Die Stolpersteine für Zwangsrekrutierte in Junglinster

Ein Essay über Erinnerungskultur und Geschichtsklitterung in Luxemburg

An der Baltesscheier auf der Place des Enrôlés de force in Junglinster steht seit 1989 ein Ehrenmal für die Toten des Zweiten Weltkriegs. Es sagt viel aus über die Art und Weise, wie in Luxemburg dieser Menschen gedacht wird. Sein oberer Teil besteht aus einem in Sandstein gehauenen leidgeprüften und segnenden Christus Pantokrator im Halbrelief, umrahmt von barocken Voluten. Drei Marmorplatten bilden den unteren Teil, von denen die rechte den zehn Geiseln gewidmet ist, die 1944 nach der Exekution des Junglinsterer NS-Ortsgruppenleiters durch Widerstandskämpfer von den Schergen des NS-Regimes erschossen wurden. Die linke Platte erinnert an zwölf Zwangsrekrutierte, und die in der Mitte, also genau unter dem Jesus-Halbrelief, an vier Juden. Die Widmungen sind wie folgt formuliert: „als Geisel fir Jonglënster erschoss“, „an d’Wehrmacht gezwongen a gefall“ und für die Juden „am KZ gestuerwen“ – und darunter: „1940-1945“. 

Dieses Denkmal vereint in einer einzigen Leidensgemeinschaft unter dem Zeichen des christlichen Gottessohnes, vor dem alle gleich sind, alle Ortsansässigen und jene, die als Folge dessen, was sich in Junglinster zwischen 1940 und 1945 zutrug, sowohl Opfer von Kriegsverbrechen wurden – so die Geiseln und Zwangsrekrutierten – als auch die Juden, die Opfer der rassischen Verfolgung durch die Nazis waren. Und doch gibt es feine, aber nicht unerhebliche Unterschiede in der Formulierung der Inschriften. Während die höchstwahrscheinlich allesamt katholisch getauften Geiseln und Zwangsrekrutierten entweder als „erschossen“ oder „gefallen“ beschrieben werden, sind die jüdischen Menschen, so der euphemistische Ausdruck, „im KZ gestorben“. Sie sind also nicht ermordet worden, nicht Opfer gewesen von Verfolgung und der Gewalt, die ihnen angetan wurde. Sie sind sozusagen schicksalhaft dahingerafft worden. Immerhin, und das ist in Luxemburg selten genug bei lokalen Mahnmalen, werden die Juden als Teil der nationalen Leidensgemeinschaft betrachtet. Allerdings werden sie von denen, die das Denkmal in Junglinster konzipiert haben, direkt unter dem Zeichen Jesu angeführt, den sie als Juden nicht als Gottessohn anerkennen, der sie aber in seiner Gnade posthum, so die Aussage des Mals, unter seinen segenreichen Schutz nimmt. Das ästhetisch äußerst konservativ angelegte Mahnmal von Junglinster ist in Stein und Marmor gemeißelte Substitutionstheologie. Kaum woanders zeigt sich so klar, dass die Idee der Leidensgemeinschaft der Luxemburger, in der alle gleich dastehen, als Leitmotiv einer Erinnerungskultur unmittelbar nach dem Kriege vor allem eine katholische war, weil das dominierende nationale Narrativ, besonders ab 1919, ein konservativ-katholisches war.

Statut und Geschichte

Das Junglinsterer Denkmal zeichnet sich zudem dadurch aus, dass es keine der anderen Kategorien benutzt, die so oft in der luxemburgischen Erinnerungskultur angeführt werden. Die Zwangsrekrutierten sind z. B. nicht als „morts pour la patrie“ erwähnt, obschon diese gesellschaftlich beschwichtigende, aber historisch nicht akkurate Bezeichnung schon durch die Exilregierung per Dekret1 vorbeugend allen zugestanden wurde, die in eine fremde Uniform gezwungen bei Kriegshandlungen ums Leben kamen, um sie vor der posthumen Schmach zu bewahren und zusätzlichen Spannungen in einem befreiten, aber entzweiten Luxemburg vorzubeugen. Das aber genügte im Nachkriegs-Luxemburg dem Verband der Zwangsrekrutierten nicht, also denen, die sich weder dem Wehrdienst entzogen hatten noch Refraktäre oder Deserteure waren und u. U. bei den Alliierten oder den Partisanen weitergekämpft hatten. Sie gaben keine Ruhe, bis sie 1967 per Gesetz das ebenso wenig historisch akkurate Statut von „Opfern des Nationalsozialismus“ erlangten und vom Staat 1981, ebenso wie die Widerstandskämpfer, entschädigt wurden.

