Der ewige Sündenbock (Teil 2)
Replik auf zwei Repliken
In der Juli-Ausgabe von forum erschien ein Leitartikel von Henning Marmulla über neuere antisemitische Tendenzen (auch in Luxemburg). Hubert Hausemer, dessen Position zu zwei Antisemitismus-Definitionen in Marmullas Text kritisiert wurde, hat in der September-Ausgabe auf Marmulla reagiert – so wie auch Michel Pauly. Mit diesem Beitrag antwortet nun Marmulla auf seine Kritiker. Damit Sie als Leser*innen sich einen bestmöglichen Überblick über die Debatte verschaffen und sich – wenn Sie mögen – auch einmischen können, verlinken wir in der Online-Version dieses Artikels nicht nur auf die bisherigen forum-Beiträge von Marmulla, Pauly und Hausemer, sondern auch auf die IHRA-Definition, die Jerusalemer Erklärung, den RIAL-Bericht 2020 sowie auf die Recommandation de politique générale no 9 de l’ECRI sur la prévention et la lutte contre l’antisémitisme.
Worüber streiten wir eigentlich, wenn wir über Antisemitismus streiten? Um Definitionen, wie der Titel von Hubert Hausemers Replik1 nahelegt? Um berechtigte oder unberechtigte Vorwürfe, wie die titelgewordene Warnung von Michel Pauly2 vermuten lässt? Warum streiten wir überhaupt, wenn es um Antisemitismus geht? Wieso sind sich bei diesem Thema eigentlich nicht alle einig? Im Gegensatz zum Christentum und dem Islam hat in der 3000-jährigen Geschichte ihres Bestehens die jüdische Religion noch nie versucht, Menschen anderen Glaubens zu missionieren oder zur Konversion zu zwingen. Man kann das Judentum mit guten Gründen als historisch friedlichste monotheistische Weltreligion bezeichnen. Was kann also der Grund dafür sein, dass eine Kontroverse um das Thema Antisemitismus entsteht?
In der vorletzten Ausgabe erschien ein „Der ewige Sündenbock“ betitelte Leitartikel aus meiner Feder3, in dem ich verschiedene Grenzverschiebungen des Sagbaren dargestellt habe, die, so meine These, zu einer Beförderung von Antisemitismus beitragen können. Es ging um Grenzverschiebungen im definitorischen Bereich (die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus [JDA]), im publizistischen Bereich (das Gedicht von Jacques Drescher im Lëtzebuerger Land), auf luxemburgischen Demonstrationen (antisemitische Parolen) und in der internationalen Geschichtswissenschaft (die Debatte um den australischen Historiker A. Dirk Moses und seine Infragestellung der Singularität des Holocaust). In seiner Replik erwähnt Pauly die antisemitischen Tendenzen in Deutschland, über die ich in meinem Beitrag geschrieben habe; die luxemburgischen Beispiele nennt er nicht. Zur Erinnerung: Der Jahresbericht von RIAL (Recherche et information sur l’antisémitisme au Luxembourg) für das Jahr 20204 verzeichnet einen signifikanten Anstieg an antisemitischen Vorfällen in Luxemburg von 47 im Vorjahr auf 64. Auch Hausemer geht nicht auf die Beispiele aus Luxemburg ein, sondern konzentriert sich – wie Pauly – zunächst auf Definitorisches. Beide werfen mir vor, mich für die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)5 einzusetzen, während sie beide die der JDA6 bevorzugen.
Über Wahrnehmung und die Entstehung von Antisemitismus: IHRA vs. JDA
Sowohl Pauly als auch Hausemer versuchen in ihren Repliken zunächst einmal, die IHRA-Definition formal zurückzuweisen. Hausemer schreibt: „Zwar wurde sie unterdessen von einer Reihe von Staaten und Organisationen angenommen; das allein ist aber noch kein Beweis für ihre Qualität und Anwendbarkeit“. Zur Erinnerung: Die IHRA-Definition wurde 2016 von 32 Ländern (darunter Luxemburg) ausgearbeitet und einstimmig verabschiedet. Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Europarat haben sie übernommen. Zahlreiche internationale Universitäten und andere Bildungsinstitutionen, Parteien, Verbände und Organisationen verwenden die Definition in ihrer täglichen Arbeit – insbesondere in Erziehungs- und Ausbildungsprogrammen.
