungewisse Zukunft vorbereiten, für die man zwangsläufig spezifische Fähigkeiten braucht. Die Klimakrise wird die Arbeitswelt, die Landwirtschaft und Ernährung, die Sicherheit, die demografische Situation, kurz die gesamte Gesellschaft und die Lebensweise der Generationen Z, Alpha und der darauffolgenden Generationen stark verändern. Deswegen muss sich auch die Bildung der jungen Menschen stark verändern. Hier handelt es sich vor allem um Resilienz, also die Fähigkeit, mit einem Krisenzustand umgehen zu können und sich recht schnell und selbstsicher neuen Herausforderungen stellen zu können. Die Psycholog*innen Karen Reivich und Andrew Shatté analysieren die Resilienz als eine Fähigkeit, die aus sieben „Resilienzfaktoren“ besteht: Akzeptanz (sei es Selbstakzeptanz, die Akzeptanz Anderer oder auch Akzeptanz einer Situation), Bindung und Kontakt zu anderen, Lösungsorientierung, gesunder Optimismus, Selbstwahrnehmung (also Achtsamkeit sich selbst, aber auch anderen Menschen gegenüber), Selbstreflexion und Selbstwirksamkeit (also die Überzeugung, dass man selbst in der Lage ist, etwas zu verändern und zu verbessern).
Viertens muss die Schule den Schüler*innen die Möglichkeit geben, in Kontakt mit der Natur zu kommen. Man kann die Umweltkrise viel besser verstehen, wenn man eine Verbindung zur Natur hat, diese schätzt und respektiert, und sich dadurch auch stärker um sie sorgt. Darüber hinaus fördern das Spielen und Lernen in der Natur die Kreativität und Neugier der Kinder und Jugendlichen. In der Natur gibt es kein speziell für Kinder gebautes Spielzeug, man muss es sich selbst bauen. Das Klassenzimmer in der Natur hat keine vier Wände, Stühle, Tische und 85 m², sondern ist riesengroß und hat unendlich viele Spiel- und Lernmöglichkeiten. Besonders wichtig ist es, dass diese Verbindung mit der Natur – Naturprojekte spielen im Gymnasium leider eine immer kleinere Rolle – im Jugendalter nicht abreißt, sondern eine andere Form annimmt (Forschungsprojekte, Landart, etc.). Obwohl es in Luxemburg bereits Initiativen wie die Natur- und Waldpädagogik gibt (siehe dazu auch den Beitrag von Pit Mischo in diesem Dossier), sollten diese Projekte noch stärker gefördert werden.
Letztens und fünftens muss die Schule es Schüler*innen ermöglichen, sich auch emotional mit dem Thema auseinanderzusetzen. Das Thema Klima und Umwelt wird oft entweder mit einem kompletten Fokus auf Ratio und Wissenschaft angegangen oder der Naturbezug wird einseitig romantisiert und sentimentalisiert. Zugleich kann man nicht leugnen, dass die Klimakrise für junge Menschen auch ein emotionales Thema ist, sei es in Bezug auf die vielen Menschenopfer, die die aktuellen klimabedingten Naturkatastrophen bereits gefordert haben, das Artensterben und das Leiden der Tiere an den Konsequenzen der Klima- und Biodiversitätskrise, die Zukunftsängste angesichts der Klimakrise oder die kollektiven Schuldgefühle. Es ist also auch wichtig, sich mit dieser komplizierten Gefühlsrealität auseinanderzusetzen.
Inwiefern wird die Schule diesen Forderungen aktuell gerecht?
Im Schulcurriculum findet man die Umweltfrage sehr oft im Kontext der Sprachenfächer. Hier fällt die Klimakrise in die Kategorie der Aktualitätsthemen. Darauf basierend wird das Thema einerseits also oft in Klassen behandelt und diskutiert, andererseits kann ich aus eigener Erfahrung berichten, dass es häufig nur oberflächlich behandelt wird und immer nur anhand eines einzelnen Artikels oder eines Dokumentarfilms. Weil man als Lehrer*in starken Einfluss auf die zu analysierden Aktualitätsthemen hat, heißt dies auch – und dies haben fast alle Schüler*innen, mit denen ich im Kontext dieses Beitrags gesprochen habe, bestätigt –, dass die Behandlung der Umweltkrise abhängig von den persönlichen Interessen und der politischen Einstellung der jeweiligen Lehrer*innen ist. Die Klimakrise muss einen anderen Stellenwert erhalten und soll nicht nur als Aktualitätsthema behandelt werden, sondern in die Programmgestaltung aller Fächer einfließen.