Historisch nicht akkurat ist diese Bezeichnung, weil Zwangsrekrutierte – anders als Juden, Sinti, Roma, Widerstandskämpfer, Refraktäre, Deserteure, politische Opponenten, Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung oder Homo­sexuelle – nicht Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung waren, sondern eines Bruchs mit dem internationalen Kriegsrecht, das einer kriegsführenden Partei verbat, Menschen eines durch sie besetzten Gebietes für ihre Streitkräfte zu rekrutieren oder zur Arbeit zu zwingen. Anders als diejenigen, deren Vernichtung im Zentrum der nationalsozialistischen Politik stand, wurden sie vom NS-Regime nicht verfolgt, solange sie sich dessen Auflagen beugten. Sie hatten – anders als Juden und andere Opfergruppen – eine Wahl. Sie haben letztendlich mit der Waffe in der Hand in der Wehrmacht gedient, die eine verbrecherische Organisation war und einen Vernichtungskrieg gegen ihre militärischen und nicht-militärischen Gegner führte.

Diese sehr jungen Männer, die nicht zufällig „Ons Jongen“ genannt werden, weil sie aus der Mitte der Bevölkerung stammten und die Hoffnungsträger ihrer Familien waren, haben schrecklich gelitten – und zwar doppelt: einerseits als Soldaten unteren Ranges, sehr jung, mäßig ausgebildet, als Kanonenfutter des vorletzten oder letzten Aufgebots in einen blutigen Krieg geschickt, der fast drei­tausend unter ihnen das Leben kostete; andererseits aber auch als Luxemburger, die ihren Wehrdienst im grauen Rock nur widerwillig leisteten in einem Krieg, der nicht der ihre war. Ihr Tod und die Versehrungen der Rückkehrer haben Traumata in ihrem familiären und sozialen Umfeld ausgelöst, die über drei Generationen bis heute immer noch nachbeben. 

Das alles ändert aber nichts an der Tatsache, dass man ihrer Leiden nicht auf die gleiche Art und Weise gedenken kann wie der der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, die das NS-Regime auslöschen wollte. Dabei geht es nicht darum, die Leiden der Zwangsrekrutierten zu negieren oder zu relativieren, das wäre dumm und unmenschlich. Noch weniger geht es darum, eine Hierarchie der Leiden aufzustellen, eine widerwärtige Argumentation, die bei dieser Diskussion immer wieder auftaucht. Es geht vielmehr um eine Differenzierung aus historischer Perspektive, um das Abweisen ungerechtfertigter Ansprüche und Amalgame in der Erinnerungskultur. Es geht um die Verteidigung einer Erinnerungskultur, die sich von den Erkenntnissen der Geschichtsforschung nährt und damit Empathie für die verschiedenen historischen Erinnerungsstränge fördert, zwischen denen es immer wieder zu Spannungen gekommen ist und kommen wird. 

Zu Spannungen kam und kommt es aber immer wieder gerade wegen ungerechtfertigter Ansprüche und einer damit verbundenen Geschichtsklitterung. Diese stammen in der Regel aus den Kreisen der Zwangsrekrutierten bzw. deren Nachkommen, die, wer könnte es ihnen verdenken, das Gedenken an sie wachhalten wollen. Diese Ansprüche lassen sich einfach zusammenfassen: Es geht ihnen um die Gleichstellung der Zwangsrekrutierten mit den Opfern der Shoah und der NS-Repression gegen den Widerstand. Diese Ansprüche wurden lauter, seit die Luxemburger Öffentlichkeit Ende der 80er Jahre begonnen hatte, sich mit dem Schicksal der Juden auseinanderzusetzen, die von Luxemburg aus ins Exil getrieben bzw. in die Todeslager geschickt wurden. Je besser die Shoah in Luxemburg dokumentiert wurde, umso stärker kamen das Opfernarrativ der Zwangsrekrutierten und ihre Ansprüche nach Gleichstellung in Bedrängnis. 