Michel Pauly argumentiert formal noch ein bisschen mehr um die Ecke – und verheddert sich dabei: Die Commission européenne contre le racisme et l’intolérance (ECRI) hatte im Dezember 2020 die IHRA-Definition angenommen. Aber Pauly versucht mit der ECRI gegen IHRA zu argumentieren. Wie das geht? „Im Übrigen hat auch die ECRI […] den Mangel an Präzision der IHRA-Definition kritisiert und sich erst nach langen internen Debatten für die IHRA-Definition“ entschieden. Die Dauer einer Debatte als Beleg dafür anzuführen, dass das Resultat dann doch nicht so gut sein kann? Der argumentative Schuss geht nach hinten los. Im Übrigen hat die ECRI in ihrer am 14. September dieses Jahres veröffentlichten Recommandation de politique générale no 9 de l’ECRI sur la prévention et la lutte contre l’antisémitisme (GPR9)7 die IHRA-Definition noch einmal bestätigt und sogar als Anhang zu ihren Empfehlungen mit aufgenommen.
Wenden wir uns aber den wesentlicheren, weil inhaltlichen Argumenten von Pauly und Hausemer gegen die IHRA-Definition zu. Nachdem Hausemer im Luxemburger Wort gegen die IHRA-Definition argumentiert hatte8, habe ich seine Kritik in meinem Text kritisiert, um dann an zwei Beispielen herauszuarbeiten, warum ich die IHRA-Definition für geeigneter halte als die der JDA: weil sie den Aspekt der Wahrnehmung aufnimmt und den Sachverhalt, dass auch nicht-jüdische Menschen Opfer von Antisemitismus werden können. Und an genau diesen beiden Punkten, die er nicht nachvollziehen will, setzt die Kritik von Michel Pauly an.
Pauly schreibt: „Ich verstehe genauso wenig wie Hausemer, wieso laut IHRA-Definition Antisemitismus sich auch gegen Nicht-Juden richten kann. Das in Henning Marmullas Beitrag bemühte Beispiel der Figur des Andri in Max Frischs Stück Andorra zeigt ganz im Gegenteil, dass Andri als Judenjunge konstruiert wird, der Hass auf ihn sich auf sein (vermeintliches) Judentum bezieht!“ Es ist schwierig, hierauf zu reagieren, weil Pauly die Antwort auf sein Unverständnis eigentlich schon selbst gegeben hat. Der zweite Satz des hier abgedruckten Pauly-Zitats ist die Antwort auf sein Nichtverständnis im ersten Satz. Andorra ist ein Theaterstück, das zeigt, dass auch eine nicht-jüdische Figur antisemitische Reflexe auslösen kann, indem der Nicht-Jude zum Juden gemacht wird. Denn, auch das habe ich bereits im Juli betont: Der Antisemitismus braucht keine „echten“ Juden. Er konstruiert sie. Das Problem ist nicht der Jude, es ist der Antisemit. Aus diesem Grund ist es definitorisch uninteressant, ob eine antisemitische Tat sich gegen eine jüdische oder eine nicht-jüdische Person richtet: Was zählt, ist die Tat und das ihr vorausgehende Denken. Ein verschworenes Weltjudentum, das die Strippen zieht, existiert nicht. Aber als Feindbild der Antisemiten ist es da – übrigens auch in Luxemburg, siehe den Bericht von RIAL für das Jahr 2020. Der als Schimpfwort verstandene Ausruf „Jude“ auf dem Schulhof: Er richtet sich nicht nur gegen Juden, er kann jeden treffen, der in den Augen der Angreifenden als minderwertig betrachtet wird. Ein nicht-jüdischer 16-Jähriger wurde 2002 von drei Nazis in Brandenburg als Jude beschimpft, gefoltert und ermordet.9 Die vom Deutschen Bundestag als antisemitisch eingestufte international agierende Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS), die zum Boykott ausnahmslos aller israelischen Unternehmen, Produkte sowie kultureller und wissenschaftlicher Kooperationen aufruft, richtet sich mit antisemitischem Furor gegen jeden Menschen – jüdisch oder nicht –, der mit israelischen Organisationen oder Personen zusammenarbeitet. Und auch die ECRI sieht ganz klar, dass Antisemitismus sich auch gegen nicht-jüdische Menschen richten kann: „Les attaques antisémites peuvent aller (…) contre les personnes juives ou présumées juives“ (S. 7).