Ein anderes noch zu lösendes Problem ist die Art und Weise, wie in der Schule von Aktualitätsthemen wie Klima- oder Flüchtlingskrise gesprochen wird. Die Herangehensweise vieler Lehrer*innen in Luxemburg an die Klimakrise ähnelt ihrer Herangehensweise an die Sexualkunde. Beide sind ein Pflichtprogrammpunkt, den alle Schüler*innen wenigstens einmal behandelt haben sollen – und den man dann von der To-Do-Liste streichen kann. So fühlt es sich auf jeden Fall in manchen Unterrichtsstunden als Schüler*in an. Oft werden diese Themen ohne viel Vorbereitung angesprochen und ohne viel Kreativität behandelt. Auch spricht man häufig ganz generell von der „Umweltfrage“ und wirft hier in gedrängter Form, ohne Bezüge herzustellen, das Plastik-Problem mit der Erderwärmung, das Massenaussterben von Tierarten mit dem Problem des Ozonlochs zusammen. Weil diese Themen aber „anscheinend“ so wichtig sind, werden sie immer und immer wieder behandelt, leider aber häufig mit den gleichen Mängeln, mit nur reduzierter Wissensvermittlung und immer so generell und gleichartig, dass es schwierig ist, wirkliches Interesse bei jungen Menschen zu wecken. Dies führt dann dazu, dass diese Themen in ihrer wiedergekäuten Aufbereitung „ausgelutscht“ wirken und die Begeisterung der Schüler*innen eher ab- als zunimmt.
Auch wird meiner Meinung nach mit fehlender Dringlichkeit über die Klimakrise gesprochen, es geht noch immer um „Klimawandel“. Ein „Wandel“ fordert aber viel weniger eine Übernahme von Verantwortung und kollektives und individuelles Handeln als der Begriff „Krise“. Wie schon erwähnt, ist die Schule „nicht politisch“, sondern soll sich auf eine wissenschaftliche Faktenbasis beziehen: Aber gerade deswegen, wegen der überwältigenden Übereinstimmung wissenschaftlicher Belege, muss sie diese Dringlichkeit vermitteln, und sich von der Politik unterscheiden, die diese Dringlichkeit aus kurzfristig angelegten wirtschaftlichen Interessen stark herunterspielt.
Zusätzlich wird von der Klima- und Umweltkrise oft nur in einem rein wissenschaftlichen Kontext gesprochen. Dies steht einem intersektionellen Verständnis der Umweltfrage im Weg. Eine intersektionelle Vorgehensweise bringt auf wissenschaftlicher Basis sozio-politische Aspekte, wie z.B. die Tatsache, dass die Menschen aus dem Globalen Süden eher von der Klimakrise betroffen sind und sein werden als die Menschen aus dem Globalen Norden, mit dem Problem in Verbindung, dass Frauen und People of Colour statistisch am stärksten unter den Konsequenzen der Klimakrise leiden werden.