Erinnerungskultur bis in die 80er Jahre

Das dominierende konservativ-katholische Milieu hatte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Zwangsrekrutierten mit seiner normativen Kraft und seinem nationalen Narrativ sehr lange unterstützt. Die Mütter der gefallenen Söhne identifizierten sich mit der Mater dolorosa. Die Kirche, ganz in ihrer Rolle, spendete einen kollektiv ritualisierten und stark symbolisierten Trost in der Trauer um junge Männer, deren Grabstätte in den meisten Fällen nicht bekannt war, von denen die Familien nie richtig hatten Abschied nehmen können. Die gefallenen Söhne, deren Porträts in Haus und Wohnung hingen oder standen, wurden wie Heilige und Märtyrer verehrt. Das Prinzip des „De mortuis nihil nisi bene“ führte zuletzt zum Schweigen um sie, die unantastbaren Totems. In den Familien fühlte man sich schuldig: die Mutter, weil der Sohn oft, da er oder die Familie glaubte, so würde er sie am besten schützen, dem Stellungsbefehl gefolgt war; der Vater, weil er ihn aus Sorge um den Rest der Familie, zuweilen aus materiellen Gründen, nicht hatte verstecken wollen lassen oder können, obschon es dafür Angebote gab; der Bruder, weil er überlebt hatte und die exklusive Trauer der Mutter um den verstorbenen Sohn ertragen musste, während der Vater sich mit vielförmigem Schweigen der heilenden Aussprache entzog. Auch schwelten in der Familie gegenseitige unterdrückte Vorwürfe wegen der Entscheidung, den Sohn zur Wehrmacht gehen zu lassen, die nur sporadisch, wenn überhaupt, ausbrachen, aber den Alltag in etwas Trauriges, Graues, Erstickendes verwandelten.

Die überlebenden, oft versehrten, Zwangs­rekrutierten hüllten sich nach ihrer Rückkehr ebenfalls in Schweigen über ihre Handlungen in der Wehrmacht. Jene allerdings, die in russischen Kriegsgefangenenlagern schwersten Strapazen ausgesetzt gewesen waren, besonders die, die im Lager Tambow interniert waren, wo 167 Luxemburger an den Folgen von Verletzungen und Entbehrungen starben, richteten bald nach 1945 ihren ganzen Groll gegen die Regierung, die sie nicht rechtzeitig herausgeholt hätte. Die ersten 20 Jahre nach dem Krieg waren Jahre der Traurigkeit, geprägt von der Schwierigkeit, einen Platz in der luxemburgischen Gesellschaft zu finden, der bruderschaftlichen Selbstviktimisierung, der radikalen Ablehnung der legitimen Regierung, der Belastung der eigenen bzw. selbst gegründeten Familien, in denen die nicht bewältigten Traumata an die nächste Generation weitergegeben wurden. Psychiatrie war etwas für die Verrückten, Psychotherapie gab es noch nicht. Als Katharsis dienten düstere Fackelzüge, in denen mit erstarrter Miene und verbohrtem Schweigen Männer mit Hut und langem dunklem Mantel oder russischer KG-Lager-Uniform, die aber irgendwo auch noch immer „Ons Jongen“ waren, sich als Mauer eines verbitterten Vorwurfes vor den Regierungsgebäuden neben der Kathedrale aufbauten. 

Irgendwann gab die Regierung nach. Die Zeichen standen in den 60er Jahren kulturell nicht auf Aufklärung. Wie Kirche und Krone bevorzugte sie, der Beschwichtigung willen, nachdem die letzten Kriegsverbrecher und Kollaborateure aus den Gefängnissen entlassen worden waren, das Narrativ eines geeinten Volkes im Widerstand gegen die Nazis und „Preisen“. Statt der heilenden Worte rückten schützende ins Zentrum, an die man sich klammern oder hinter denen man sich verstecken konnte. Als der Staat den Opfern der Zwangsrekrutierung, die Opfer eines Kriegsverbrechens des Dritten Reichs gewesen waren, 1967 den Status von „Opfern des Nationalsozialismus“ zuerkannte, bestätigte er damit, ganz in der Kontinuität seines Dekrets über die „Morts pour la patrie“ aus der Kriegszeit, eine durchaus spezifisch luxemburgische Kultur der Verstellung. Diese warf einen Schleier auf das, was die Zwangsrekrutierten in deutscher Uniform wirklich getan hatten, und sie rückte alles, was ihre Opferrolle stärkte, ins Licht. Demütigungen oder Brutalisierungen durch deutsche Vorgesetzte, Verletzungen im Kampf, Leid, das ihnen die Russen, die schon ab dem Winter 1945/46 der neue Feind des Westens waren, in den KG-Lagern angetan hatten, all das wurde ständig neu erzählt. Wie sie ihren Dienst bei der Wehrmacht ausgeübt hatten, kam kaum zur Sprache. An Judenverfolgungen, Vergehen an der Zivilbevölkerung und Erschießungen von Kriegsgefangenen und Partisanen konnte keiner sich erinnern. Was sich die Zwangsrekrutierten in ihren Kreisen erzählten, blieb ihr Geheimnis. Damit nahm ein Narrativ, eigentlich eine Fiktion ihren Lauf, die jetzt noch die Erinnerungskultur Luxemburgs prägt und Konflikte immer wieder aufkeimen lässt, die so viel Unbehagen aufkommen lassen. Dass in einem solchen Kontext die Juden in Luxemburg über 40 Jahre und darüber hinaus das Nachsehen hatten, bis der globale Fokus auf die Shoah in den 80er Jahren sich veränderte, liegt auf der Hand.