Der zweite Punkt, der die IHRA-Definition fundamental von der der JDA unterscheidet und eng mit dem ersten Aspekt zusammenhängt, ist die Betonung der Wahrnehmung. Pauly schreibt: „Die Henning Marmulla so wichtige Wahrnehmung ist eigentlich nur Voraussetzung jedes positiven oder negativen Bildes, das ich mir vom anderen mache und insofern überflüssig in der Definition.“ Ja und nein. Ja, die Wahrnehmung ist Voraussetzung eines Bildes vom anderen. Sie ist es aber nicht „eigentlich nur“, wie Pauly schreibt, diese Voraussetzung ist zentral für eine aus einem Bild entstehende antisemitische Haltung oder Handlung. Und deshalb: nein; genau deshalb ist die Dimension der Wahrnehmung in einer Definition nicht überflüssig, sondern absolut notwendig. Der Aspekt der Wahrnehmung verweist auf das Projizierte im antisemitisch konstruierten Objekt. Antisemitische Menschen projizieren ihre Wut, ihren Frust, ihre Angst, ihre eigene gefühlte Unzulänglichkeit auf die jüdische Figur. Da ist keine Handlung der jüdischen Person, die das antisemitische Gefühl beim Antisemiten hervorruft: Der Antisemit projiziert den Anlass, zum antisemitisch sein, in eine jüdische oder nicht-jüdische Figur und kann sie dann als jüdische wahrnehmen und attackieren. Nun zurück zur Frage, warum wir hier und jetzt, in Luxemburg im Jahr 2021, über Antisemitismus streiten?
Wie hältst du es mit Israel?
Pauly wie Hausemer machen darauf aufmerksam, dass es einen Punkt gäbe, den ich nicht berücksichtigt hätte: das israelische Nationalstaatsgesetz von 2018. Und dieser Hinweis verdeutlicht, worum sich der Streit, den wir hier führen, eigentlich dreht: Wie hältst du es mit Israel? Das ist die eigentliche Frage, die hier gestellt wird.
Richtig, ich habe das Nationalstaatsgesetz nicht erwähnt, nicht zitiert und nicht berücksichtigt, weil ich einen Text über Antisemitismus schreiben wollte und nicht über die israelische Gesetzgebung. Hausemer wirft mir aber nicht nur vor, dass ich das Gesetz nicht erwähne, er findet sogar, dass mein ganzer Text daran krankt, dass ich es nicht tue. Was mag er damit meinen? Worum geht es in diesem Gesetz, dass es so wichtig gewesen wäre, es in meinen Text mit aufzunehmen? Zunächst einmal, und das geht in den Diskussionen oft unter, ist das Nationalstaatsgesetz keine neue Verfassung – Israel hatte und hat keine Verfassung, sondern mit dem Nationalstaatsgesetz ein weiteres Grundgesetz, das zu den bereits bestehenden 13 Grundgesetzen hinzukommt, die dadurch ihre Gültigkeit nicht verlieren. Das Gesetz wurde in Israel kritisiert und in Israel befürwortet. Es wurde außerhalb Israels kritisiert und befürwortet. Es wurde am 19. Juli 2018 mit 62:55 Stimmen in der Knesset angenommen. Es erklärt Israel zu einem jüdischen Staat. Das ist aber keine Neuigkeit. Israel wurde als jüdischer Staat gegründet. Ausgehend von den Träumen Theodor Herzls und der zionistischen Bewegung des späten 19. Jahrhunderts über die Balfour-Deklaration von 1917 bis zum Palästina-Mandat des Völkerbundes (1920/1922) zielte alles auf die Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina. Sowohl im Teilungsplan der UN (Resolution 181) von 1947 wird Israel als jüdischer Staat beschrieben wie auch in der am 14. Mai 1948 deklarierten Unabhängigkeitserklärung, die vom erklärten Atheisten David Ben-Gurion verlesen wurde. Israel ist seit seiner Staatsgründung ein jüdischer Staat. Und was bedeutet das? Wer lebt wie in diesem jüdischen Staat?