Wenn in der Schule über Umwelt gesprochen wird und dies auch tatsächlich auf eine kreative Weise getan wird, dann werden oft Recycling- oder Upcycling-Projekte organisiert, Insektenhotels gebaut oder Blumen gepflanzt. Obwohl diese Initiativen, bei denen Kinder selbst in Kontakt mit der Natur kommen, wie schon erwähnt, absolut wichtig sind, bleibt es oft nur bei diesen vereinzelten Projekten. Der Fokus liegt hier also auf individuellen Handlungen und es wird nur am Rande auf die Dringlichkeit eines Systemwandels mit all seinen individuellen und kollektiven Konsequenzen hingewiesen. Obwohl diese Projekte ohne Zweifel nützlich sind, legen sie den Fokus hauptsächlich auf die Verantwortung der Einzelnen. Individuelles Handeln ist und bleibt wichtig, kann aber dennoch nur begrenzt Einfluss auf Treibhausgasemissionen und Umweltschäden haben. Schnelle und konkrete Besserungen, also das, was wir im Moment wirklich brauchen, können und müssen von der Politik kommen. Obwohl man also durch solche Projekte das Gefühl hat, aktiv an der Zukunftsgestaltung teilzunehmen, fühlt man sich im Endeffekt als Individuum eher ohnmächtig. Weiterhin ist „Schuld“ ein integrativer Teil dieser Denkweise: Den Einzelnen wird ihr individuelles, unverantwortliches Handeln vor Augen geführt und suggeriert, man könne das Problem allein durch individuelles Umdenken lösen. Natürlich tragen wir alle Verantwortung, und weil wir dieser oft nicht gerecht werden, auch „Schuld“. Erstens, weil wir mit unserer Lebensweise aktiv zur Umweltkrise beitragen, aber – und auch dies wird häufig nicht thematisiert – hauptsächlich, weil wir weiterhin mit unserer politischen Passivität, unserer Politikverdrossenheit, ein kapitalistisches System stützen, dessen Grundprinzipien der Klimagerechtigkeit diametral gegenüberstehen. Es ist wichtig, den Blick zu erweitern und zu erkennen, dass wir in unserem konsumgesteuerten Verhalten einen Umwelt sowie Klima und soziale Zusammengehörigkeit bedrohenden Kapitalismus stützen und dass auch in diesem Punkt unser Eingreifen entscheidend ist. Es reicht hier nicht, in einem plastikfreien Laden einzukaufen oder einen eigenen Gemüsegarten anzulegen. In Übereinstimmung mit der Denkweise der Resilienz ist es wichtig, die Schüler*innen zu stärken, und dies so, dass sie sich selbstwirksam genug fühlen, nicht nur zu einem individuellen Umdenken, sondern um zusammen wirklich aktiv zu werden, um anhand der politischen Partizipation zu einem Systemwandel beizutragen.
Lösungsansätze gibt es bereits
Die wenigsten wissen wahrscheinlich, dass es seit 2008 in Luxemburg ein Comité interministériel de l’éducation au développement durable (CIEDD)1 gibt, das im Rahmen der Education au développement durable (EDD) der Unesco geschaffen wurde.
In der Stratégie nationale d’éducation pour un développement durable2 stellt das Ministerium selbst fest, dass die Umweltfrage über die wissenschaftlichen Fächer hinausgeht und interdisziplinär behandelt werden soll, dass die Klima- und Umweltkrise also sowohl ein wissenschaftliches, gesellschaftliches als auch ökonomisches Thema ist. Obwohl es diese Stratégie nationale d’éducation pour un développement durable seit 2011 gibt und diese viele Probleme des luxemburgischen Schulsystems akkurat diagnostiziert und gute und interessante Vorschläge macht, stelle ich aus meiner persönlichen Erfahrung und der vieler anderer luxemburgischer Schüler*innen fest, dass sich konkret bisher dennoch wenig verändert hat.
Das Problem ist auch ein strukturelles. Das luxemburgische Schulsystem ist trotz Reformen und einiger interessanter Pilotprojekte traditionell und veraltet: Das Lernen der Schüler*innen ist zu oft weder nachhaltig noch kreativ, Schüler*innen müssen Informationen aufnehmen, in Prüfungen wiedergeben und – in dieser Weise aufgenommen – vergessen sie diese anschließend vielfach wieder. Auch wenn es, wie erwähnt, besonders in Pilotschulen wie zum Beispiel dem Lycée Ermesinde, Bemühungen gibt, vom Frontalunterricht, von rigiden Regeln und traditionellem Prüfungs- und Punktesystem wegzukommen, fehlt es stark an politisch-pädagogischem Reformwillen. Wie kann man Nachhaltigkeit lehren, wenn Lernen nicht nachhaltig ist?
- https://bne.lu/comite-interministeriel-edd (letzter Aufruf: 16. August 2021).
- https://tinyurl.com/mhuzz8m9 (letzter Aufruf: 16. August 2021).
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