CM2GM

Seit mehr als 30 Jahren und wieder verstärkt im letzten Jahrzehnt hat die Geschichtsforschung Veröffentlichungen hervorgebracht, die das Ausmaß der Kollaboration, die Taten von Luxemburgern in der Wehrmacht, die z. T. problematischen nationalistischen und rassistischen Ideologien im Widerstand, die Fehler von Widerstand und Exilregierung, den Ablauf der Judenverfolgung und die damit verbundene Verstrickung lokaler Verwaltungen, Denunzianten und Profiteure und vieles andere neu beleuchten. 2016 wurde dann ein Comité pour la mémoire de la Deuxième Guerre mondiale (CM2GM) vom Staatsministerium aufgestellt, in dem die Vertreter von bisher z. T. antagonistisch auftretenden Erinnerungskulturen versöhnt miteinander arbeiten und das Gedenken an die Ereignisse von 1940-45 gemeinsam pflegen sollten. 

Nun hätte man annehmen können, dass es nach dem Rückgang der konservativ-katholischen normativen Hegemonie in der Gesellschaft und nach den aufklärenden Veröffentlichungen der Forschung zu einer differenzierten Erinnerungskultur käme. 

Ein tolles Projekt …

Gerade das ist am 12. September 2021 in Junglinster nicht geschehen, als vier Stolpersteine für die Juden aus der Gemeinde verlegt wurden, die während der Shoah umgekommen waren, und weitere Steine für elf der zwölf auf dem Ehrenmal angeführten Zwangsrekrutierten. Wie war das möglich, sollte doch die Schaffung des CM2GM gerade solchen undifferenzierten Handlungen vorbeugen, um Konflikte zwischen den verschiedenen Erinnerungskulturen zu vermeiden? 

Ein Physiklehrer des neuen Junglinster Lyzeums, Marc Zimer, hatte 2019 ein Projekt konzipiert, in dem Tertianer über die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs arbeiteten. Es kam kurz vor der Pandemie 2020 zu einer Ausstellung zur Verfolgung der Juden in Luxemburg und zu einer Gedenkzeremonie zum Massaker von 91 jungen Luxemburgern in Sonnenburg 1945. Dann wandten sich Lehrer und Schüler der Mikrogeschichte zu, ganz nach den Mustern, die im pädagogischen Begleitheft2 empfohlen werden, das einer Broschüre des CM2GM3 zum Zweiten Weltkrieg in Luxemburg beigegeben wurde, die vom Zentrum fir politesch Bildung (ZpB) vertrieben wird.4 Die Jugendlichen arbeiteten die Biografien und das Schicksal der Juden und der Zwangsrekrutierten auf, die auf dem Ehrenmal in Junglinster erwähnt sind. Eine emotionale Bindung und viel Empathie für die Menschen damals sollte durch die kritische Auseinandersetzung mit den Fakten und der Dokumentation entstehen. Der ganze Prozess wurde begleitet vom CM2GM in all seinen Komponenten – Vertreter der Widerstandskämpfer, Juden und Zwangsrekrutierten – und namhaften Experten wie u. a. Marc Schoentgen, der das ZpB leitet und für die Texte des pädagogischen Begleitheftes mitverantwortlich zeichnet. So weit, so gut.