In Israel leben – Stand 2020 – über 21 Prozent arabische Menschen.10 In diesem jüdischen Staat haben wir seit Juni dieses Jahres eine aus acht Parteien bestehende Regierung, zu der die arabische Ra’am-Partei gehört. Das Wahlrecht steht allen israelischen Staatsbürger*innen, jüdisch oder nicht, sowohl aktiv als auch passiv zu. Die Wahlen sind direkt, gleich und geheim. Daran hat das Nationalstaatsgesetz nichts geändert. Warum also israelkritische Menschenrechtsaktivist*innen in aller Welt meinen, dass sie gegen dieses Gesetz protestieren müssen und sich zugleich nicht einmal die Frage stellen, weshalb es den jüdischen Israelis mit Blick auf ihre 3000-jährige Geschichte und mit Blick auf den Holocaust ein Anliegen sein könnte, eine Heimstätte zu haben, die sich als jüdisch bezeichnen lässt, erschließt sich mir so wenig wie der Hinweis von Hubert Hausemer, dass mein Beitrag vom Juli daran krankt, dass ich das Gesetz nicht erwähne.
Irritierend finde ich es zudem, dass ein Artikel wie meiner, der sich mit der Gefahr des zunehmenden Antisemitismus in Luxemburg und in anderen Ländern auseinandersetzt, folgende Kommentare von Michel Pauly hervorruft: „Doch Israel ist, wie viele Nationalstaaten (Belgien, Deutschland, Italien, …), mit Gewalttaten geboren worden und ist keine freundliche Besatzungsmacht.“ Ja, Israel ist mit einer in der Geschichte einzigartigen Gewalttat geboren worden, ohne die es wahrscheinlich nicht zur Staatsgründung gekommen wäre: ich spreche von der Shoah. Diese Gewalt aber meint Pauly nicht. „Juden ließen sich – mit britischer Zustimmung – schon vor der Shoa im britischen Mandatsgebiet Palästina nieder, was sehr schnell zu Konflikten führte mit der ansässigen palästinensischen Bevölkerung. Beide Seiten nutzten frühzeitig terroristische Gewalt – untereinander und gegen die britische Mandatsmacht.“ Die jüdische Seite akzeptierte den Teilungsplan der Vereinten Nationen im November 1947 sofort; es waren die arabischen Länder, die ihn ablehnten und damit die Zweistaatenlösung verhinderten. Und es waren Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak, die den frisch gegründeten Staat Israel im Mai 1948 angriffen, nicht umgekehrt. Pauly weiter: „Nach dem militärischen Sieg von 1948 und der Staatsgründung hat Israel in den letzten 70 Jahren sein Staatsgebiet immer weiter ausgedehnt (durch Annexion und Siedlungsbau), während die Palästinenser unter unsagbaren Bedingungen leben müssen.“ Erstens: Am Anfang war die Staatsgründung, dann kam der kollektive arabische Angriff, dann die israelische Verteidigung und dann der militärische Sieg. Die Reihenfolge der historischen Ereignisse im Auge zu behalten ist wesentlich bei der Einschätzung historischer Zusammenhänge. Zweitens: Israel hat sein Staatsgebiet nicht immer weiter ausgedehnt. Zu Annexionen kam es in Folge der arabisch-israelischen Kriege, aber mehrfach hat Israel Territorien zurückgegeben (ein Großteil seines Territoriums, die Sinai-Halbinsel, 1979 im Rahmen des Friedensabkommens mit Ägypten oder den Gaza-Streifen 2005). Zahlreiche territoriale Angebote, die Israel gemacht hat, wurden von arabischer Seite abgelehnt. Und nicht zu vergessen: Die Hamas akzeptiert die Existenz Israels bis heute nicht. Drittens: Warum wird die hier angeblich zunehmende Ausweitung des israelischen Staatsgebietes mit dem palästinensischen Leid in Verbindung gebracht? Seit 2005 ist kein einziger israelischer Soldat mehr im Gaza-Streifen stationiert, und die internationale Hilfe für den Gaza-Streifen gehört weltweit zu den höchsten. Israel bombardiert militärische Ziele im Gaza-Streifen dann, wenn es angegriffen wird, nicht umgekehrt. Ich schreibe dies nicht, um das Leid, das im Gaza-Streifen herrscht, zu relativieren. Nicht im Geringsten. Ich stelle nur die Frage, mit Blick auf die Geschichte, mit Blick auf den Terror, dem Israel immer wieder ausgesetzt ist, mit Blick auf die Maximalforderungen der palästinensischen Seite gegenüber Israel, warum die Menschen, die angeblich so am Leid der Palästinenser*innen interessiert sind, nicht ein einziges Mal die Terroristen von der Hamas kritisieren.