… entgleist

Doch dann hieß es, das Projekt solle mit der Verlegung von Stolpersteinen5 finalisiert werden. Stolpersteine für Juden, die Opfer des Nationalsozialismus wurden, sind inzwischen eine übliche, wenn auch aus vielen Gründen nicht unumstrittene Form des Gedenkens.6 Stolpersteine für Zwangsrekrutierte, das aber ist ein Novum. Diese Idee kam sicherlich nicht von den Schülern, auch wenn sie für sie durchaus schlüssig gewesen sein mochte. Denn aus einem RTL-Beitrag von Juni 2021 geht hervor, dass die jugendlichen Teilnehmer sich während des Projekts z. T. sehr stark mit den jüngeren Opfern, also den Zwangsrekrutierten, identifiziert hatten.7 

Im pädagogischen Begleitheft des CM2GM ist von den Stolpersteinen des deutschen Künstlers Gunter Demnig die Rede. Es heißt dort: „Mit diesen im Boden verlegten sogenannten Stolpersteinen soll an das Schicksal der Menschen erinnert werden, die in der Zeit des Nationalsozialismus (NS-Zeit) verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden.“ Dann folgt auf der nächsten Seite eine pädagogische Empfehlung: „Recherchiert über Opfer der Judenverfolgung in Luxemburg beziehungsweise andere Opfer des Nationalsozialismus, an die bislang kein Denkmal erinnert. Auf welche Weise könnte man an sie erinnern? Wäre ein Stolperstein eine angemessene Form der Erinnerung?“ In der Broschüre des CM2GM ist in diesem Zusammenhang in keiner Weise von Zwangsrekrutierten die Rede. Denn die Zwangsrekrutierten wurden weder verfolgt, ermordet, deportiert oder vertrieben, wie es dann auch noch auf der Einladung zur Einweihungszeremonie stand, die von der Gemeinde Junglinster, auch ein Partner im Projekt, versendet wurde.

Die Idee, Stolpersteine für Zwangsrekrutierte zu verlegen, kommt vermutlich von Erwachsenen, die das Projekt pädagogisch und beratend begleitet und es zuletzt abgesegnet haben. Dem vorausgegangen war offensichtlich eine Dynamik, in der die Emotionen und Identifikationen, die bei den Jugendlichen durch die mikrogeschichtlich restituierten Biografien der Opfer freigesetzt worden waren, von den Pädagogen (oder beratenden Gremien?) nicht wieder in ihren makrogeschichtlichen Kontext zurückversetzt wurden. Sie unterließen es, noch einmal darauf hinzuweisen, dass es sich um verschiedene Opferkategorien handelt, derer zu gedenken eine differenzierte, eben „angemessene Form der Erinnerung“ verlangt, wie es das CM2GM empfiehlt.

Im Vordergrund der Idee, in Junglinster Stolpersteine für Juden und Zwangsrekrutierte zu verlegen und sie somit auf eine Ebene zu stellen, standen die Emotionen und Identifikationen, nicht die Fakten, nicht die Errungenschaften der Gesichtsforschung, nicht einmal der Reflex, keine neuen Konflikte zwischen den verschiedenen Erinnerungskulturen aufkommen zu lassen. Das kommt zuletzt einer Geschichtsklitterung gleich. Im Luxemburg des Jahres 2021, wo die kulturelle und mediale Atmosphäre ohnehin gerne von den Emotionen dominiert wird, die so vieles gleich gültig erscheinen lassen, wurde die schnöde Geschichtswissenschaft schon wieder einmal verstoßen, und dies in einem Schulprojekt, also in einem institutionellen Rahmen, wo Wissen erlernt und weitergegeben wird.8 

Die begleitenden Institutionen und Experten hätten das noch aufhalten können. Aber aus Respekt vor dem Engagement und der Arbeit der Jugendlichen, die sie nicht enttäuschen und damit von künftigen Beteiligungen an ähnlichen Projekten auch in ihrem Erwachsenenleben nicht abschrecken wollten, stimmten alle Experten und Vertreter der Erinnerungskulturen der Verlegung von Stolpersteinen für die Junglinsterer Juden und Zwangsrekrutierten zu. Die einen taten es „mit der Faust in der Tasche“, die der Zwangsrekrutierten wohl mit dem Gefühl, dass ihre Gleichstellung mit den anderen Opfern einen neuen symbolischen Höhepunkt erreicht hatte. Spuren wurden gelegt, die Spuren am Ende verwischen. Das Leiden der Juden, die verfolgt und ermordet wurden, weil sie die waren, die sie waren, und die Leiden der Zwangsrekrutierten, die die Wahl hatten, zur Wehrmacht zu gehen oder nicht, wobei ihre Überlebenschancen erwiesenermaßen größer waren, wenn sie nicht gingen9, wurden vermischt. Nach dem Amalgam des katholisch geprägten Ehrenmals an der Baltesscheier kam es nun, da dessen Narrativ ausgedient hat, zu einem Amalgam unter dem Zeichen einer säkularen Emotionskultur im Zeitalter des medialen Neoliberalismus, welche sich gegen besseres Wissen durchsetzte und wieder einmal den nicht gerechtfertigten memoriellen Ansprüchen der Zwangsrekrutierten den Vorrang gab.

Das hat natürlich Reaktionen ausgelöst. Im Vorfeld der Einweihungszeremonie erschienen Artikel im Luxemburger Wort („Steine, die spalten“10), bei Reporter.lu („Die Steine des Anstoßes“11) – und sogar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung („Warum in Luxemburg über Stolpersteine gestritten wird“12); in der Woche nach der Zeremonie auch in der Welt13. Am 18. September veröffentlichte dann Mil Lorang, Autor des mehrmals aufgelegten Buchs über „Luxemburg im Schatten der Shoah“ einen langen Grundsatzartikel im Tageblatt, der sich mit der historischen und rechtlichen Unzulänglichkeit der Gleichstellung des Leidens von Juden und Zwangsrekrutierten akribisch auseinandersetzt.14 All diese Beiträge dokumentieren sorgfältig die Kontroverse.

Ein Fiasko für alle

Die Affäre um die Junglinsterer Stolpersteine ist ein Fiasko für alle beteiligten Erwachsenen und die Institutionen, die sie vertreten haben. Sie ist ein Fiasko für die Institution Schule, der die wissenschaftliche Kontrolle über ein in seinem Wesen exemplarisches pädagogisches Projekt entglitten ist. Zudem hat sie als Partei an einer teils gutgemeinten, teils ausgenutzten, wissenschaftlich aber nicht aufrechtzuerhaltenden symbolischen Geschichtsklitterung teilgenommen. Das wiederum lässt befürchten, dass nun, wo die lebenden Zeugen wegfallen und das Gedenken an eine dritte und vierte Generation weitergereicht wird, auch weitere die Geschichte revidierende Narrative und symbolische Praktiken innerhalb der Institution Schule aufkommen können – und nicht nur dort.

Die Affäre ist ein Fiasko für den CM2GM, der anstatt das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg in einem Geist der Versöhnung der drei Erinnerungskulturen zu gestalten, den Konflikt unter ihnen wieder aufflammen lässt, weil die Vertreter der Zwangsrekrutierten die Gelegenheit benutzt haben, um auf Vorteil zu spielen. 

Sie ist ein Fiasko für die Vertreter der Juden und Widerstandskämpfer und die Experten. Sie hätten schon früh vor der symbolischen Tragweite einer Verlegung von Stolpersteinen für Zwangsrekrutierte warnen müssen und vor der Tatsache, dass die ganze Operation „a bridge too far“ ging, anstatt sich aus Angst, Schülergefühle zu verletzen, zurückzuhalten. 

Zuallerletzt ist die Affäre auch eine unnötige Belastung für die sehr engagierten Jugendlichen, die in allererster Linie mit der mikrogeschichtlichen Aufarbeitung der Biografien der 15 Opfer befasst waren. Ihnen dürfte es besonders schwerfallen zu verstehen, warum die für sie selbst und die Allgemeinheit wichtigen Recherchen von der Polemik um die Stolpersteine für die Zwangsrekrutierten in den Schatten gestellt werden. Denn für deren Verlegung sind nicht sie, sondern die sie begleitenden Erwachsenen verantwortlich.

Zurück bleiben wieder viel Bitterkeit und Traurigkeit bei den Vertretern der Juden und der Widerstandskämpfer, und verstörende Aussagen, wie die von Josy Lorent, Vorstandsmitglied der „Fédération des Enrôlés de force“ und bald Vorsitzender des CM2GM. Er erklärte bei Reporter.lu zu den Vorgängen in Junglinster: „Ich sehe nicht, warum einer mehr Opfer sein soll als der andere. Die Juden besitzen keine Exklusivität.“ Weder das eine noch das andere haben Vertreter der anderen Erinnerungskulturen jemals behauptet oder als Anspruch erhoben. Der gezielte Seitenhieb Lorents gegen die Juden und ihre Leidensgeschichte ist schlicht infam.  