Klartext, bitte!
Und nun kommen wir der Eingangsfrage langsam auf die Spur: Über Antisemitismus wird wohl gestritten, weil es viele gibt, die Angst haben, aufgrund ihrer Israelkritik für antisemitisch gehalten zu werden. Aber, ich schrieb es bereits im Juli, die IHRA betont es, und auch die ECRI hat es in ihrer GPR9 noch einmal ganz deutlich gemacht (S. 8): Man darf natürlich Israel kritisieren. Und es geschieht täglich, mehrfach, überall. Die Zeitungen sind voll davon. Boykottaufrufe gegen jüdische Wissenschaftler oder Sängerinnen hingegen oder die Infragestellung des Existenzrechtes des israelischen Staates – das wäre mit der IHRA-Definition als antisemitisch zu werten (während die Beispiele, die der JDA beigegeben sind, eben diese Fälle als nicht antisemitisch werten). Und solchen Antisemitismus, davor kann man doch die Augen nicht verschließen, den gibt es auch in Luxemburg. Das Comité pour une paix juste au proche-orient (CPJPO) hat zum Boykott des European Song Contest (ESC) 2019 in Stacheldraht-Ästhetik aufgerufen, weil dieser in Tel Aviv stattfand, und die „Free Palestine“-Parole – From the river to the sea, Palestine will be free – war im Mai 2021 auch in Luxemburg, auf dem Hamilius zu sehen. Wer unpolitische Sänger*innen erpresst, die in Israel auftreten wollen, und wer ein freies Palästina dort erträumt, wo jetzt der Staat Israel ist, der soll doch einfach zugeben, dass er ein Problem mit Juden hat. Dann könnten wir die Diskussion ehrlicher fortsetzen. Der Theologe und Literaturkritiker Paul Lanners geht in einem vom CPJPO veröffentlichten Video11 mit gutem Beispiel voran: Ganz locker sitzt er da, neben einem gerahmten Bild mit dem Umriss Israels, das vollkommen bedeckt ist mit der Flagge der palästinensischen Autonomiegebiete – ein beliebtes und verbreitetes Motiv der radikalislamistischen Terrororganisation Hisbollah. Darum geht’s! Das ist gemeint, wenn „Free Palestine“ skandiert wird. Und das ist gemeint, wenn die Losung „From the river to the sea, Palestine will be free“ auf dem Hamilius in die Kameras gehalten wird: dass Israel von der Landkarte verschwinde.
„Die leidvolle Vergangenheit der Juden in Europa und anderswo entbindet Israel nicht von der Einhaltung menschenrechtlicher Standards“, schreibt Pauly. Wer hat anderes behauptet, möchte man fragen. Dass es immer wieder zu Resolutionen gegen Israel im UN-Menschenrechtsrat kommt, könnte mit der Zusammensetzung dieses Gremiums zu tun haben, in dem aktuell u. a. China, Russland und Kuba sitzen. Die „leidvolle Vergangenheit“ der jüdischen Menschen in Europa hatte, das sah 1947 auch noch die UNO so, zur Folge, dass die Weltgemeinschaft, das historische Leid der Juden anerkennend, eine besondere Verantwortung für die Bewahrung des jüdischen Staates Israel tragen sollte.
Zu dieser Verantwortung gehört, Antisemitismus zu erkennen, wo er vorliegt. Mir ist bewusst, dass meine Kritiker einen sich als israelkritisch gebenden Antisemitismus anders einschätzen als ich. Aber bleiben wir für den Moment doch in Luxemburg und schauen wir nicht nach Israel. Der RIAL-Bericht zeigt deutlich, dass es zu den scheußlichsten antisemitischen Äußerungen vor allem in den sozialen Medien auch in Luxemburg kommt. Dies gilt es anzuerkennen. Das hat auch nichts mit definitorischen Spitzfindigkeiten zu tun. Der RIAL-Bericht ist voll von Beispielen, bei denen Israel mit Nazi-Deutschland gleichgesetzt wird; der Bericht dokumentiert Fälle, bei denen die Schuld am Coronavirus auf das internationale Weltjudentum abgewälzt wird. Jeder, der möchte, kann das nachlesen im Bericht von RIAL. Und jeder, der das möchte, kann auch nachhören, wie Hubert Hausemer in einem Video vom August dieses Jahres, das auf der Internet- und Facebook-Seite des CPJPO veröffentlicht ist12, sagt, dass das CPJPO ihn vor zwei oder drei Jahren gefragt habe, „de participer à une réaction au fameux rapport RIAL, un rapport fait par des personnalités juives sur l’antisémitisme dont ils prétendaient qu’il existait ici au Luxembourg… et voilà“.