  1. https://legilux.public.lu/eli/etat/leg/agd/1944/07/13/n1/jo (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 20. September 2021 aufgerufen).
  2. https://zpb.lu/wp-content/uploads/2020/10/Materiel-pedagogique.pdf
  3. https://zpb.lu/wp-content/uploads/2020/10/META_BRO_2e_guerre_mondiale_double_FR_web.pdf
  4. https://zpb.lu/pedagogical_cpt/wwii_in_lux
  5. http://www.stolpersteine.eu 
  6. Siehe insbesondere den Beitrag von Alan Posener in der Welt vom 17. September 2021: „Warum Luxemburg über tote Wehrmachtssoldaten streitet“, der viele Reaktionen ausgelöst hat: https://www.welt.de/kultur/plus233808196/Stolpersteine-Warum-Luxemburg-ueber-tote-Wehrmachtssoldaten-streitet.html 
  7. https://www.rtl.lu/tele/de-journal-vun-der-tele/v/3250801.html
  8. Wäre den historischen Erkenntnissen nur ein wenig Rechnung getragen worden, dann hätte man durchaus dem Deserteur (und nicht einfach Zwangsrekrutierten) François Wehr einen konsensuellen Stolperstein widmen können. Der 21-Jährige wurde ein paar Tage nach seiner Verhaftung wie 20 andere junge Luxemburger am 23. Mai 1944 in Frankfurt am Main hingerichtet. Man hätte ebenfalls den auf dem Ehrenmal erwähnten Joseph Imbert mit einem Stolperstein ehren können. Imbert wurde aber von dem Projekt gar nicht berücksichtigt, weil er, Jahrgang 1918, nicht als Zwangsrekrutierter gilt. Imbert war, wie viele Ex-Mitglieder der Freiwilligenkompanie, in Weimar zum deutschen Schutzpolizisten ausgebildet worden. 1942 kam er für zwei Jahre ins KZ wegen „Beleidigung des Führers und Verbreitung übler Hetzreden gegen das Deutsche Reich“. Ende Dezember 1944 bekam er, wie 27 andere Ex-Mitglieder der Freiwilligenkompanie, die ebenfalls wegen ihrer Opposition gegenüber dem Hitler-Regime in Konzentrationslagern saßen, eine letzte Chance. Mit ihnen wurde ein Zug „Auf Frontbewährung“ gebildet. Sie kamen im Februar 1945 an die Front in Nittritz in Schlesien. Imbert fiel in den ersten Tagen.
  9. In einem Vorwort zum Band Jeunesse sacrifiée 1940-1945, der 1993 von der Gemeinde Walferdingen veröffentlicht wurde, schreibt der Historiker Gilbert Trausch, dass 35 % der in die Wehrmacht einberufenen jungen Männer sich als Refraktäre oder Deserteure der Zwangsrekrutierung entzogen hatten und von der Bevölkerung und den Widerstandsorganisationen versteckt wurden. Und er fügt etwas Entscheidendes hinzu, nämlich dass die „immense majorité“ von ihnen die Schrecken des Kriegs heil überstand. In anderen Worten: Die Zwangsrekrutierten hatten die Wahl und hätten weniger riskiert, wenn sie nicht hingegangen wären.
  10. https://www.wort.lu/de/lokales/rechercheprojekt-des-lenster-lycee-gedenken-an-ns-opfer-steine-die-spalten-613b80a5de135b9236544c0e ; Autor: Volker Bingenheimer.
  11. https://www.reporter.lu/luxemburg-kontroverse-erinnerungskultur-die-steine-des-anstosses ; Autorin: Janina Strötgen.
  12. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/warum-in-luxemburg-ueber-stolpersteine-gestritten-wird-17531246.html ; Autor: Jochen Zenthöfer.
  13. Siehe Fußnote 6.
  14. Mil Lorang, „Kriegsverbrechen versus Nazi-Verbrechen – Wie sich 76 Jahre nach Kriegsende ein Luxemburger Missverständnis in der Gedenkkultur niederschlägt“, in: Tageblatt vom 18. September 2021, S. 7-9.

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