Abgesehen davon, dass der RIAL-Bericht nicht nur von jüdischen Menschen geschrieben wird, wie im Video fälschlicherweise behauptet wird, bestreitet Hausemer also die Existenz von Antisemitismus in Luxemburg. Ich stelle ihn mit diesem Satz in keine falsche Ecke, ich dekontextualisiere nichts, ich gebe wieder, was Hubert Hausemer in diesem Video sagt. Angesichts der akribischen Sammlung an antisemitischen Vorfällen, die der RIAL-Bericht auflistet, ist das in meinen Augen eine erstaunliche Äußerung. Und es ist wichtig, sie zur Kenntnis zu nehmen, wenn wir uns in Zukunft über Antisemitismus unterhalten: 13 Fälle im Jahr 2017, 26 2018, 47 2019 und 64 2020. Denn es gibt nicht nur den Antisemitismus, der sich auf Israel bezieht, es gibt auch einen Antisemitismus, der Israel gar nicht benötigt, um sich auszutoben. Wenn wir keine Einigkeit darüber herstellen können, dass es diesen Antisemitismus in Luxemburg gibt, dann stehen wir vor einem politischen, pädagogischen, intellektuellen und menschlichen, kurz: einem enormen gesamtgesellschaftlichen Problem.
Pauly schließt seinen Artikel mit der Feststellung, dass mein Text den Menschen jüdischer Konfession einen Bärendienst erweise, indem er „die Befürworter der JDA und ihre ernsthaften Überlegungen zur Definition von Judentum und Antisemitismus des Antisemitismus verdächtigt bzw. in dessen Nähe rückt“. Darauf möchte ich mit zweierlei schließen: Die Verfasser und Verteidiger der IHRA-Definition haben sich sicherlich genauso ernsthafte Überlegungen gemacht wie die der JDA. Niemand, der sich mit Antisemitismus beschäftigt, macht das aus Spaß an der Freude. Paulys Bärendienst-Kommentar weise ich in aller Form zurück.
- Hubert Hausemer, „Streit über zwei Antisemitismus-Definitionen. Eine Replik auf Henning Marmullas Edito in forum 419“, in: forum 420 (September 2021), S. 16, online: https://www.forum.lu/article/streit-ueber-zwei-antisemitismusdefinitionen (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 3. Oktober 2021 aufgerufen).
- Michel Pauly, „Vorsicht mit dem Vorwurf des Antisemitismus“, in: ebd., S. 14f., online: https://www.forum.lu/article/vorsicht-mit-dem-vorwurf-des-antisemitismus
- Henning Marmulla, „Der ewige Sündenbock“, in: forum 419 (Juli/August 2021), S. 5f., online: https://www.forum.lu/article/der-ewige-suendenbock
- Der Bericht kann kostenlos über die Adresse rial@rial.lu bestellt oder auf http://rial.lu/rapport-rial-2020 heruntergeladen werden.
- https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus
- https://jerusalemdeclaration.org
- https://rm.coe.int/rec-09rev-2021-028-fr/1680a3c142
- Der Artikel „L’IHRA et sa définition de l’antisémitisme“, erschienen im Luxemburger Wort am 5. Juni 2021, ist online nachzulesen auf der Internetseite des CPJPO: https://paixjuste.lu/lihra-et-sa-definition-de-lantisemitisme
- https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/marinus-schoeberl-staatlich-anerkannt
- https://www.cbs.gov.il/en/mediarelease/Pages/2020/Population-of-Israel-on-the-Eve-of-2021.aspx
- https://www.facebook.com/CPJPO/videos/4435237053206386
- https://www.facebook.com/watch/?v=1439941806381796
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